„Wer macht hier sauber?“

Interview 1917, 1968 – und jetzt? Bini Adamczak über Revolutionen und was sie selbst in der Niederlage bewirken können
Ausgabe 44/2017

Was verbindet die große kommunistische Revolution mit den graswurzelhaften Revolten der 1960er und 70er Jahre? Und waren die hehren Ziele und wie sie verfolgt wurden auch ein Grund dafür, dass sich letztlich nicht verwirklichen ließ, wofür man kämpfte? In Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende, das dieser Tage im Suhrkamp-Verlag erschienen ist, versucht sich Bini Adamczak an einer Dekonstruktion des Dualismus von Haupt- und Nebenwiderspruch, von Gleichheit und von Freiheit. Darüber haben wir mit der Autorin gesprochen.

der Freitag: Sie schreiben über die Russische Revolution und über 1968. Wie kommen diese beiden unterschiedlichen Ereignisse in Ihrem Buch zusammen?

Bini Adamczak: Das 20. Jahrhundert wurde von diesen zwei globalen Revolutionswellen geprägt. Dazwischen befindet sich das Zentrum des Jahrhunderts, der Nationalsozialismus, aber auch der Stalinismus. 1968 war eine Wiederholung von 1917, die anknüpft an verschüttete Traditionen, die durch den Nationalsozialismus zerstört und durch den Stalinismus in ihr Gegenteil verkehrt wurden. Gleichzeitig grenzt sich 1968 auch von 1917 ab. Die zentrale Orientierung auf Gleichheit wird ersetzt. An deren Stelle tritt die Orientierung auf Freiheit. Ich glaube, dass 1968, also die Neue Linke, zum Prisma geworden ist, durch das wir auf 1917 schauen.

Die Revolution 1917 ebenso wie die Ereignisse von 1968 verstehen Sie als gescheiterte Revolutionen. Aber beide Ereignisse sind doch sehr unterschiedlich verlaufen?

Niederlage wird einer Bewegung von außen beigebracht. Scheitern dagegen ist Scheitern an eigenen Maßstäben. Die Russische Revolution wurde nicht von der Konterrevolution niedergeschlagen, die Sozialistinnen waren im Bürgerkrieg siegreich. Aber sie konnten, obwohl sie den äußeren Feind niedergeschlagen hatten, nicht ihre Vorstellung von einer sozialistischen Gesellschaft oder von einem kommunistischen Leben realisieren. Sie scheiterten an ihren eigenen Maßstäben, weil sie, darauf fokussiert zu gewinnen, so diszipliniert und autoritär geworden waren, dass damit der Grund, warum sie eigentlich diesen Versuch unternommen hatten, in den Hintergrund trat. Das ist 1968 anders. Der Revolutionsversuch 68 war eine revolutionäre Welle, die um die ganze Welt ging.

Aber war 1968 wirklich eine Revolution wie 1917 oder eher eine Reihe von Revolten?

Beides beginnt in der Peripherie, geht um die Welt und endet in den Zentren. 1917 war das Deutschland, 1968 waren das die USA, Ost- und Nordeuropa, es begann aber in den Kämpfen gegen Kolonialismus, in Vietnam und Algerien. Nirgends gelingt es zwar, auch wenn es in Mexiko und Frankreich knapp davor ist, die Regierung zu stürzen. Aber obwohl die Revolution in der Hinsicht nicht siegreich ist, sondern der Konterrevolution oder den Kräften des Bestehenden unterliegt, ist sie sehr erfolgreich, insofern sie Gesellschaft transformiert.

Zur Person

Bini Adamczak „Unstetes Bündel aus dekonstruktivem Feminismus und orthodoxer Wertkritik“ hat sie selbst sich einmal genannt. Aufsehen erregte im Frühjahr die englische Übersetzung ihres Buchs Kommunismus. Kleine Geschichte, wie endlich alles anders wird (Unrast 2010)

Foto: Salvador Martínez

Sie wollen, wie Sie schreiben, nicht weniger als „der tragischen Geschichte der Revolutionen ein alternatives Ende“ anbieten – mithilfe der titelgebenden „Beziehungsweise“. Was ist darunter zu verstehen?

Ich interpretiere die Revolutionswellen von 1917 und 1968 vor dem Hintergrund der Französischen Revolution, mit der der Begriff der Revolution überhaupt erst aufkam. Die Französische Revolution ist mit Freiheit, Gleichheit, Solidarität in die Welt gekommen.

Hieß das nicht Brüderlichkeit?

Ja, aber das zensiere ich mit einem feministischen Augenzwinkern und nenne es Solidarität. 1917 geht es um Gleichheit, die konterrevolutionäre Rückseite davon ist Homogenisierung und Totalisierung, ist Stalinismus. 1968 fokussiert auf Freiheit, auf Differenz. Das lässt sich bis in die Theoriebildung hinein verfolgen. Die Rückseite davon ist Individualisierung, Fragmentierung von Gesellschaft. Margaret Thatchers Parole „Ich kenne keine Gesellschaft mehr, sondern nur noch Individuen und Familien“ wurde quasi realisiert. In beiden Revolutionswellen war aber auch immer Solidarität anwesend, vor allem in Songtexten, in kulturellen Produktionen, was die Leute auf die Straße brachte, was affektiv anziehend war, einander beizustehen, aus der Einsamkeit herauskommen und gemeinsam kämpfen.

Ist Solidarität nicht sowieso grundlegend für emanzipatorische Bewegungen? Kaum ein Flugblatt der Linken kommt ohne diesen Begriff aus.

Ja, aber Solidarität wurde oft nur instrumentell verstanden wie in der Formulierung: „Divided we fall, united we stand!“ Es wurde wenig begriffen, dass das auch Ziel einer Revolution ist: eine solidarische Beziehung zwischen den Menschen. 1917 fokussierte auf den Staat, 1968 auf das Subjekt. Das hat auch etwas mit der Niederlage zu tun, die den Fokus auf kleinere Initiativen verschiebt, was in den 1970ern und 80ern in einer Verfallsbewegung dazu führt, dass Leute sagen, wir müssen erst uns selbst ändern, dann die Gesellschaft. Eine neue Innerlichkeit. Beide Perspektiven führen in eine Falle. Das eine Mal in den Stalinismus, das andere Mal in Individualisierung und Fragmentierung der Gesellschaft und der Linken, die immer mehr Schwierigkeiten hat, ihre verschiedenen Themen aufeinander zu beziehen, sie zu versammeln und zu verknüpfen. Der Begriff der Beziehungsweise versucht einen Ausweg aus diesem Dilemma anzubieten. Was emanzipatorische Revolutionen eigentlich versuchen, ist weder, das Ganze in seiner Gesamtheit neu zu entwickeln, noch den neuen Menschen zu schaffen. Stattdessen muss der Fokus darauf liegen, die Beziehungen, die Form, in der wir uns aufeinander beziehen, in der wir Verhältnisse miteinander eingehen, zu transformieren. Und das schaue ich mir insbesondere anhand von Geschlechterverhältnissen an.

Geschlecht spielt in Ihrer Analyse von 1917 und 1968 eine zentrale Rolle. Klassischerweise sah die Linke darin einen Nebenwiderspruch. Sie gehen darüber hinaus. Ist das wirklich neu?

Die Diagnose haben schon viele gestellt: Gleichheit 1917 bedeutete Gleichheit mit den Männern. Ich untersuche diesen Prozess an sehr unterschiedlichen Bereichen, an der Literatur, medizinischen, wissenschaftlichen Diskursen, bis hin zur Mode, den Körpern, dem Kinderkriegen. Was neu ist, ist die Konstellation, in die ich das mit 1968 stelle. 1917 zielt auf eine universelle Maskulinisierung. Aber erst durch die Brille des Queerfeminismus erkennen wir die Radikalität dieses Emanzipationsmodells. Es ging nicht einfach darum, dass Frauen wie Männer werden sollen, aber weiterhin als zwei Geschlechter existieren. Mit Hilfe Judith Butlers und anderer können wir erkennen, dass das Ziel dieser Revolution tatsächlich darin bestand, alle Menschen zu Männern zu machen. 1968 setzt im Gegensatz zu 1917 keine generelle Feminisierung, sondern eine differentielle Feminisierung ein. Das heißt zunächst, dass die Weiblichkeit dominanter wird, als sie es vorher war und aus den Bereichen des Konsums und der Reproduktion, wie Hausarbeit, wo sie vorher eingeschlossen war, in die Bereiche der Öffentlichkeit hineingeht.

Aber wie verändert das ein kollektives Aufbegehren? Wie sieht das in der Praxis aus?

Das heißt, dass in den politischen Versammlungen die Fragen der Reproduktion nicht mehr beiseitegeschoben werden: Wer macht hier sauber, auf welche Klos gehen wir. Diese Fragen sind eben nicht nebensächlich und ermöglichen erst das eigentliche Politische, wie die bürgerliche gesellschaftliche Spaltung uns immer vorgaukelt. Da soll das alles weggeschoben werden, damit man dann über Politik reden kann. Nein, das sind Dinge, die politisch sind und politisch diskutiert werden und die sonst als typisch weibliche Aufgaben privatisiert und unpolitisch gemacht werden. In dem Moment, wo diese unpolitischen Bereiche politisiert werden, ist der Protest auch ein feministischer Protest. Dann geht es bereits um die Kritik von Geschlechterverhältnissen.

Gibt es aktuell politische Entwicklungen, in denen die Beziehungsweisen eine Rolle spielen könnten?

Ja, das haben wir in der letzten emanzipatorischen Welle gesehen, derjenigen von 2011, die über den halben Globus gerollt ist, zuletzt in Frankreich bei Nuit Debout. Diese Welle brachte mit sich, dass Beziehungen zwischen Menschen verändert wurden. Es ist kein Zufall, dass das erste Wort dieser Bewegung die Versammlung ist, dass die Leute sich in der Öffentlichkeit treffen, öffentlichen Raum einnehmen und dann keine Forderungen stellen. Die Leute sagen: „Wir sind unsere Forderungen.“ Es geht darum, miteinander in ein anderes Verhältnis zu treten, „die Angst voreinander zu verlieren“, wie ein Occupy-Wall-Street-Aktivist geschrieben hat. Eine Veränderung der Beziehungen der Menschen findet also bereits statt. Dieser Occupy-Aktivist beschreibt, dass er immer mit der Angst lebte, die Menschen da draußen könnten ihm gefährlich werden. Man muss sich schützen, da ist Kriminalität, man muss Misstrauen zu anderen haben. Man lebt mit den anderen im Verhältnis der Konkurrenz. Und dann stellt er fest, er kommt mit Leuten ins Gespräch, vor denen er Angst hatte und die hatten auch Angst vor ihm. Aber gemeinsam lassen sich Ängste abbauen. Es kommt zu einem solidarischen Verhältnis, das eben auch nicht mehr hierarchisch ist, sondern demokratisch.

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