Von Attac bis zum Ökodorf: Degrowth wächst

Post-Wachstum Geht es darum, den Imperativ des Wachstums oder den ganzen Kapitalismus zu überwinden? Ein neuer Band gibt unterschiedliche Antworten
Ausgabe 35/2017

Eigentlich gehört es seit 1972, als der Club of Rome seine Studie Grenzen des Wachstums vorstellte, zum Allgemeinwissen, dass die Ressourcen der Erde und das Wirtschaftswachstum endlich sind. Dennoch setzt die heutige neoklassische Wirtschaftswissenschaft nach wie vor auf den Wachstumsimperativ als zentrale Kategorie der Ökonomie. Seit einigen Jahren haben sich aber auch wachstumskritische Perspektiven etabliert, die sich nicht nur in der politischen Linken einer gewissen Beliebtheit erfreuen, reicht das Panorama der Postwachstumsbewegung doch von linksradikal-libertären Tierschützern bis zum Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel, früher Mitarbeiter des damaligen CDU-Generalsekretärs Kurt Biedenkopf. Einen umfassenden Überblick der linksliberalen bis linken Positionen bietet der Band Degrowth in Bewegung(en). Darin finden sich knapp drei Dutzend Texte von Wissenschaftlern und Aktivisten, die 2014 in Leipzig an der mit 3.000 Teilnehmenden bisher bestbesuchten Degrowth-Konferenz über alternatives Wirtschaften diskutierten.

Degrowth bedeute nicht einfach nur wirtschaftliches Schrumpfen, betonen die Herausgeber des Bandes. Vielmehr erfordere eine alternative Gestaltung von Gesellschaft und Ökonomie auch alternative Strukturen – an die Stelle des kapitalistisch gesetzten Prinzips „Schneller, höher, weiter“ sollen kollektive, demokratische und solidarische Wege der Entscheidungsfindung treten. Dementsprechend sind „Selbstorganisierung“ und „Teilhabe“ zentrale Begriffe, die immer wieder in den Texten des Bandes auftauchen. „Degrowth ist eine Perspektive und eine im Entstehen begriffene soziale Bewegung, die in den vergangenen Jahren eine Vielzahl an Alternativdiskussionen und Projekten rund um alternatives Wirtschaften zusammengebracht hat“, schreiben die Herausgeber im Vorwort. Neben der Buchpublikation gibt es eine Website mit Interviews und Filmen, die diesen internationalen Vernetzungs- und Austauschprozess multimedial dokumentiert und verschiedene Aspekte vertiefend behandelt. Im Buch kommen neben dem ehemaligen ecuadorianischen Wirtschaftsminister Alberto Acosta, der über das Prinzip des Buen vivir, des guten Lebens, schreibt, unter anderem Attac, ein Aktivist der spanischen Indignados, das feministische Netzwerk „Care Revolution“, Vertreter von Gemeinschaftsgärten und Ökodörfern, Befürworter des Grundeinkommens sowie Recht-auf-Stadt-Aktivisten zu Wort.

Ob der Imperativ des Wachstums oder der Kapitalismus an sich überwunden werden soll und mit welchen Strategien die jeweiligen Ziele umgesetzt werden können, dazu gibt es in den Texten sehr unterschiedliche Antworten. Während die Vertreter der Ökodörfer radikalen Praktiken eine klare Absage erteilen und darauf setzen, ihre alternativen Vorstellungen als reformorien- tiertes Programm in den Mainstream einzuspeisen, wollen viele andere eine Überwindung des Kapitalismus, dem die Idee des Wachstums als grundsätzliche Funktion letztlich eingeschrieben ist. „Wir wünschen uns, dass sich die Degrowth-Bewegung nicht als Politikberatung für das bestehende System empfiehlt und dass sie sich nicht durch die Arbeit in Stiftungen und Parteien vernutzen lässt“, schreibt das queerfeministisch-linksradikale „trouble everyday collective“ aus Berlin.

Für Interessierte bietet der Band einen panoramaartigen Einblick in eine spannende Debatte, die nicht nur in die aktuelle außerparlamentarische Bewegungsmatrix eingewoben ist, sondern uns auch in den nächsten Jahren noch sehr viel intensiver beschäftigen wird.

Info

Degrowth in Bewegung(en) Konzeptwerk Neue Ökonomie, DFG-Kolleg Postwachstumsgesellschaften (Hg.) Oekom 2017, 416 S., 22,95 €

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