Nachdem die Science-Fiction in der Sowjetunion in den ersten Jahren nach der Novemberrevolution eine regelrechte Blüte erlebt hatte – etwa in Jewgenij Samjatins Roman Wir, einer der ersten literarischen Dystopien des 20. Jahrhunderts –, fristete das Genre unter Josef Stalin ein kümmerliches Dasein. Erst mit dem poststalinistischen Tauwetter und nachdem 1957 der erste Sputnik ins All gestartet war, spielte Science-Fiction in der russischen Literatur wieder eine wichtigere Rolle. Eisbrecher gegen die Opposition der „kalten Strömung“ war Iwan Jefremow; sein Roman Andromedanebel, 1959 veröffentlicht, wurde mit über 20 Millionen Exemplaren zu einem der meistgelesenen Bücher der Sowjetunion.
Iwan Antonowitsch Jefremow, geboren 1908 in Wyriza, Oblast Leningrad, war auch ein international angesehener Paläontologe, er gilt als Begründer der Taphonomie, der interdisziplinären Wissenschaft von der Entstehung der Fossilien. In seinen Science-Fiction-Romanen erlaubte er sich einen prismatischen Blick in die Zukunft, die er akribisch in komplexen und literarisch anspruchsvollen Erzählsujets ausmalte. Weit weniger bekannt als Andromedanebel ist sein Nachfolgeroman Die Stunde des Stiers, der 1970 vom damaligen KGB-Chef Juri Andropow persönlich auf den Index gesetzt wurde. Während Andromedanebel hierzulande Ende der 50er erschienen war und nun neu aufgelegt wurde, kam Die Stunde des Stiers in deutscher Übersetzung erst vor wenigen Jahren im Erfurter TES-Verlag heraus.
Unter Stalin bedeutete Science-Fiction die kritiklose Technikverherrlichung, Jefremow aber knüpfte an die Utopie-Traditionen des 19. Jahrhunderts an. In Andromedanebel entwirft er eine kommunistische Welt zu Beginn des dritten Jahrtausends. Ein Astronauten- und ein Wirtschaftsrat verwalten die Erde, die zur interplanetaren Gemeinschaft des „Großen Kreises“ gehört, mit einer Vielzahl hochentwickelter Zivilisationen. Die zukünftigen Menschen werden über 100 Jahre alt, beschäftigen sich mit Kunst, Sport, Wissenschaft und Pädagogik, fliegen ins All, arbeiten bei historischen Ausgrabungen oder empfangen auf der orbitalen Außenstation Funksignale aus anderen Galaxien.
Jefremows Figuren sind aber keineswegs perfekt, vielmehr hadern sie immer wieder mit nicht erfüllbaren Sehnsüchten und verletzen Grenzen. So will eine Figur mit einer nicht erprobten Technologie zum Andromedanebel reisen, ein Vorhaben, das die Energieversorgung der ganzen Erde gefährdet. Es passiert ein Unfall, ein Wissenschaftler kommt ums Leben. Diese Tragödie führt zu ausgiebigen ethischen Diskussionen, die aber keineswegs ins platt Ideologische abdriften.
Zwar werden Jefremows Figuren ab und zu pathetisch und der eine oder andere Leser könnte sich an der fast perfekten kommunistischen Welt stören, aber moralischer als der politisch stets korrekte Captain Picard in Star Trek – Next Generation kommen auch Jefremows stets attraktive Kommunisten nicht daher. Letztlich haben sie sogar deutlich mehr Pep, auch wenn sie mitunter wie eine Mischung aus klassischen Helden der Antike und Hightech-Heroen wirken.
Staatskapitalistischer Planet
1967 kam Andromedanebel ins Kino, wobei die Filmfassung kaum mit den komplexen literarischen Bildern Jefremows mithalten konnte. Drei Jahre später fiel der Autor in Ungnade, Die Stunde des Stiers mit einer Startauflage von 200.000 Exemplaren wurde von der Zensur kassiert. Möglich sind dafür zwei Erklärungen. 1970 befand sich der Konflikt zwischen der Sowjetunion und dem von Mao Zedong regierten China auf dem Höhepunkt.
In Die Stunde des Stiers fliegt ein Raumschiff von der Erde zum oligarchisch-staatskapitalistischen Planeten Tormans, der von Umweltzerstörung und brutaler Unterdrückung der Massen geprägt ist. Besiedelt wurde er vor Jahrhunderten von Menschen, die von der Erde kamen. Die Bewohner Tormans’ beschreibt Jefremow als asiatisch, außerdem enthält das Buch einige explizite Hinweise auf einen falschen chinesischen Weg zum Sozialismus. Unter Umständen kassierte Andropow im Auftrag des ZK der KPdSU den Roman, um die konfliktreiche Situation mit China nicht weiter zu verschärfen, weil das Nachbarregime im potenziellen Erfolgsroman eines Schriftstellers attackiert wurde.
Argwohn im ZK
Die andere Erklärung für das Verbot des Buches hat mit der Art von utopischer Erzählung zu tun, die dem Roman zugrunde liegt. Andromedanebel war die affirmative Utopie einer kommunistischen Zukunft. In Die Stunde des Stiers treffen kommunistische Utopie und kapitalistische Dystopie aufeinander. Die Mannschaft des Raumschiffs von der Erde betritt unter der Führung ihrer weiblichen Kommandantin Fay Rodis zutiefst verunsichert den Planeten Tormans, der kein gutes Bild abgibt: Ein Teil der Bewohner muss wegen Überbevölkerung jung sterben, die Herrscher machen ihre Untergebenen mit hypnotischen Verfahren gefügig, politische Gegner werden gefoltert und weite Teile der Umwelt sind zerstört und vergiftet. Frauen haben praktisch keine Rechte und dienen den Männern als Lustobjekte. Während die Unterschicht in bitterster Armut dahinvegetiert, lebt die Elite in Saus und Braus und verwirklicht sich eine Mittelschicht im oberflächlichen Konsum. Für die zivilisatorisch weit überlegenen Menschen von der Erde ist das Leben auf Tormans schlicht unbegreiflich. Übermäßig naiv versuchen sie auf die politischen Herrscher einzuwirken, schließlich kommen einige von ihnen zu Tode, aber bevor sie den Planeten wieder verlassen, haben sie vor allem durch Aufklärung den revolutionären Keim zur Veränderung gelegt.
Jefremow wurde vorgeworfen, „unter dem Deckmantel der Kritik an der sozialen Ordnung der fantastischen Welt Tormans’ die sowjetische Realität zu verleumden“, schreibt der deutsche Herausgeber und Verleger des Romans Gerd-Michael Rose im Nachwort zur deutschen Ausgabe. Zwei Jahre nach dem Prager Frühling und während sich im Westen die systemkritischen Proteste der Post-68er verstetigten, reagierte man im Zentralkomitee der KPdSU äußerst argwöhnisch auf jede Form von Gesellschaftskritik. Denn letztlich scheint in Jefremows Roman jener dissidente Geist auf, der einen kommunistischen Weg jenseits bürokratischer Zwänge einfordert. Im Roman geschieht das ganz praktisch durch eine fortwährende radikale ethische Überprüfung jeglichen Handelns.
Iwan Jefremow lässt seine Figuren angesichts der ausweglosen Situation, mit einem autoritären Herrschaftssystem umzugehen, miteinander diskutieren, um abzuklären, wie weit ihre Einmischung gehen darf. Gleichzeitig finden sich in Die Stunde des Stiers mit der Umweltzerstörung, der Kritik am Konsum und einem Fokus auf feministische Fragestellungen genau jene Themen, die zur gleichen Zeit in Science-Fiction-Romanen im Westen eine zentrale Rolle spielten: etwa bei Marge Piercy oder Ursula K. Le Guin, deren Auftritt kürzlich beim National Book Award die Feuilletons begeisterte. Jefremow selbst hatte sich in den 40er und 50er Jahren nach eigenen Angaben ausführlich mit US-amerikanischer Science-Fiction beschäftigt und verstand seine kommunistische Utopie als „künstlerischen Gegenentwurf“ zu den dystopischen Erzählungen aus dem kapitalistischen Westen. Faszinierend ist, dass er dann letztlich in seinem zweiten Roman ähnliche thematische Schwerpunkte setzte, wie sie in den libertären und feministischen Utopieentwürfen der späten 60er und 70er in den Vereinigten Staaten eine Rolle spielten.
Von Andromedanebel zu Die Stunde des Stiers führt die Spur einer deutlicher werdenden Systemkritik. Insofern mag es auch nicht verwundern, dass der Roman an der Zensur scheiterte. Erst mit der Perestroika erschien 1988 Die Stunde des Stiers und avancierte zum Bestseller: Mit einer Million verkauften Exemplaren in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion gehört das Buch heute zum Kanon russischer Science-Fiction-Literatur.
Wer sich von linker Seite intensiver mit dem stalinistischen und poststalinistischen Erbe beschäftigen will, findet in Jefremows Romanen hochinteressante Quellen. Denn abgesehen von der literarischen Qualität, den großartig inszenierten didaktischen Elementen zur Weltraumfahrt in den 50ern und den gesellschaftspolitischen Diskursen der späten 60er, sind Jefremows Romane auch kritische kommunistische Manifeste.
Info
Andromedanebel Iwan Jefremow Heyne 2015, 544 S., 9,99 €
Von Jefremows Roman Die Stunde des Stiers sind Restexemplare des Hardcovers noch online über den Erfurter TES-Verlag erhältlich. Eine Taschenbuchausgabe erscheint demnächst
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