Ungeklärtheiten

Mexiko Schön mysteriös sind „Die Tränen von San Lorenzo“, voll seltsamer Unruhe und Erotik
Ausgabe 16/2017
Ein Gemisch von mexikanischer Folklore und globalisierter Popkultur
Ein Gemisch von mexikanischer Folklore und globalisierter Popkultur

Foto: Ronaldo Schemidt/AFP/Getty Images

In Lateinamerika scheint es ein geradezu unerschöpfliches Reservoir literarisch hochwertiger und unorthodoxer Kriminalromane zu geben. In diese Kategorie gehört auch Vicente Alfonsos Roman Die Tränen von San Lorenzo. Auch wenn der Titel mehr nach banalem Groschenroman klingt, verbirgt sich dahinter neben einer handwerklich gut erzählten Kriminalgeschichte um einen mysteriösen Mord auch eine regionale Milieustudie aus dem trockenen und heißen Norden Mexikos, eine spannende politische Geschichtsschreibung von unten und außerdem ein dramatisches Epos um Begehren, Leidenschaft und Liebe.

Der 1977 in der nordmexikanischen Stadt Torreón geborene Vicente Alfonso, Sohn eines Minenarbeiters, ist hierzulande völlig unbekannt. Die Tränen von San Lorenzo ist der erste Roman, der von ihm auf Deutsch erscheint. Ganz leicht auf den Punkt zu bringen ist das komplexe Romangeschehen, das Vicente Alfonso auf gerade einmal zweihundert Seiten aufrollt, nicht gerade. Im Zentrum der Erzählung steht der Psychotherapeut Alberto Albores, der nach dem Tod eines Patienten dessen ungeheuerliche Geschichte erzählt, um sich selbst über den eigenwilligen Fall klar zu werden. Der verstorbene Patient hatte einen Zwillingsbruder und das Verwirrspiel um Romulo und Remo zieht sich als tragendes Motiv durch den ganzen Roman. Autor Vicente Alfonso hat selbst einen Zwillingsbruder und wollte nach eigenen Angaben dieses Phänomen literarisch aufarbeiten.

Wie in einem Puzzlespiel schieben sich die einzelnen Teile dieser über mehrere Jahrzehnte dauernden Geschichte ineinander. Da ist zum einen ein Magier, der auf Jahrmärkten auftritt und von den Zwillingen bei einer spektakulären Entfesselungsnummer unterstützt wird. Dazu gesellt sich Magda, auch genannt La Ninia, die angeblich Kranke heilen und Wunder vollbringen kann. Außerdem gondelt ein alkoholkranker Journalist durch das wüstenhafte Nordmexiko, um eine Reportage über die Wunderheilerin zu schreiben. Ein weiterer Handlungsstrang erzählt die Geschichte der verschollenen Mutter der Zwillinge, die sich mit ihrem Vater, einem rücksichtslosen Großgrundbesitzer, überworfen hatte und mit kommunistischen Guerilleros und landlosen Bauern gegen die bestehende Ordnung ankämpfte. Alfonso arbeitet in seinem Roman mit einer harten Schnitttechnik und springt ständig von einem Erzählstrang zum nächsten, er wechselt fortwährend die Zeitebenen. Das verleiht dem Roman ein unglaubliches Tempo, bei dem auch der Konzentration des Lesers einiges abverlangt wird.

Mörderische Verehrung

Immer wieder spielen auch ein ungeklärter Mordfall, der Brand in einem Internat und ein legendäres Fußballderby eine wichtige Rolle. Bei dem Fußballspiel wird eine ganze Stadt in Atem gehalten und es kommt zu massiven Ausschreitungen, in deren Verlauf einige sogar versuchen, den Schiedsrichter zu lynchen. Aber auch lange Therapiesitzungen, das unmenschliche amerikanisch-mexikanische Grenzregime, jede Menge unterschlagenes Geld und reichlich erotisches Begehren spielen in diesem Roman eine Rolle. Denn natürlich sind die Zwillinge, die sich wie ein Ei dem anderen gleichen, in ihrer Art sehr unterschiedlich und werden schließlich auch zu unbarmherzigen Konkurrenten.

Es passt viel Personal und Handlung in diesen Roman, ohne dass das Buch überfrachtet wirkt. Im Gegenteil, Vicente Alfonso schafft es mit seiner unspektakulären, aber sehr pointierten Prosa, genau auf den Punkt zu kommen, und trotzdem ist sein Ton sinnlich. Von Mord über Heiligenverehrung und skurrile Zaubertricks, bis zur Kleinstadtrandale kriegt der Leser ein Gemisch von mexikanischer Folklore und globalisierter Popkultur geboten. Am Ende wartet dann noch ein wahrhaft furioses Finale auf den Leser. Die Tränen von San Lorenzo bleibt bis zur letzten Seite spannend und ist eine Entdeckung dieses Bücherfrühlings, die man sich nicht entgehen lassen sollte.

Info

Die Tränen von San Lorenzo Vicente Alfonso Peter Kultzen (Übers.), Unionsverlag 2017, 224 S., 16,99 €

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