„Hoffnung hat man immer!“

Integration Bassam* hat die Gefahren der „Westbalkanroute" auf sich genommen, musste 14 Monate in Bayern ausharren und versucht jetzt in Berlin, ein menschenwürdiges Leben zu führen

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Ein Flüchtling auf der Balkanroute
Ein Flüchtling auf der Balkanroute

Foto: Dan Kitwood/Getty Images

Bassam wurde 1995 in Beirut geboren. Durch das sogenannte Abstammungsprinzip besitzt er jedoch die syrische Staatsbürgerschaft, da seine beiden Elternteile aus Syrien stammen. Der 23-jährige und ich arbeiten seit ca. einem Jahr zusammen im Cassiopeia, einem Club in Berlin, in dem Konzerte und Partys veranstaltet werden. Von Anfang an fielen mir sein freundliches Wesen sowie seine enorme Lebensfreude auf. Doch welche Geschichte steckt hinter diesem jungen Mann, der es bevorzugt, in seiner Pause auf dem Dancefloor seinen Körper rhythmisch zur Musik zu bewegen? Um dies zu erfahren, treffe ich ihn Ende Mai zu einem kleinen Interview in Berlin Schöneberg.

Es ist 12 Uhr mittags, die Sonne brennt. Sommerliche Temperaturen verwöhnen die Hauptstadt schon seit Wochen. Etwas müde, aber dennoch gut gelaunt erscheint Bassam zum ausgemachten Termin. Er habe die letzte Nacht nicht geschlafen, sagt er. Das liegt wohl an der Nachtarbeit, die wirke sich negativ auf die Schlafgewohnheiten aus. Seine Deutschkenntnisse sind bereits bemerkenswert. Stolz erzählt er mir, dass er bereits die Prüfung für das B1 Level geschafft hat und demnächst B2 anstehe. Bei einer heißen Schokolade beginnen wir unser Gespräch. „Ich bin Moslem und ich mach Ramadan jetzt gerade. Aber heute nicht, weil ich bin richtig fertig“, lässt er mich wissen.

Zunächst befrage ich ihn zu seiner Familie. Seine Eltern sind Kurden, die in Syrien geboren wurden, dann aber ihren Lebensmittelpunkt in den Libanon verlegt haben. Dort erblickten dann seine ein Jahr ältere Schwester und er das Licht der Welt. Seine Mutter ist nach der Trennung vom Vater zurück nach Syrien gegangen, hat neu geheiratet und nochmal zwei Kinder bekommen. Sein Vater lebt mit seiner neuen Frau weiterhin im Libanon. Vor ca. zwei Jahren und zwei Monaten hat Bassam den Libanon verlassen, um seinen Geschwistern, die sich bereits ein Jahr früher auf den Weg nach Deutschland gemacht hatten, nachzureisen. Seine Schwester und seinen kleinen Bruder führt er auch als wesentlichen Grund an, warum er nach Berlin wollte. Er berichtet mir, dass das Leben im Libanon sehr hart für ihn war. Der Krieg im Nachbarland hat auch im vom langen Bürgerkrieg gezeichneten Libanon tiefe Spuren hinterlassen. Dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR zufolge waren im März 2018 eine Million syrische Flüchtlinge dort registriert. Außerdem geschätzt die Organisation, dass sich zusätzlich noch eine weitere Million Syrer unregistriert im Land aufhält. Bei einer Gesamtbevölkerung von 4.5 Millionen Menschen stellt das eine enorme Herausforderung für die instabile Wirtschaft des Staates dar. Auf nähere Nachfrage schildert Bassam, dass er mehrmals von Libanesen aufgrund seiner syrischen Staatangehörigkeit bedroht wurde. Dies war wohl der entscheidende Auslöser, der ihn zum gefährlichen Weg nach Deutschland bewegte.

„Wir mussten einfach weg von der Polizei gehen, damit die uns nicht sehen“

Per Flugzeug reiste er in die Türkei ein. Von dort gelangte Bassam mit einem kleinen Plastikboot nach Griechenland. Von Athen aus ging es innerhalb von 19 Tagen über die sogenannte Westbalkanroute bis nach Bayern. Bassam war seit der Türkei mit einer Gruppe von 57 Personen unterwegs. Unter ihnen waren viele Familien mit Kindern. Wie sie sich von Athen bis nach Deutschland durchgeschlagen hätten, frage ich ihn. „Ich war der einzige der Englisch geredet hat in unserer Gruppe und ich habe dann meistens junge Menschen angesprochen, weil die bestimmt Englisch konnten. Die meisten waren sehr nett und haben uns geholfen." Ich entgegne ihm, dass seine Gruppe großes Glück gehabt hätte, ihn dabei zu haben. Darauf antwortet er schmunzelnd: „Ja, ich glaube deswegen haben die alle immer auf mich gewartet. Ich glaube, deswegen sind wir alle 57 zusammen geblieben.“ Seine Englischkenntnisse hat er sich während seines Studiums als Innendesigner angeeignet. Außerdem spricht er Arabisch und Kurdisch.

Um an ihr Ziel zu kommen, benutzen sie jedes erdenkliche Transportmittel, das ihnen vermittelt wurde. Busse, Züge, LKW, aber auch zu Fuße mussten sie viele Kilometer zurücklegen. Um die verschiedenen Landesgrenzen zu passieren, benutzte die Gruppe bevorzugt Taxis, weil diese in der Regel nicht von der Polizei kontrolliert wurden. Von all den Strapazen dieser entbehrungsreichen Unternehmung ist ihm insbesondere die Durchquerung Serbiens in Erinnerung geblieben. Dort steckte er für drei Tage im Dezember bei minus 20 Grad in einem Bus fest, den die Insassen nicht verlassen durften. Insgesamt musste Bassam 2.900 US-Dollar für die ganze Odyssee bezahlen, davon allein 1.900 für die knapp zwei stündige Meeresüberquerung von der Türkei nach Griechenland.

Trotz des traurigen Themas ist Bassam immer wieder zu Scherzen aufgelegt, wodurch unser Interview erheblich aufgelockert wird. Ich bin sehr überrascht, wie gut er mit dem Erlebten umgeht. Bisher habe er nur mit seinen Geschwistern und seiner Freundin über die Geschehnisse gesprochen. Auf die Frage, ob es ihm schwerfalle darüber zu berichten, entgegnet er, dass es nicht leicht sei. Dennoch erzähle er seine Geschichte gerne, weil er stolz sei, diese Tortur gemeistert zu haben.

„Ist das Deutschland?“

Schließlich erreichten alle 57 Menschen die österreichisch-deutsche Grenze. Die Polizei brachte ihn und fünf weitere Personen aus der Gruppe in die Erstaufnahmeeinrichtung in Schwandorf. „Dort gab es ungefähr 20 Häuser und der jüngste Mensch ist 90 Jahre alt gewesen. Dort gab es wirklich nur sehr, sehr wenige Leute und die waren alle sehr alt und ich hab nur einmal Leute auf der Straße gesehen und das in sieben Monaten! Das war richtig hart. “ Dieser Zustand war für den lebensfrohen jungen Mann wirklich schwer zu ertragen. So schwer, dass er tatsächlich wieder zurück wollte. Einmal hatte er bereits seine Sachen gepackt, nur seine Schwester konnte ihn in einem Telefongespräch davon abhalten. Nach diesen sieben Monaten kam er nach Wackersdorf, wo er weitere sieben Monate in einer Art WG-Wohnung untergebracht wurde. Nur die Hoffnung auf ein normales Leben und das Wiedersehen mit seinen Geschwistern in Berlin ließen ihn diese schwierige Episode überstehen. Jedoch wusste er während dieser Zeit nicht, ob er überhaupt irgendwann nach Berlin gehen können würde. „Ich habe viel gefragt, aber keiner hat darauf geantwortet. Die haben einfach gesagt, sie wissen es nicht. Du musst auf deine Papiere warten. Wenn die hier sind, können wir darüber reden.“ Nach ca. 10 Monaten wurde seinem Asylantrag nach Artikel 16a GG stattgegeben und nun darf er erstmal drei Jahre in Deutschland bleiben. Wie er erfuhr, hatte er Glück mit dieser „kurzen“ Zeitspanne. Seine Geschwister hatten ihren Antrag in Berlin gestellt und warteten immer noch darauf, als er nach Berlin kam, obwohl sie schon ein Jahr länger in Deutschland waren. „Das einzige, was an Bayern schön war“, kommentiert er lächelnd die vergleichsweise kurze Bearbeitungszeit für Asylanträge im Freistaat.

Als der Antrag endlich durch war, durfte er aber immer noch nicht dauerhaft legal in Berlin bleiben. Dafür musste er zuerst einen Arbeitsvertrag vorweisen können. Ein kompliziertes Unterfangen, wenn Mensch sich am gewünschten Ort nicht für längere Zeit aufhalten darf. Einmal im Monat konnte er schließlich seine Geschwister besuchen. Beim ersten Wiedersehen war die Freude unbeschreiblich groß. Die große multikulturelle Stadt wirkte wie das Paradies auf ihn im Gegensatz zur bayrischen Provinz. „Es gab richtig viele Leute, mit denen man reden kann.“ Und was macht ein Mensch nach so langer Isolation in Berlin? Na klar, er geht unter Leute und erkundet das Berliner Nachtleben. Eines Nachts landeten er und seine Geschwister schließlich im Cassiopeia, in dem wir heute zusammen arbeiten. Dort traf er Ute und freundete sich mit ihr an, was dazu führte, dass er in den folgenden Monaten mehrmals den Club besuchte. Bassam erzählte ihr, dass er dringend eine Arbeit finden müsse, damit er in Berlin bleiben könne. Ute konnte ihm schließlich helfen, einen Job bei uns im Club zu bekommen. Zu diesem Zeitpunkt konnte er noch kein einziges Wort Deutsch. Wie auch, wenn ein Mensch quasi von der Außenwelt abgeschnitten wird und keine Chance bekommt, soziale Kontakte zu knüpfen? Zwar wurde ihm in Bayern ein Deutschkurs angeboten, dieser fand aber ca. 2 Stunden von Wackersdorf entfernt statt und die Busverbindungen waren sehr schlecht. In diesen 14 Monaten fühlte er sich sehr einsam und total verloren. Laut Bassam gab es weder Beratung für die Antragstellung noch psychologische Betreuung. „Sie haben uns in ein Heim gesteckt und uns ein bisschen Geld gegeben.“ 253€ im Monat sollten zum Leben reichen. Als sie dann in der WG wohnten gab es 320€. „Das hat gerade so zum Essen gereicht. Naja es musste reichen“, er lacht. Es ist kaum vorstellbar, wie viel unerträglicher die Situation für Neuankömmlinge erst in den von Horst Seehofers angestrebten Ankerzentren wäre.

„Als ich nach Berlin gekommen bin – ich fand Berlin einfach schön!“

Als er endlich seinen Arbeitsvertrag sicher hatte, durfte er aber immer noch nicht offiziell nach Berlin umziehen, wie sich herausstellen sollte. Er musste sich zunächst beim Jobcenter melden. Dort wurde ihm mittgeteilt, dass er eine Meldeadresse in Berlin benötige. Diese musste zuvor vom Sozialamt bestätigt und ans Jobcenter weitergeleitet werden. Die ganze Prozedur nahm weitere fünf Monate in Anspruch. In diesem Zeitraum musste Bassam ins Krankenhaus wegen einer Mandelentzündung. Er verbachte einen Monat im Krankenhaus. Jedoch gab es Komplikationen bei der Operation, so dass er danach noch einmal dorthin zurück musste. Die Kosten hätte die Krankenkasse nur übernommen, wenn er sich in Bayern hätte behandeln lassen. Doch darüber wurde er nicht in Kenntnis gesetzt. Deshalb muss er die Rechnung von 2700€ jetzt aus eigener Tasche in Raten abbezahlen. Nach seiner Schilderung wäre eine Fahrt nach Bayern aber überhaupt nicht mehr möglich gewesen. Er konnte nicht mehr sprechen, hat kaum Luft bekommen und musste vom Notarzt ins Krankenhaus gebracht werden.

Schließlich konnte er eine offizielle Meldeadresse in einem Hostel, wo er heute noch zusätzlich zu seinem anderen Job arbeitet, finden. Dort kümmert er sich um das Frühstück, schmeißt die Rezeption und putzt auch mal die Treppe. „Ich mache eigentlich alles, genauso wie bei uns im Club“, sagt er und grinst dabei. Insgesamt verdient er jetzt durch die zwei Jobs 550€ im Monat. In dem Hostel wohnten bis vor Kurzem auch seine Geschwister. Diese sind jetzt aber in eine eigene Wohnung ganz in der Nähe gezogen. Bassams neue Wohnadresse wurde dann auch vom Sozialamt bestätigt, so dass er sich fortan legal dauerhaft in Berlin aufhalten konnte. Seitdem hat er sehr schnell Deutsch gelernt. Insbesondere durch seine Arbeit im Club konnte er sich die ersten Grundlagen aneignen. Danach hat er zweimal für einen Monat eine Sprachschule besucht. Die B1 Prüfung hat er mit 99 von 100 Punkten absolviert. „Ich mag die Sprache sehr, es ist eine starke Sprache.“ Nun muss er noch die B2 Prüfung bestehen, damit er eine Ausbildung machen kann.

Trotzdem er sich sehr wohlfühlt in Berlin, gibt er zu verstehen, dass er nicht vollkommen glücklich ist. Er vermisse sein Zuhause, seine Familie und seine Freunde. Heimweh spricht aus ihm. Seine Mutter hat er seit siebeneinhalb Jahren und seinen Vater seit drei Jahren nicht gesehen. Seine Stiefschwester kennt er kaum, und seinen Stiefbruder hat er bis heute nicht kennenlernen können. Die Mutter und seine Stiefgeschwister lebten bis vor der Operation Olivenzweig in Afrin. Der türkische Angriff zwang sie zur Flucht nach Aleppo. In dieser Zeit hatte Bassam große Angst um seine Familie. Trotz der menschenunwürdigen Lebenssituation wollen sie Syrien nicht verlassen. Anders dagegen sein Vater, der würde gerne mit seiner neuen Frau nach Deutschland zu seinen Kindern kommen. Bassam und seine Geschwister versuchen gerade mit Hilfe eines Anwalts den Familiennachzug zu regeln. Der Antrag wird seit über einem Jahr bearbeitet.

Auf die Frage, ob er negative Erlebnisse mit Rassismus in Berlin gehabt hätte, antwortet er besonnen: „Naja sowas gibt es überall, aber wenn ich so etwas sehe, gehe ich einfach weg. Ich rede einfach mit denen nicht. Böse Menschen gibt es überall.“ Bis auf ein Erlebnis am S-Bahnhof Lichtenberg, wo er verbal angegriffen wurde und ihm mit auf den Weg gegeben wurde, dass er Deutschland gefälligst verlassen solle, blieben ihm rassistische Übergriffe bisher erspart.

Am Ende frage ich ihn nach seinen Zukunftsplänen. Natürlich hoffe er, dass der Krieg in Syrien irgendwann vorbei sein wird. Aber derzeit könne er sich nicht vorstellen, wieder zurückzugehen. Selbst wenn irgendwann wieder Frieden in der Region einkehren sollte, wird es danach Jahre dauern, bis wieder ein Leben unter normalen Umständen möglich ist. Von daher möchte er erstmal hier eine Ausbildung machen, um eine gute Arbeitsstelle finden zu können. Was er genau machen möchte, weiß er noch nicht. Im Grunde genommen stehen ihm alle Möglichkeiten offen, er muss sich nur entscheiden. Vielleicht braucht er dafür aber noch etwas Zeit, um seine Ideen und Vorstellungen entwickeln zu können. Die zwei Jobs und die Sprachschule spannen ihn zurzeit vollständig ein. Zeit für Freizeit oder sich selbst, zum Nachdenken beispielsweise, bleibt da kaum. Dennoch bleibt er optimistisch und hat sich bereits etwas deutschen Pragmatismus angeeignet: „Ich finde, wir müssen Leben am Ende. Ich meine, ich wohne jetzt hier in Deutschland, ich muss deutsch reden. Und wenn ich hier wohne und lebe - muss ich arbeiten, so wie alle. Das ist ganz normal – das ist das Leben.“

*Name geändert

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Florian Sachse

ist Zeithistoriker und freier Journalist. Lebt und arbeitet in Berlin

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