Wie beginnt man ein Gespräch über Depressionen? Vielleicht wirklich einfach beim Fahrradfahren. Eine lange Schlange zieht sich an diesem Dienstagnachmittag durch Berlin, die roten Ampeln ignorierend. Mitarbeiter des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs in gelben Westen signalisieren Autos an den Kreuzungen zu warten, gelassen nehmen sie die folgenden Hupkonzerte entgegen. Korinna sitzt auf einem vollgepackten Tandem. Und während die Räder dahinrollen, beginnt sie zu erzählen, wie sie sich vor einigen Jahren eine Depression „eingefangen“ hat.
Korinna gehört zu den Teilnehmern der sogenannten Mood-Tour. Bei dieser Aktion fahren jeweils drei Menschen mit und drei Menschen ohne Depressionserfahrungen auf Tandems quer durch Deutschland. Sie wollen so für einen offenen und unverkrampften Umgang mit Depressionen werben. An diesem Nachmittag darf aber jeder, der möchte, mitradeln. 35 Kilometer, von Potsdam nach Berlin.
Die Idee zur Mood-Tour hatte Sebastian Burger. Der Künstler und Fahrrad-Aficionado wollte ein Projekt mit positivem Hintergrund starten. Zu viele Aktionen zum Thema Depression sind ja von mahnender Schwere getragen. Prominente Todesfälle wie jener von Robin Williams sorgen kurz für öffentliche Aufmerksamkeit, die meist aber schnell wieder nachlässt. Viel Betroffenheit, aber keine konkrete Auseinandersetzung. Bei der Mood-Tour soll es um Mut gehen. Und Ermutigung: „Es ist eine Erkrankung. Punkt“, sagt Burger. „Sie ist in den Griff zu kriegen. Man muss nicht so wahnsinnig viel Angst haben.“
Kein Beinbruch
Die Stimmung an diesem Nachmittag ist gut. Immer wieder radeln Neugierige an die Seite der Tandems, man kommt ins Reden. Korinna erzählt, dass nur wenige Depressionen tatsächlich als Krankheit wahrnähmen. „Wäre es ein Beinbruch, könnte man einfach einen Gips drum machen. Doch Depressionen sind unsichtbar. Sie sind diffus, und man weiß nicht genau, was da vor sich geht.“ Freunde und Bekannte würden dann oft versuchen zu beschwichtigen – das sei alles doch nicht so schlimm, man müsse sich halt ein bisschen zusammenreißen.
Im Privaten wird der Begriff Depression außerdem oft inflationär verwendet. Auch während Korinnas Tour durch Deutschland begegnete sie vielen, die spaßhaft sagten: „Ach, ich glaub, ich hab auch eine Depression.“ In der Arbeitswelt hingegen sei der Begriff verpönt. Dort gelten Menschen mit Depressionen als leistungsunfähig, viele verheimlichen deshalb ihre Krankheit. Auch bei scheinbar einfachen Dingen wie dem Abschluss einer Versicherung wird die Diskriminierung spürbar. „Niemand versichert ein brennendes Haus“, sagt Korinna. „Dabei gucken wir auch nicht die ganze Zeit verduddelt aus der Wäsche. Es sind eben Phasen, wir haben sonst ein ziemlich normales Leben.“
Das zu vermitteln ist nicht leicht. Initiator Burger spult im Gespräch schnell die Zahlen der Weltgesundheitsorganisation WHO ab: Weltweit gibt es eine Million depressionsbedingte Selbstmorde pro Jahr; in Deutschland sterben durch Depressionen mehr Menschen als durch Verkehrsunfälle; jeder Fünfte macht im Laufe seines Lebens Depressionserfahrungen. Doch bei den Zahlen muss man auch vorsichtig sein.
Die Krankheit kann nicht so exakt bestimmt und diagnostiziert werden wie viele andere. Die Diagnose Depression ergibt sich aus einer gewissen Summe an vorher definierten Symptomen, die Dosis macht dabei das Gift. Und es ist keine rein medizinische Frage, es ist vor allem eine der gesellschaftlichen Definition. Was wollen wir als Abweichung und was als Normalität konstruieren?
Deshalb ist es umstritten, Depression als sehr umfassende Krankheit zu institutionalisieren. Viele sehen Melancholie als eine Grundkonstante der Conditio humana, manche erkennen ganz klar eine Verschwörung der Pharmaindustrie. Andere wiederum kritisieren den Trend als unpolitisch. Es gehe da nur um Selbstoptimierung und nicht um eine Veränderung gesellschaftlicher Bedingungen.
Aufpumpen als Metapher
Doch die Teilnehmer der Mood-Tour verbeißen sich nicht in diesen Grabenkämpfen. Es geht ihnen vor allem um eine Sichtbarmachung, um Respekt und gegenseitige Unterstützung. An einer Kreuzung ist neben dem Hupen auch ein alter Mann zu hören, der ruft: „Ihr seid doch alle verrückt!“ Die Tandemfahrer bringt das zum Lachen. Auch Unzurechnungsfähigkeit werde Depressionserkrankten häufig fälschlicherweise zugeschrieben, erklärt Korinna. Ob in der Arbeit, bei der Familiengründung oder im Alltag, „für manche ist Depression im Kopf immer noch ganz nah beim Thema Irrenanstalt und dergleichen mehr“.
Immer wieder gibt es bei der Tour kleine Unterbrechungen, Reifen werden noch einmal aufgepumpt und die Stopps sofort metaphorisch gedeutet. Auch im richtigen Leben brauche man ja Pausen, wenn einem langsam die Luft ausgehe. Dann geht es weiter, man fährt dem Brandenburger Tor entgegen, und die Teilnehmer sind sich jetzt ziemlich sicher: Die Leute hupen inzwischen aus Unterstützung.
Trotzdem werden die Ersten schon müde. Nur für eine kurze Diskussion über Burn-out haben ein paar noch Luft. Der Begriff helfe dabei, Erschöpfungserscheinungen in der Arbeitswelt sensibler wahrzunehmen, sagt einer. Eine junge Frau widerspricht, das Wort Burn-out habe in den vergangenen Jahren den Eindruck erweckt, Niedergeschlagenheit sei nur bei einer viel zu hohen Arbeitsmoral legitim. Depressionen könnten schließlich sehr verschiedene Ursachen haben.
Ankunft an einer Strandbar an der Spree, Reggae-Sound kommt aus den Boxen, es gibt Infostände und ein Buffet. Und ja, Depressive können feiern. Aber ohne mich. 35 Kilometer mit dem Fahrrad sind einfach viel zu viel.
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