Sozialistischer Horizont

Zugehörigkeit Etwas angestaubt, aber immer sehr beliebt – Die Politikwissenschaftlerin Jodie Dean legt mit ihrem Buch „Genossen!“ eine kleine Theorie des Begriffs vor
Im letzten Jahrzehnt gab es ausgehend von Krisenprotesten wie Occupy über die militanten Auseinandersetzungen rund um den Gezi Park, die Kämpfe in Brasilien, Riots in Ferguson und Frankreich bis hin zu den massiven antirassistischen Protesten der vergangenen Monate in den USA eine Vielzahl außerparlamentarischer Bewegungen
Im letzten Jahrzehnt gab es ausgehend von Krisenprotesten wie Occupy über die militanten Auseinandersetzungen rund um den Gezi Park, die Kämpfe in Brasilien, Riots in Ferguson und Frankreich bis hin zu den massiven antirassistischen Protesten der vergangenen Monate in den USA eine Vielzahl außerparlamentarischer Bewegungen

Foto: Emmanuel Dunand/AFP/Getty Images

Das Wort Genosse dürfte für die meisten ein Begriff von vorgestern sein und klingt ein bisschen nach angestaubtem Realsozialismus. Dabei erfreut sich der Genosse als Anrede bei Gewerkschaften und in der biederen Sozialdemokratie durchaus einer gewissen Beliebtheit. Und auch in der linken Szene wird das Wort Genosse hierzulande recht selbstverständlich benutzt, egal ob vom 20jährigen Antifa-Aktivsten oder von der 40jährigen, im akademischen Betrieb angekommenen linksradikalen Feministin. Wobei der Begriff in diesen Kreisen weniger als Anrede gebräuchlich ist und nicht selten ein sanfter ironischer Unterton mitschwingt. Die amerikanische Politikwissenschaftlerin Jodi Dean, Jahrgang 1962, legt jetzt mit ihrem Essay Genossen! (engl. Comrade) eine bisher fehlende Theorie dieses Begriff vor und schlüsselt dabei auch ein Stück weit die Geschichte dieser in kommunistischen und sozialistischen Parteien gebräuchlichen Anrede auf. Deans historische Lese fokussiert sich fast ausschließlich auf die amerikanische Linke, was ihr Buch aber sogar noch einmal spannender macht, da es den Bogen von Bernie Sanders bis zu feministischen und rassismuskritischen Debatten in der amerikanischen KP der 1930er Jahre schlägt und dabei Interessantes zu Tage fördert.

Dabei ist der Aufhänger für Deans Buch über den oder die Titel gebenden Genossen! eng mit aktuellen politischen Entwicklungen und Debatten verbunden. Im letzten Jahrzehnt gab es ausgehend von den Krisenprotesten wie Occupy über die militanten Auseinandersetzungen rund um den Gezi Park, die Kämpfe in Brasilien, Riots in Ferguson und in Frankreich bis hin zu den massiven antirassistischen Protesten der vergangenen Monate in den USA eine Vielzahl außerparlamentarischer Bewegungen. Manchmal könnte man fast meinen, ein neues „68“ sei im Anmarsch oder schon im Gange. In den USA wird im Zuge der Proteste nach dem Tod von George Floyd genau diese Analogie immer wieder bemüht. In den vergangenen Jahren wurde in diesem Zusammenhang von Aktivisten und linken Theoriegrößen auch immer wieder die Frage nach einer nachhaltigen Organisierung gestellt, um die Protestbewegungen zu verstetigen. Denn allzu oft kam nach den Eventartigen Platzbesetzungen von New York bis Madrid Katerstimmung auf, wenn Aktivisten nach wochenlangen Protesten schlicht erschöpft waren. Unter anderem waren zu Beginn des Jahrzehnts Slavoj Zizek, Alain Badiou und eben auch Jodi Dean, letztere mit ihrem Buch Der kommunistische Horizont (Laika-Verlag), an dieser Debatte beteiligt. Genossen! ist in diesem Sinn ein weiterführender Text, der noch einmal Deans Überzeugung am ganz praktischen Begriff des Genossen ausbuchstabiert, dass eine verbindliche und letztlich parteiartige Organisierung im Kampf für eine andere Welt nötig sei.

Genosse versteht Jodi Dean als Chiffre einer politischen Zugehörigkeit, die an eine Erwartung geknüpft ist, sozusagen ein Versprechen für Gleichheit und Solidarität. Im Verhältnis zu anderen Menschen, mit denen man kämpft, wird bereits etwas von dem Wirklichkeit, worum es in diesem Kampf geht. Der Genosse wird ein „Träger utopischer Sehnsucht“, wie Dean so schön schreibt. Das erinnert ein Stück weit an Bini Adamczaks Buch Beziehungsweise Revolution (2017), wo ebenfalls die Beziehungen politischer Aktivisten thematisiert werden. Ein weiteren Aktualitätsbezug hat Deans Buch, weil sie den Genossen strikt vom „ally“ unterscheidet, was im Deutschen in etwa dem Unterstützer entspricht. Diese Figur spielt vor allem in der amerikanischen Bewegungspolitik, etwa bei Black Lives Matter, aber auch in feministischen Kämpfen, eine nicht unerhebliche Rolle. Dean kritisiert dieses für sie identitätspolitische Konzept. Es „scheint das Wort »Unterstützer« weniger Solidarität auszudrücken, als vielmehr eine Grenze zu ziehen, die besagt, dass man nie dazugehören wird.“. Anders der Genosse, der miteinander kämpfende Menschen eindeutig zueinander positioniere und eine verbindliche Gemeinsamkeit erzeuge, die im politischen Kampf auch unabdingbar sei. Dean taucht in ihrem Buch auch in die Geschichte der amerikanischen KP ab, schreibt über das Konzept des Black Belt-Nationalismus und geht der Frage nach, wie sehr der Genosse immer nur weiß und männlich war oder eben auch nicht. Ob das Konzept Genosse heute wirklich zur politischen Organisierung taugt, muss sich erst noch erweisen. Jodi Deans ebenso lesenswertes wie diskussionswürdiges Buch bietet dafür interessante Anregungen.

Info

Genossen! Jodi Dean Wagenbach 176 S., 18,– €

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