Don DeLillo skizziert einen Stromausfall genau zum Super BowlDon DeLillos neuer Roman Die Stille passt perfekt in unsere Corona-Zeit. Der mittlerweile 83-Jährige versteht sich darauf, Gegenwart in gesellschaftspolitisch relevante Prosa zu packen. In dem gerade mal gut einhundert Seiten langen, novellenartigen Text geht es um einen plötzlichen Blackout aller digitalen und elektronischen Geräte und Steuerungen. Von einem Moment auf den anderen funktionieren weder Aufzug noch Heizung, und es kommt kein Stückchen Information mehr durch.
Der Roman verfolgt, wie fünf Menschen diesen unheimlichen Lockdown erleben, zwei davon befinden sich gerade mitten in der Landung auf dem Flughafen von New Jersey, als die Elektronik ihres Flugzeugs ausfällt. Ein Flügel der Maschine fängt Feuer, während sie über die Landebahn rutscht, es gibt aber nur ein paar leicht Verletzte. Die beiden schlagen sich zu ihren Freunden durch, mit denen sie eigentlich verabredet waren, um sich den Superbowl, das Finale der amerikanischen Footballmeisterschaft, anzusehen. Im schicken Apartment auf der East Side von Manhattan treffen sie ihre Freunde, eine emeritierte Physikprofessorin, die einen ehemaligen Studenten zu Gast hat, und dazu noch ihren Bourbon trinkenden, vor sich hin monologisierenden Ehemann.
Immer wieder ohne Antwort
Die Stille ist ein literarisch dichtes, kammerspielartiges Prosastück, das den Moment einfängt, wenn plötzlich der normale Lauf der Dinge unterbrochen wird und bisher keine Praxis, geschweige denn eine Routine vorhanden sind, um mit dieser ungewohnten Situation umzugehen. Was passiert da? Dauert das länger? Oder ist diese klaustrophobische Situation nur ein kurzes Intermezzo? Das sind die Fragen, die sich die fünf aus dem Gesettletsein Gerüttelten immer wieder stellen, natürlich ohne eine Antwort zu bekommen. Insofern liest sich Don DeLillos Text ein Stück weit wie eine Analogie zur Corona-Pandemie und dem verstörenden Moment des Shut- oder Lockdowns, dessen Tragweite erst einmal für viele gar nicht abzusehen war. Nach Auskunft des Verlags hat der Autor sein „Buch der Stunde“ just zu Beginn der Pandemie beendet, und im Interview mit der Zeit lehnt er analogische Schlüsse auch kategorisch ab. Nun erscheint die deutsche Übersetzung des Romans zeitgleich mit dem amerikanischen Original. Wobei Die Stille natürlich keine Pandemie beschreibt, vielmehr fragen sich die fünf New Yorker immer wieder, ob das der Beginn des dritten Weltkriegs sein könnte. Es geht um den Scheitelpunkt einer Entwicklung, die in absolutes Chaos, sogar den Weltuntergang führen kann oder eben doch nur ein regionales, zeitlich begrenztes Ereignis ist. Es fehlt schlicht die Information, um das herauszufinden. Die Unsicherheit, das für unser Informationszeitalter so untypische Nichtwissen, ist zentral für das Gefühl der Angst und des Ausgeliefertseins, dem DeLillo hier nachspürt.
Einer der Anwesenden verlässt schließlich das Apartment und läuft durch Manhattan. Dort findet er Menschenmassen vor, es herrschen chaotische Zustände. Was da alles genau passiert, beschreibt DeLillo im Einzelnen gar nicht, er bleibt bei der Introspektive des Mannes, der nicht weiß, wie er damit umgehen soll und schließlich einfach wieder zurück nach Hause geht. Der jüngere Don DeLillo, der Romane wie Sieben Sekunden (1988) über die Ermordung Kennedys oder Underworld (1997), ein Pandämonium amerikanischer Geschichte im 20. Jahrhundert, verfasst hat, hätte aus den Szenen auf der Straße wahrscheinlich den Honig für seine Literatur gesaugt und in einem literarischen Cinemascope-Stil derartige Szenen eingefangen. Aber die letzten Romane Don DeLillos wurden eh immer kürzer. Auch Die Stille ist in diesem Sinn ein später DeLillo, ein schmales Buch, das keinen Weltuntergang in Szene setzt, sondern die Skizze eines imaginierten historischen Moments entwirft, der einer Entwicklung vorgeschaltet ist, von der keiner weiß, wo sie hinführt. Denn vielleicht ist es wirklich „nur“ ein Blackout, so wie 1977, als in New York für 25 Stunden der Strom ausfiel und es zu massiven Ausschreitungen, Plünderungen und Massenverhaftungen kam.
Don DeLillo lässt seine Figuren, die fleißig über Einsteins Relativitätstheorie diskutieren und über Bourbon fachsimpeln, ausgerechnet am Superbowl-Wochenende zusammenkommen. Das ist der Tag, an dem viele Amerikaner gemeinsam vor der Glotze sitzen. Es gibt normalerweise Musikeinlagen, viel Werbung und die höchsten Einschaltquoten des Jahres. Diesmal starrt das sportbegeisterte Kollektiv aber auf einen schwarzen Bildschirm, der zu einem Symbol dieses Moments wird, in dem alles ausgeschaltet ist und ohne die medialen Tools unserer Zeit nichts mehr zusammenläuft.
Information als Kitt fehlt
Das soziale Leben reduziert sich auf ein Minimum. Die Bildschirme, egal ob auf dem Handy oder die Glotze im Wohnzimmer, haben aufgehört zu funktionieren. Don DeLillo untersucht aber nicht nur die Ängste seiner Figuren, dieses kleine Büchlein ist fast wie der Versuch, eine Anleitung für den Ernstfall zu schreiben. Gerade weil wir allesamt durch die Corona-Pandemie etwas Derartiges erlebt haben, wird die intellektuelle, literarische Spielerei zu etwas ganz Handfestem. Es ist vor allem das Fehlen der Information, der wohl wichtigste Kitt in unserer Informationsgesellschaft, der plötzlich nicht mehr da ist und ein brutales Vakuum erzeugt. Auf diesen einen Moment, gerade mal einen Wimpernschlag der Geschichte, richtet Don DeLillo seinen Fokus und fängt in Die Stille nicht nur das Schweigen der Maschinen, sondern auch das Unvermögen und die stille Panik unserer Gesellschaft ein, von der wir durch die Corona-Pandemie und den damit einhergehenden Lockdown schon einmal ein wenig schmecken durften.
Info
Die Stille Don DeLillo Frank Heibert (Übers.), Kiepenheuer und Witsch 2020, 112 S., 20 €
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