Ein Wälzer ist nicht unbedingt das, was mit dem Werk einer Schriftstellerin zuerst assoziiert wird, und ein Wälzer über den Zweiten Weltkrieg gleich gar nicht. Marge Piercys im Original bereits 1986 erschienener und jetzt neu aufgelegter Roman Menschen im Krieg ist aber nicht nur deshalb ein Ausnahmewerk. Piercy arbeitete zehn Jahre lang an dem Buch und trug nach eigenen Angaben 8.000 Seiten Archiv- und Interviewmaterial zusammen, um auf 1.000 Romanseiten die Schicksale von zehn Menschen im Zweiten Weltkrieg zu erzählen.
„Dieser Roman ist ein Werk der Fantasie, aber es war mein Bestreben, dass darin nichts geschieht, was zu der Zeit und an dem Ort nicht wirklich geschehen ist“, schreibt Piercy im Nachwort. Das Buch wird diesem Anspruch gerecht; die zehn miteinander verknüpften Stränge haben in ihren detaillierten, fast reportageartigen Beschreibungen und Entwicklungsbögen der Figuren ebenso literarischen wie dokumentarischen Charakter. Die Brutalität des Kriegs, die grenzenlosen Gräuel nationalsozialistischer Vernichtungs- und Machtpolitik setzt Piercy auf verstörende, drastische Art in Szene.
Von der Bombardierung Londons über den Krieg auf den pazifischen Inseln, die französische Résistance, die Nachrichtendienste in Washington und die Rüstungsindustrie in den USA fächert Piercy vornehmlich die Biografien von jungen Menschen und vor allem von Frauen auf und zeigt, wie der Krieg deren Leben verändert. Bernice ist eine der Ersten, die innerhalb der USA Flugzeuge überführen – eine kriegswichtige Tätigkeit, die im Zug des notorischen Arbeitskräftemangels auch Frauen übertragen wird. Ähnlich geht es der in Detroit lebenden Ruthie, die als eine weibliche Fließbandpionierin ihre Tätigkeit in einer Fabrik aufnimmt. Sie entwickelt wie viele andere ein ganz neues Selbstbewusstsein im Lauf des Kriegs, nach dessen Ende die Frauen wieder in Haushaltstätigkeiten und schlechter bezahlte Putzarbeit zurückgedrängt werden sollen. Arbeitskämpfe spielen eine immer wiederkehrende Rolle, wobei nicht nur Frauen, sondern auch Afroamerikaner um gleiche Rechte in den Fabriken und schließlich auch auf den Straßen kämpfen.
Weitaus drastischer ist das Schicksal der jungen Jacqueline aus Paris, die zu Beginn des Romans ein pubertierender, Tagebuch schreibender Backfisch ist. Sie erlebt, wie ihre Mutter und Schwester von den Nazis deportiert werden, daraufhin schließt sie sich der Résistance an und bringt jüdische Kinder außer Landes. Eine weitere Schwester von Jacqueline lebt in den USA. Wie Familien durch Krieg und Vertreibung auseinandergerissen werden, auch das schildert Piercy eindrucksvoll.
Marge Piercy ist im deutschsprachigen Raum bisher leider nur wenig bekannt, in den USA zählt sie dagegen zu den wichtigen literarischen Stimmen der zeitgenössischen feministischen Literatur. Neben zahlreichen Romanen, von denen einige ins Deutsche übersetzt wurden, schreibt die 1936 in Detroit Geborene auch Gedichte. Ende der 60er engagierte sie sich in der Anti-Vietnamkriegsbewegung. Ihre Romane erschienen hier bei Heyne und im Argument-Verlag. Wer sich für Science-Fiction interessiert, dürfte Piercy noch durch die Romane Die Frau am Abgrund der Zeit (1976) und Er, Sie und Es (1990) bekannt sein. Die Frau am Abgrund der Zeit formuliert eine radikale Kritik an der geschlossenen Psychiatrie der 70er Jahre und entwirft gleichzeitig eine anarchistische Utopie.
Jüdische Identitäten
Auch für diesen Roman recherchierte Marge Piercy intensiv. In der Widmung dankt sie all denen, „die ihren Arbeitsplatz aufs Spiel setzten, um mir überall dort heimlichen Zutritt zu verschaffen wo ich ihn benötigte“. Neben so praxisbezogener Recherche beschäftigt sich Piercy auch mit Theorie. Der dystopische Roman Er, Sie und Es über eine spätkapitalistische Zukunftswelt und künstliche Lebensformen wurde von Donna Haraways viel beachtetem feministischen Theorietext Manifest für Cyborgs (1985) inspiriert. Piercy verknüpft dieses Manifest kongenial in einem komplexen, literarisch anspruchsvollen Roman mit einer mittelalterlichen Prager Golem-Geschichte. Jüdische Identitäten und die Geschichte des Antisemitismus spielen eine zentrale Rolle in ihrem literarischen Schaffen.
Der Mammutroman Menschen im Krieg reicht vom Beginn bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. „Noch nie hatte er als Erwachsener Frieden erlebt: ein Leben seiner Wahl statt eines Krieges, der formte oder zerschmetterte“, resümiert der auf japanische Chiffrierungen spezialisierte Daniel am Ende des Kriegs. Die Protagonisten von Menschen im Krieg werden erst im Lauf der jahrelangen globalen militärischen Auseinandersetzung erwachsen. Marge Piercy zeigt dabei auch, wie arbeitsteilig der moderne Krieg funktioniert. Egal ob in Washington beim Auswerten von über Funk abgefangenen Daten, beim Konflikt mit anderen US-Armeeangehörigen und deren antisemitischer Haltung, am Fließband und beim Arbeitskampf in der Fabrik in den USA oder klandestin im Kampf der Résistance in Frankreich gegen die Nazi-Besatzer: Piercys Figuren kämpfen auf unterschiedlichste Art und trotzdem gemeinsam gegen Antisemitismus, Faschismus und die militärische Bedrohung des deutschen Nationalsozialismus. Und es sind eben nicht nur die Männer, die diesen Krieg gegen den Faschismus führen, sondern die Frauen, die im Fokus von Menschen im Krieg stehen.
Nicht in die Ecke werfen!
Die Widerstandskämpferin Jacqueline wird im Kampf gegen die Nationalsozialisten schließlich gefangengenommen, nach Auschwitz deportiert und schafft es zu überleben. Am Ende des Buchs haben die Figuren ungeheuerliche und schreckliche Erlebnisse und Veränderungen durchgemacht, einige von ihnen sterben auch. Marge Piercy zeigt auf eine verstörend nachvollziehbare Art die Unsinnigkeit dieser Tode – nicht selten kurz bevor die Sterbenden gerettet worden wären. Dabei erzählt Piercy auch immer von den Überlebenden und von dem Loch im sozialen Gefüge, das eine Person durch ihren Tod reißt. So faszinierend der Sog dieses Buchs auch ist, an einigen Stellen möchte man den Roman wegen der darin so detailliert und realistisch beschriebenen Grausamkeiten und grotesken Absurditäten von Krieg und Verfolgung am liebsten wütend in die Ecke schmeißen. Aber es lohnt sich, fertig zu lesen.
Denn der weit ausholende Erzählbogen von Menschen im Krieg reicht am Ende über Vernichtung und Mord hinaus. Marge Piercy vermittelt auch eine Geschichte der Befreiung und Emanzipation. Der militärische Sieg über den deutschen Faschismus geht einher mit einer politischen Neuordnung. Neben der neuen Rolle der Vereinigten Staaten als Weltmacht geht Marge Piercy vor allem auf die Rolle der jüdischen Überlebenden ein. Jacqueline aus der Résistance „gehörte zu niemandem als zu den Freunden, die überlebt hatten und die als Juden hingingen, um einen Ort zu schaffen, wo Juden nie staatenlos werden konnten“.
Das Ende des Zweiten Weltkriegs ist auch die Geburtsstunde des Kampfs um Israel als verheißungsvolle Möglichkeit und politischer Neuanfang für junge Antifaschisten und Sozialisten. Dramaturgisch werden dadurch schließlich die losen Fäden der ausufernden Geschichte zusammengeführt. Und es keimt etwas auf, das sich gegen den ganzen Wahnsinn behauptet.
Menschen im Krieg. Gone to Soldiers Marge Piercy, Heidi Zerning (Übers.) Argument 2014, 1.000 S., 37 €
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