Stadtentwicklung à la Kreuzberg

Kulturkommentar Berlin ist nicht alleiniges Gentrifizierungsland. Entwicklungen wie in Kreuzberg gibt es auch woanders: zum Beispiel in Buenos Aires

Kennen Sie San Telmo? Das ist ein Stadtviertel von Buenos Aires, gerne charakterisiert als charmant und historisch besonders authentisch. Dort gibt es Tango, Künstler und urige Argentinier: die „San Telmoer Mischung“. Anfang der achtziger Jahre erlebte San Telmo eine Hausbesetzerwelle, und die marode Altbausub­stanz sollte eigentlich der Abrissbirne zum Opfer fallen. Heute beklagt man in dem im Südosten der argentinischen Hauptstadt gelegenen Kiez den touristischen Overkill. Nachzulesen ist diese in vielerlei Hinsicht an Kreuzberg erinnernde Geschichte im neuen Buch von Andrej Holm Initiativen für ein Recht auf Stadt (VSA-Verlag), einem Sammelband, in dem Gentrifizierung als globales Phänomen durchdekliniert wird.

In San Telmo, heißt es, verwandelt sich das Viertel in eine einzige Konsummeile, immer mehr Wohnraum wird temporär an Touristen vermietet, und in der Markthalle gibt es statt Lebensmitteln fast nur noch Antiquitäten – ganz ähnlich dem kunsthandwerklichen Schnickschnack, der am Wochenmarkt am Kreuzberger Maybachufer Einzug hält. Seit der Abwertung des Pesos infolge der argentinischen Wirtschaftskrise 2002 boomt am Rio de la Plata der Tourismus. San Telmo ist ein günstiges Reiseziel. Dem Europäer erschien es wie geschenkt ist dementsprechend Jan Dohnkes Text betitelt, in dem das Wort San Telmo stellenweise schlicht durch Kreuzberg ersetzt werden könnte. Klar wird: Die Debatte um Kreuzberg und seinen Tourismus ist keine Binnendiskussion, bei der ein Stadtteil seine piefige Identität von vorgestern verteidigen will, sondern ein gängiges Gentrifizierungs-Szenario.

Viele vermuten ja, dass sich das alternative Kreuzberger Milieu eine simple Okkupation seiner Lebenswelten verbietet – der Reviermarkierung wegen. Und die Grünen mobilisieren gar gegen die Touristen statt gegen den Tourismus – nebenbei bemerkt die einzig funktionierende Industrie Berlins, auch dies ganz ähnlich wie in Buenos Aires. Wer schon immer mal auf Kreuzberg einprügeln wollte, hat aktuell reichlich Stoff, um den Touristen hassenden linken Spießer zu kulturalisieren. Diese Typologisierung des Kreuzbergers hat als Kehrseite den weltoffenen, künstlerisch inspirierten Bohemien, dessen soziale Realität zur touristisch attraktiven Ware, zur „Marke“, gemacht wird.

Original Kreuzberg

Auch in San Telmo macht man aus der sozial problematischen Mischung eine leicht verdauliche, gut verkaufbare Geschichte: ein bisschen Armut, ein bisschen Straßenkriminalität und jede Menge Tango. Als in Kreuzberg letztens der Autonomennachwuchs bei der Carlo-Giuliani-Gedenkdemo mit ein paar Hundert Vermummten über den Oranienplatz fetzte, die Polizei hinterherrannte und ein Hauch von Massenschlägerei in der Luft lag, rief ein vor seinem Lokal stehender Wirt enthusiastisch den Gästen auf der Terrasse zu: „This is original Kreuzberg!“

In San Telmo stellt sich für viele Bewohner die Frage, wie lange das Viertel noch „echt“ bleibt oder wann es komplett zur musealisierten Saufmeile mutiert. In Kreuzberg ist das ja nicht viel anders. Nur ist San Telmo schon weiter – gentrifizierungs- und protesttechnisch. Kürzlich wollte die Stadtverwaltung dem Kiez eine Fußgängerzone verpassen, was zu erheblichem Widerstand führte. Wann bekommt eigentlich Kreuzberg endlich seine Fußgänger­zone, mit allem, was dazugehört?

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