Ein historisches Abkommen?

Chile Nach den wochenlangen Protesten soll die Aussicht auf eine neue Verfassung das Land beruhigen

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Die chilenische Sängerin Mon Laferte sagt: „In Chile wird gefoltert, vergewaltigt und gemordet.“
Die chilenische Sängerin Mon Laferte sagt: „In Chile wird gefoltert, vergewaltigt und gemordet.“

Foto: Joe Buglewicz/Getty Images

Bei den Latin Grammys in der vergangenen Woche sorgte vor allem die chilenische Sängerin Mon Laferte für Aufsehen. Auf dem roten Teppich entblößte sie ihren Oberkörper. Auf ihrem Burstkorb stand in großen Buchstaben: „EN CHILE TORTURAN VIOLAN Y MATAN“ (In Chile wird gefoltert, vergewaltigt und gemordet.). Eine ähnliche Botschaft verkündigte auch der chilenische Jiu-Jitsu Kämpfer Rogers Rogerio bei den „Argentina Open“. Der Zweitplatzierte des Kampfsportevents hielt bei der Siegerehrung eine chilenische Fahne in den Händen mit der Aufschrift: „NOS MATAN VIOLAN Y TORTURAN IQUAL QUE EN DICTADURA“ (Sie töten, vergewaltigen und foltern uns wie in einer Diktatur). Die Musikerin und der Sportler nutzen ihren öffentlichen Auftritt, um auf die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen der letzten vier Wochen in ihrem Heimatland aufmerksam zu machen.

Seit dem Ausbruch der Unruhen am 18.Oktober kommt es in Chile täglich zu großen Protesten, die das neoliberale System und die enorme Ungleichheit in dem südamerikanischen Land anprangern. Mehr als 20 Menschen sind mittlerweile ums Leben gekommen. Mindestens fünf davon durch Polizei- und Militäreinheiten. Nach Angaben des Nationalen Menschenrechtsinstituts (INDH) wurden bisher 6.362 Menschen verhaftet und 2.381 Personen mussten im Krankenhaus behandelt werden. Über 200 Chilenen haben durch Gummigeschosse ein Auge verloren (Stand 15.11.19). Außerdem gibt es unzählige Vorwürfe von Folter und sexualisierter Gewalt gegen die staatlichen Sicherheitsorgane. Unter den Opfern befinden sich auch Minderjährige. Zahlreiche Videos in den sozialen Netzwerken belegen die Gewaltexzesse und enorme Repression, denen die Menschen ausgesetzt sind.

Der chilenische Präsident Sebastian Piñera versprach zwar in den letzten Wochen soziale Reformen und hat inzwischen den Ausnahmezustand sowie die Ausgangssperren aufgehoben. Diese Maßnahmen konnten die angespannte Lage im Land jedoch nicht befrieden. Die Menschen auf der Straße fordern den Rücktritt des Präsidenten und eine neue Verfassung. Die aktuelle wurde 1980 während der Militärdiktatur (1973-1990) von Augusto Pinochet erlassen. Schließlich kam es am Freitagmorgen zwischen der Regierung und Teilen der Opposition zu einem „historischen Abkommen“. Im April 2020 soll eine Volksabstimmung, ob eine neue Verfassung erarbeitet werden soll, stattfinden. Sollte sich die Bevölkerung dafür entscheiden, sollen die ChilenenInnen in einem zweiten Plebiszit klären, ob eine zur Hälfte aus Abgeordneten und Delegierten bestehende Versammlung, oder ein Verfassungskonvent diese entwerfen soll. Die Opposition sowie die nationale und internationale Presse sprachen von einer „historischen Vereinbarung“.

Dennoch gingen die Proteste am gleichen Tag weiter. Denn viele Menschen trauen dem Beschluss nicht. Tatsächlich birgt dieser vermeintlich historische Moment einige Schwächen. Zunächst erscheint die Frage, ob es überhaupt eine neue Verfassung geben soll, redundant. Aktuellen Umfragen zufolge lehnen 78% der chilenischen Bevölkerung die aktuelle Konstitution ab. Die Mehrheit der Protestierenden wünscht sich zudem eine Verfassungsgebende Versammlung. Eine solche wird jedoch in dem erzielten Abkommen gar nicht erwähnt. Stattdessen wurde ein Verfassungsgebender Konvent ins Spiel gebracht. Auf den ersten Blick erscheint dieser, der Forderung der Demonstranten zu entsprechen. Allerdings würden die Delegierten durch den Kongress gewählt werden. Die Zusammensetzung des Konvents würde sich somit an den ungeliebten Mehrheitsverhältnissen im Parlament orientieren. Die meisten Sitze hält jedoch die Koalition „Chile Vamos“ von Sebastian Piñera. Hinzu kommt, dass Entscheidungen in diesem Konvent von einer 2/3 Mehrheit bestätigt werden müssen. Des Weiteren gibt es keinerlei Garantien, dass die sozialen Missstände untern denen viele ChilenenInnen aufgrund des privatisierten Bildungs-, Renten- und Gesundheitssystem leiden, beseitigt werden würden. Das gleiche trifft auf die große Problematik der Wasserversorgung zu, die ebenfalls in den Händen privater Unternehmen liegt, und zu enormen Kosten und einem stetig steigenden Wassermangel, den insbesondere das Zentrum und der Norden des Landes zu spüren bekommt, führen.

Außerdem bleibt eine der Hauptforderungen der Rücktritt Piñeras, der offensichtlich immer noch nicht bereit ist, Verantwortung für seine katastrophale Politik der letzten Wochen zu übernehmen. All diese offenen Fragen erklären, warum trotz der Einigung, die zwar einen Lichtblick darstellt, die Menschen weiterhin auf die Straße gehen.

Am Plaza Italia, dem Epizentrum der Proteste in der chilenischen Hauptstadt, der mittlerweile von den Menschen in „Plaza de Dignidad“ (Platz der Würde) umbenannt wurde, kam dabei am Freitagabend erneut ein Mensch ums Leben. Der 29-jährige hatte in Folge eines Tränengasbeschusses einen Herzstillstand erlitten. Sanitäter versuchten ihn wiederzubeleben und wurden dabei von der Polizei mit Wasserwerfern, Tränengas und Gummigeschossen attackiert. Einer der Ersthelfer erlitt während der Rettungsmaßnahmen Schussverletzungen. Der Abtransport des sich in Lebensgefahr befindenden Mannes verzögerte sich erheblich. Im Krankenhaus konnte nur noch sein Tod festgestellt werden.

Dieser Vorfall rückt einen weiteren Grund für die Fortsetzung der Proteste in den Fokus: die eingangs erwähnten Menschenrechtsverletzungen von Seiten der Sicherheitskräfte, die ebenfalls die Regierung zu verantworten hat. „Die Menschen wollen Gerechtigkeit. Zu viele Menschen wurden verletzt, gefoltert und ermordet. Dafür sollen wir uns jetzt mit einer eventuellen neuen Verfassung zufrieden geben? Wer garantiert uns Gerechtigkeit? Wer garantiert den Opfern Gerechtigkeit? Und wer garantiert uns, dass wir tatsächlich eine neue Verfassung bekommen, und nicht doch alles beim Alten bleibt und sich nichts an den prekären Lebensverhältnissen der Menschen hier ändert? Solange es keine Gerechtigkeit und ernstzunehmenden Garantien gibt, werden wir weiter auf die Straße gehen!“, erklärt eine junge Lehrerin, die fast täglich an den Protesten teilgenommen hat.

Das Misstrauen wirkt verständlich und lässt dieses „historische Abkommen“ in einem anderen Licht erscheinen. In diesem Sinne gingen auch die Proteste am Samstag weiter, ebenso wie die Repression der Sicherheitskräfte. Auch für die kommende Woche wurden weitere Demonstrationen angekündigt.

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Geschrieben von

Florian Sachse

ist Zeithistoriker und freier Journalist. Lebt und arbeitet in Berlin

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