Wenn Cary Grant mit Tito fachsimpelt

Literatur In „54“ erzählt das italienische Autorenkollektiv Wu Ming mit antikapitalistischem Turboantrieb aus der Nachkriegsgeschichte
Ausgabe 30/2015
1954 reformierte Tito den jugoslawischen Sozialismus
1954 reformierte Tito den jugoslawischen Sozialismus

Foto: Keystone Features/Hulton Archive/Getty Images

Die Frage, wie heutzutage kapitalismuskritische Literatur aussehen kann oder soll, wird auf Kongressen und im Feuilleton immer wieder diskutiert. Dass so etwas keineswegs didaktisch trocken sein muss und weit jenseits ausgetretener Pfade des piefigen bundesdeutschen Coming-of-Age-Realismus stattfinden kann, zeigt das italienische Autorenkollektiv Wu Ming. Ihr Roman 54 liegt nun in deutscher Übersetzung vor und bereichert auch die Shortlist der unabhängigen Verlage.

Auf 500 rasanten Seiten wird das titelgebende Jahr 1954 erkundet, mit dem die meisten wohl recht wenig anfangen können. Dabei verbirgt sich hier gerade für antikapitalistische Geister ein historischer Nexus: Ein Jahr nach Stalins Tod reformiert Tito den jugoslawischen Sozialismus, während J. Edgar Hoover wie bekloppt Kommunisten jagt, Ho Chi Minh die französische Kolonialbesatzung wegfegt, der vietnamesische Kaiser im Casino in Cannes amerikanische Steuergelder auf den Kopf haut und in Genf die Indochina-Konferenz tagt – ein Jahr später bricht der Vietnamkrieg aus.

Geschichte ist das zentrale Thema des italienischen Autorenkollektivs Wu Ming, benannt nach einem chinesischen Wort, das je nach Betonung „Namenlos“ oder „Fünf Personen“ bedeutet. In Anlehnung an Antonio Negris Konzept der Multitude schreiben die fünf lange Zeit anonym gebliebenen Autoren ihre spannenden Romane an einem Geschichtsmodell von unten entlang. So erfährt der Leser in 54 auch viel darüber, was die italienischen Partisanen knapp zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs treiben, welche Streitereien es unter italienischen Kommunisten gibt, wie die Massenschlägerei mit der Polizei auf der Demo am letzten Wochenende war und welche Wendung Cary Grants Karriere nimmt.

Denn die erzählerische Klammer des Buches ist eine fiktive Geschichte um einen titofreundlichen Propagandafilm, den die Westmächte mit der Nachkriegsstilikone als Widerstandskämpfer drehen wollen. Bei einem vorbereitenden konspirativen Treffen fachsimpeln dann an der Adria Tito und Cary Grant über gute Kleidung und stilsicheres Geschichtemachen. Zuvor wird der „Homo atlanticus“, wie Cary Grant genannt wird, noch von zwei italienischen Kommunisten am Strand einer einsamen Insel vor dem Zugriff eines KGB-Agenten gerettet. Der Mafiaboss Lucky Luciano spielt in dem Roman übrigens ebenso mit wie Alfred Hitchcock und Grace Kelly. Und eine Schar kommunistischer Rentner, die in einer Bar vor einem der ersten Fernsehapparate sitzen, kommentieren eifrig das politische Weltgeschehen.

Das Autorenkollektiv Wu Ming ist im Umfeld sozialer Bewegungen angesiedelt und begann seine gemeinsame Arbeit in den 90ern als Polit-Gruppe, die mit den Mitteln der Kommunikationsguerilla im kulturellen und politischen Kontext intervenierte, unter anderem warb sie für von Affen gemalte Ölbilder, die bei der Biennale in Venedig ausgestellt werden sollten. Ihren literarischen Durchbruch hatten sie (damals noch unter dem Pseudonym Luther Blissett) mit dem weltweit erfolgreichen Roman Q, einem historischen Schinken über die revolutionären Wirren der Reformationszeit, der im Copyleft-Verfahren wie alle ihre anderen Bücher auf der Homepage gratis heruntergeladen werden kann.

Der Verlag Assoziation A will nun sukzessive die Romane des Kollektivs auf Deutsch herausbringen. Man darf also auf noch mehr rasant erzählte antikapitalistische Geschichte gespannt sein: unter anderem über das 18. Jahrhundert im kolonialen Amerika und die wilden 70er Jahre der Autonomia-Bewegung in Italien.

Info

54 Wu Ming Klaus-Peter Arnold (Übers.), Assoziation A, 528 S., 24,80 €

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