Auch wenn Wladimir Putins derzeitige politische Ambitionen klar auf einen Erhalt des großrussischen Staatsgebildes zielen, lässt der Schriftsteller Vladimir Sorokin in seinem Zukunftsroman Telluria dieses Reich schon mal in jede Menge kleine Einzelteile zerfallen. Unter anderem gibt es da das „theokratischkommunofeudalistische“ Moskowien, eine repressive Diktatur, die von einer Mauer umgeben ist und von einem machthungrigen Herrscher regiert, den seine Untertanen einfach nur „Vampir“ nennen.
Die russische Wirklichkeit in eine groteske Fiktion zu übersetzen, das ist das Markenzeichen des 1955 in der Nähe von Moskau geborenen Vladimir Sorokin. Schon zu Sowjetzeiten war er mit dieser Art systemkritischer Romane das Enfant terrible der russischen Gegenwartsliteratur. Aber auch heute reibt sich der in zahlreiche Sprachen übersetzte Autor fantastischer Romane mit der politischen Macht in Russland. Vor einigen Jahren veranstaltete Putins nationalistische Jugendorganisation „Gemeinsamer Weg“ sogar eine öffentliche Verbrennung seiner Bücher.
Aber nicht nur Russland zerfällt in Sorokins Roman, der Mitte des 21. Jahrhunderts angesiedelt ist. Auch das restliche Westeuropa verliert sich in Kleinstaaterei. Neben Dutzenden Ländern im ehemaligen Russland gibt es unter anderem eine Republik Westfalen, kleine Fürstentümer in Frankreich, ein Königreich Charlottenburg, und Bayern ist ebenfalls unabhängig geworden. Die bisherige politische Ordnung ist nach zahlreichen kriegerischen Auseinandersetzungen völlig zusammengebrochen.
Im Lauf der Jahre, erfährt der Leser, gab es zahlreiche militärische Vorstöße islamistischer Verbände in Richtung Westeuropa. Wobei Sorokin in seinem literarischen Science-Fiction-Roman keineswegs einen platten Antiislamismus bedient. Die Migrationsgesellschaft ist in Vladimir Sorokins Zukunft vielmehr eine Selbstverständlichkeit, und so heißt dann auch der Held des Untergrundkampfs gegen die Taliban im Ruhrgebiet Safak Bastürk und wird sogar westfälischer Kanzlerkandidat. Und die neu gegründeten Kreuzritter, die mittlerweile mit fliegenden Robotern gegen Istanbul in den heiligen Krieg ziehen, sind keineswegs Sympathieträger. Schlimmer als die Salafisten sollen sie sogar sein, heißt es an einer Stelle.
Neofeudalismus
Sorokins Zukunftswelt ist voll futuristischer Waffen, Hightech-Robotern, aber auch Pferdekarren und Fahrzeugen, deren Motoren mit sogenannter Kartoffelpulpe angetrieben werden; eine abgedrehte Mischung aus Mittelalter und Science-Fiction. Das titelgebende Telluria ist ein Land im ostrussischen Altai-Gebirge zwischen Sibirien, Kasachstan und China. Dort wird eine Droge hergestellt; zu lang anhaltenden Rauschzuständen führt, wenn man sie mit einem Nagel in die Köpfe der Menschen schlägt. Die Tellur-Nägel sind die zentrale Handelsware dieser neofeudalistischen Welt und das verbindende Element der 50 Kapitel dieses Romans, die wie einzelne Erzählungen funktionieren und pointierte Einblicke in die eurasische Zukunft Mitte des 21. Jahrhunderts geben. Das reicht von zerlumpten Gesellen, die irgendwo im russischen Wald hausen, über das Treffen einer Zimmermannsgilde, die für das sachgerechte Einschlagen der Tellur-Nägel zuständig ist und Anekdoten über Drogenexperimente austauscht, bis hin zu märchenhaften Elementen, die immer wieder in Sorokins Literatur auftauchen. Neben kleinen Menschen in der Größe von Däumlingen gibt es hier ein über acht Meter langes Pferd, auf dem eine ganze Gruppe Männer durch die russische Provinz reist.
Wie das heutige reale Russland ist auch das Russland in diesem Roman ein Land der Gleichzeitigkeiten des Ungleichzeitigen: Auch der Stalinismus erfährt eine bizarre Wiederbelebung. Auf einem Gebiet von gut 120 Quadratkilometern errichten drei russische Oligarchen eine Stalin’sche Traumwelt mit zahlreichen Monumenten und einer gigantomanischen Architektur.
Telluria ist keine konventionell erzählte Geschichte, sondern ein episodischer Erzählzyklus, der stringent vom Land Tellurien und den dort hergestellten Waren zusammengehalten wird und so ein europäisch-asiatisches Gesellschafts- und Kulturpanorama entwirft. Eine ganz ähnliche stilistische und dramaturgische Machart kennt man aus Sorokins Debütroman von 1979. Norma hieß er und karikierte eine sowjetische Gesellschaft, die sich von einem industriell aufbereiteten Produkt aus Fäkalien, Norma eben, ernährt.
In Telluria ist es eine Zeit und Raum überwindende Droge, die eine absolute Freiheit und die Fähigkeit zu jeder Art von Problemlösung verspricht. Wobei bei Sorokin der fiktionale zeithistorische Hintergrund die eigentliche Handlung bildet und ein postimperiales Chaos beschreibt. Dadurch wird Telluria auf mehr als 400 Seiten zu einer packenden Dystopie, die Historisches wie Zeitgeschichtliches als grelle popkulturelle Inszenierung vermischt. Kurzum: ein echter Sorokin, an dem die Putin-Jugend wieder einmal keine Freude haben dürfte.
Info
Telluria Vladimir Sorokin Sabine Grebing u.a. (Übers.), KiWi 2015, 416 S., 22,99 €
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