Und sie bewegt sich doch?

Migration Inzwischen ist Ostmitteleuropa nicht nur Ausgang, sondern auch Ziel weltweiter Wanderungsbewegungen

Deutschland ist kein Einwanderungsland" - wurde jahrzehntelang in der alten Bundesrepublik verbreitet. Es stimmte nie - in den letzten 50 Jahren sind über 30 Millionen Menschen in die Bundesrepublik gekommen: Flüchtlinge und Aussiedler in der Spätfolge des Zweiten Weltkrieges, so genannte Gastarbeiter, politisch Verfolgte, Armutsflüchtlinge, die Freizügigkeit nutzende EU-Bürger und andere Menschen. Nicht zu vergessen ist die Binnenwanderung zwischen DDR und BRD beziehungsweise zwischen Ost- und Westdeutschland seit 1990. Umgekehrt verließen auch etwa 22 Millionen Menschen die Bundesrepublik aus den unterschiedlichsten Gründen. Deutschland ist kein Einwanderungsland? In anderer Weise als "klassische" Einwanderungsländer wie die USA, Kanada oder Australien, anders auch als ehemalige Kolonialmächte wie Großbritannien und Frankreich ist Deutschland längst ein Migrationsland - und wird es bleiben.

Dem scheint auf den ersten Blick nun auch die deutsche Politik Rechnung zu tragen. Die Green-Card-Kampagne des Sommers 2000 kann allerdings schwerlich als übermäßig erfolgreich bezeichnet werden - ein wahrer Ansturm indischer, polnischer oder tschechischer IT-Spezialistinnen und Spezialisten auf Deutschland lässt sich nicht ausmachen. Wie denn auch, denn längst gibt es für diese auch in den heimatlichen Schlüsselindustrien günstige Arbeitsbedingungen, die eine befristete Tätigkeit ohne Familiennachzug nicht allzu attraktiv erscheinen lassen. Deutschland ist als ein Land relativ großen Wohlstands sicherlich ein potenzielles Einwanderungsland für Migrantinnen und Migranten, doch gehen wir fehl, wenn wir glauben, Deutschland sei wirtschaftlich, sozial und vor allem in seiner kulturellen Offenheit ein so überaus attraktiver Ort, dass sich die halbe Welt hier niederlassen wolle. Rassistische Anschläge und Alltagserscheinungen, nicht zuletzt auch die von Abwehr und Ängstlichkeit negativ geprägte Zuwanderungsdiskussion machen deutlich, dass es gute Gründe für potenzielle Migrantinnen und Migranten gibt, nicht unbedingt in Deutschland zu leben.

Immerhin hat die Green-Card-Debatte eine breite Diskussion über Migrationsfragen ausgelöst, die in diesem Sommer in den Bericht der Süßmuth-Kommission und die Gesetzesankündigung von Innenminister Schily mündete. Auch die PDS hat dem Migrationsthema in der Folge eine Aufmerksamkeit gewidmet, die zumindest etwas über die kontinuierliche und engagierte Arbeit ihrer Fachpolitikerinnen und Fachpolitiker hinausging. Im Ergebnis standen Eckwerte für eine umfassende Migrationspolitik, die die Bundestagsfraktion Ende Juni verabschiedete. Mit diesen Eckwerten setzt sich die PDS deutlich von der dominierenden Ausrichtung der Migrationsdebatte ab, wie sie Rita Süßmuth - etwas liberaler - und Otto Schily prägen. Letzterer ist schwerlich liberal zu nennen angesichts einer beabsichtigten Senkung des Alters für den Familiennachzug auf 12 Jahre, einer weiteren Überprüfung selbst anerkannter Asylbewerber und des Beharrens auf einer restriktiven Asylpolitik im Widerspruch zur Genfer Flüchtlingskonvention, neuen EU-Standards und anderen internationalen Grundlagen. Ökonomische Nützlichkeit für deutsche Unternehmen und Sozialversicherungssysteme sollen aus Sicht der PDS nicht das einzige Kriterium für Zuwanderungschancen sein.

Im Verhältnis von Deutschland zu Polen und Tschechien bestimmt vor allem die Freizügigkeit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aus den mittelosteuropäischen EU-Beitrittsländern die Diskussion. Während Ungarn sich bereits den EU-Forderungen - das heißt in dieser Frage den Forderungen aus Berlin und Wien - nach einer bis zu siebenjährigen Übergangsfrist bis zur Freizügigkeit für seine Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf den EU-Arbeitsmärkten gefügt hat, ist die polnische Regierung hierzu aus guten Gründen nicht bereit. Die EU, wahrlich kein in erster Linie philanthropisch ausgerichtetes Gebilde, beruht auf den Prinzipien der "Freiheit" des Waren- und Kapitalverkehrs und derjenigen von Personen und Arbeitskräften. Schon vor dem EU-Beitritt ist das EU-Kapital längst in den mittelosteuropäischen Ökonomien vertreten. So stellen etwa in Polen EU-Konzerne, ein deutscher an der Spitze, die zehn größten Einzelhandelsunternehmungen. Erst an elfter Stelle folgt ein polnischer Konzern. Wenn also die Freizügigkeit des Kapitals für die EU-Länder längst besteht, wie kann dann die Freizügigkeit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, ebenfalls eine Grundsäule der EU, auf Jahre hinaus blockiert werden?

Dies ist ein wesentlicher Gegenstand des Migrations- und Minderheitenthemas innerhalb der Gesamtkonferenz (Angebot W 3: Freier Kapital- und Warenverkehr - versperrte Arbeitsmärkte?). Andere Aspekte sind die Flüchtlingspolitik und der Umgang mit "illegalisierten" Menschen in Polen, Tschechien und Deutschland, die teilweise eine Folge der EU-Politik (Schengener Abkommen) sind (Angebot A 1: Kein Mensch ist illegal/ Unerwünscht im Haus Europa). Längst sind nämlich Polen und Tschechen nicht nur Herkunfts- sondern auch Transit- und Zielländer von Arbeitsmigration, politischen und Armutsflüchtlingen geworden. Die Debatte um traditionelle "autochthone" Minderheiten, die noch die neunziger Jahre wesentlich prägte, wird gegenüber neuen Minderheiten an Bedeutung verlieren.

Mit der polnischen Zuwanderung nach Deutschland insbesondere in den letzten 20 Jahren beschäftigt sich eine Mittagsvorlesung von Andrzej Kaluza vom Deutschen Polen-Institut aus Darmstadt. Polen und Deutsche, Polen in Deutschland, das ist eine lange, aber vielfach klischeebesetzte Geschichte. Diese "Bilder vom Anderen" (P 3) diskutieren im weiteren auch Journalistinnen und Journalisten mit Ruth Henning von der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Brandenburg. Nicht zuletzt geht es um Eindrücke von Korrespondenten aus Berlin und Warschau, die Bilder vieler Menschen über Polen und Deutschland prägen.

Eine Stiftung, die sich nach Rosa Luxemburg nennt, die Polin, Jüdin und Deutsche war, eine Stiftung, die der PDS nahe steht, muss sich und andere auch fragen, ob ihr Umgehen mit Rassismus, aber auch mit Forderungen von Migrantinnen und Migranten, angemessen ist. Historischer Antifaschismus und der Internationalismus der Arbeiterbewegung waren wichtige "Essentials" der Linken, doch reichen sie als Antworten auf den gegenwärtigen Rassismus und eine demokratische, gleichberechtigte Teilhabe von Migrantinnen und Migranten nicht mehr aus. Einige Anforderungen an linke Politik in Polen, Tschechien und Deutschland zu bestimmen versuchen, will deswegen die Diskussionsrunde P 4 (Linke und Rassismus, Linke und Migration - (k)ein Thema?).

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