Am Ende der Glotzkultur

Netflix Unser Autor versuchte verzweifelt, den Algorithmus des Online-Videoportals, das es nun auch in Deutschland gibt, zu lieben
Ausgabe 39/2014
Das Urteil liegt im Auge des Betrachters
Das Urteil liegt im Auge des Betrachters

Foto: Pascal Le Segretain/ AFP/ Getty Images

Wie die Ankunft eines neuen Zeitalters wurde vergangene Woche der Start des Online-Videoportals Netflix in Deutschland gefeiert. Als das Ende der Glotzkultur, wie wir sie kennen – auch dank eines Algorithmus, der um meine Fernsehlaunen weiß, sie versteht und mich sicher durch das Angebot geleiten soll. So die Theorie. Gleich nach der Anmeldung wird es ernst. Für die Erstellung eines Vorlieben-Profils kann der Nutzer seine Lieblingsserien und -filme angeben. Ich muss aufpassen, schließlich will ich es mir ja nicht gleich am Anfang mit dem Algorithmus verscherzen. Ich füttere ihn mit distinktiven Geschmacksdaten. In meiner „Top-Auswahl“ landen daraufhin Adam-Sandler-Ulk und Tim und Struppi. Schließlich werde ich mit der Serie Die LottoKönige verkuppelt. Die einfache, liebenswürdige Familie König gerät durch einen unverhofften Lottogewinn in lustige Situationen. Richtig warm werden der Algorithmus und ich noch nicht. Jener soll ja aber auch, wie Netflix fortwährend betont, noch in der Entwicklungsphase sein. Erst gilt es die Daten zu sammeln, um den deutschen Fernsehzuschauer, dieses mystische Wesen, verstehen zu lernen. Ein ambitioniertes Unterfangen.

Den Gedanken, selber deutsche Serien zu produzieren, hat Netflix gerade öffentlich verworfen. Es gebe zu wenige „Themen von weltweitem Interesse“. Auch dafür wird der Markt fleißig evaluiert. Ständig bietet sich die Möglichkeit, sich mitzuteilen. Ob ich diesen oder jenen Film mag, dieses oder jenes Genre und welche Stimmungen ich grundsätzlich favorisiere: von „atmosphärisch“ über „herzzerreißend“ bis „überdreht“ und „zynisch“. Mein tiefgehender Zynismus spült mir 101 Dalmatiner in die „Top-Auswahl“. BoJack Horseman hingegen, eine vor Zynismus wahrlich triefende, geniale Zeichentrickserie, wäre mir vorenthalten worden, hätte ich sie nicht – ganz old school – selbst beim Stöbern entdeckt. Die meiste Zeit verbringe ich damit, Missverständnisse aus dem Weg zu räumen. Arbeit wird mir so nicht abgenommen.

Ein bisschen holprig ist auch die Unterscheidung nach Haupthandlungen: Affen, Böse Kinder, Katzen und Hunde, Prinzessinnen, Trickbetrügerei, Immigrantenleben, Familientreffen, Sprechende Tiere und knapp 100 weitere Kategorien stehen zur Auswahl. Detailverliebt und überambitioniert. Und als Differenzierungsprinzip offensichtlich untauglich. Orange Is the New Black zum Beispiel, die vielgepriesene Serie über ein Frauengefängnis, ist tragisch-komisch mit Hang zu absurden und liebenswürdigen Charakteren. Nach dem exzessiven Konsum der Serie wird mir einfach noch mehr Gefängnis angeboten. Harte Sprüche und toughe Knastbrüder inklusive. Durch die Serie Der Tatortreiniger tauchen im Vorlieben-Profil statt Schwarzhumorig-Philosophierendem etliche Krimiserien auf. Das an die Coen-Brüder angelehnte Fargo ist eine zynische Karikatur des Kleinstadtlebens. Doch weil es blutig wird, hetzt Netflix Zombies und Vampire auf mich. Die Auswahl läuft offenbar thematisch und nicht geschmackssoziologisch.

Am Ende hätte ich fast eine kleine Erfolgsgeschichte zu vermelden gehabt. Ich widerstand den Zombies und Knastbrüdern und bekam eine neue und sehr spezifische Kategorie angeboten: „Von Kritikern gelobte, schräge Independent-Komödien“. Ach, Netflix ... you just get me!, dachte ich. Am folgenden Tag war die Rubrik verschwunden.

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