Opferverhöhnung am 9. November?

Protestkultur Seit Jahren können Neonazis ohne große Hürden durch Berlin ziehen. Gegen diese Praxis regt sich gesellschaftlicher Widerstand

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Erst kurz vor Beginn der rechten Demonstration am 3. Oktober 2018 wurde die Demoroute der Nazis öffentlich gemacht. Proteste gab es dennoch
Erst kurz vor Beginn der rechten Demonstration am 3. Oktober 2018 wurde die Demoroute der Nazis öffentlich gemacht. Proteste gab es dennoch

Foto: imago/Emmanuele Contini

Am 9. November wollen Rechtsextreme erneut durch Berlin ziehen und den „Opfern von Politik“ gedenken. Dieser Tag scheint nicht zufällig gewählt, gilt er doch aufgrund verschiedener Ereignisse als sogenannter „Schicksalstag der Deutschen“. Eine ganze Reihe von Ereignissen hat diesen Tag geprägt. Zunächst ein kurzer, nicht vollständiger Überblick:

Nach dem sich der „Kieler Matrosenaufstand“ über das gesamte Deutsche Reich ausgeweitet hatte, gab Reichkanzler Prinz Max von Baden am 9. November 1918 eigenmächtig den Rücktritt von Friedrich Wilhelm II. bekannt. Daraufhin rief Phillip Scheidemann die „Deutsche Republik“ und fast zeitgleich Karl Liebknecht die „Freie Sozialistische Republik“ aus.

Am gleichen Tag nur fünf Jahre später scheiterte in München der „Hitler-Ludendorff-Putsch“. In der Folge wurde die NSDAP bis zu ihrer Neugründung 1925 verboten und Adolf Hitler zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt, die er aber nach knapp neun Monaten wegen „guter Führung“ abgesessen hatte. 13 Jahre später ging der 9. November als Reichspogromnacht in die Geschichtsbücher ein. Das Attentat auf den Legationssekretär Ernst Eduard vom Rath zwei Tage zuvor in der deutschen Botschaft in Paris galt den Nationalsozialisten als Vorwand, die systematische Vernichtung des Judentums offen einzuleiten und praktisch umzusetzen. Die Pogrome, die um diesen Tag herum stattfanden, erfassten das gesamte Deutsche Reich. Dabei wurden mindestens 91 Menschen ermordet, mindestens 1.200 Synagogen und Gebetshäuser in Brand gesteckt und mindestens 7.500 Geschäfte zerstört. Des Weiteren ergriff eine Verhaftungswelle die jüdische Bevölkerung, in deren Folge die Nationalsozialisten über 30.000 Menschen in Konzentrationslager internierten.

Schließlich darf bei Betrachtung des 9. Novembers das Jahr 1989 und der Fall der Berliner Mauer nicht vergessen werden. Während einer Pressekonferenz antwortete Günter Schabowski auf die Nachfrage eines Journalisten, ab wann die neue Regelung in Bezug auf visafreie Ausreisen in die Bundesrepublik in Kraft trete, mit dem berühmten Ausspruch: „Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.“

Trotz der Diversität dieser Ereignisse gilt der 9. November vor allem als Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Der rechtsextreme Verein „Wir für Deutschland“ (WfD) um Enrico Stubbe hat für dieses Jahr einen „Trauermarsch“ durch Berlin Mitte angemeldet. Nach einer Einschätzung der „Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin“ (MBR) wird ein Spektrum aus „organisierte[n] Rechtsextreme[n] aus Kameradschaften, NPD, der Partei «Der III. Weg», der «Identitären Bewegung », Personen aus dem Reichsbürger-Spektrum, Fußball-affine Rechte und Hooligans, Mitglieder der «Patriotischen Plattform » der AfD, Anhänger_innen rechter Splittergruppen und islam- sowie flüchtlingsfeindlicher Initiativen“ erwartet. Das ein solches Zusammentreffen an diesem geschichtsträchtigen Tag, an dem sich die Reichspogromnacht zum 80. Mal jährt, sattfinden soll, ist ein widerlicher Affront und schreit nach einem Skandal.

Diese Meinung vertritt auch das „Berliner Bündnis gegen Rechts“(BBgR). Dabei handelt es sich um einen breitgefächerten Zusammenschluss unterschiedlichster Institutionen. Neben einigen Antifa-Gruppen gehören u.a. auch die Parteijugendverbände der regierenden Senatsparteien Berlins, die „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten“ (VVN-BdA) und das „Bündnis Neukölln“ dazu. In einem Aufruf unter dem Motto: „Gedenken heißt handeln“ mobilisiert das Bündnis zu einer „antifaschistischen Aktionswoche“ und zu Protesten gegen den Naziaufmarsch. „Ein Nazi-Aufmarsch an diesem Tag in der Berliner Innenstadt ist eine Verhöhnung aller Opfer der Shoah. Sich diesem Aufmarsch entgegenzustellen, ist gerade in Zeiten des wiedererstarkenden Antisemitismus für alle Pflicht.“ Außerdem kritisiert das BBgR den Berliner Senat scharf für seine: „jahrelange[n] Praxis der Absicherung von Naziaufmärschen zu jeder Zeit und zu jedem Anlass“, wodurch „[…] Berlin für Neonazis und Faschisten aller Schattierungen – trotz erheblichen gesellschaftlichen Widerstandes – ein attraktives Aufmarschgebiet […]“ geworden ist.

Tatsächlich erscheint diese Kritik nicht ganz unangebracht. So wurden in der Vergangenheit, zuletzt am 3.10.2018, die Demorouten der Nazis erst kurz vor Beginn öffentlich gemacht und große Teile der Innenstadt durch ein riesiges Polizeiaufgebot quasi vom restlichen Stadtgebiet abgeschnitten. Damit handelte der Senat wiederholt entgegen der Koalitionsvereinbarungen. Im Koalitionsvertrag lassen sich dazu folgende Zeilen finden: „Die Koalition will Zeit und Ort von Demonstrationen veröffentlichen und setzt sich dafür ein, dass Gegenproteste in Hör- und Sichtweite zugelassen werden. Die Mobilisierungs- und Informationsplattform «Berlin gegen Nazis» benötigt für ihre Arbeit die Sensibilität und Unterstützung von Politik und Verwaltung für friedlichen zivilgesellschaftlichen Protest im weltoffenen Berlin.“

Sensibilität und Unterstützung erhofft sich das BBgR vom Berliner Senat insbesondere für die Opfer des Nationalsozialismus. In seinem Aufruf fordert das Bündnis ein klares Bekenntnis von den politischen Entscheidungsträgern: „Der R2G-Senat muss sich entscheiden, ob er in aller Deutlichkeit zu einem antifaschistischen Grundkonsens steht oder mit dieser Art der Politik weiter gegen den antifaschistischen gesellschaftlichen Protest arbeiten will.“

Es stellt sich die Frage, ob ein Verbot des sogenannten Trauermarsches eine angemessene Reaktion des Senats wäre. Über Verbote von Nazidemonstrationen lässt sich sicherlich streiten. Jedoch erscheint ein solches an diesem Tag angebracht, wenn nicht sogar dringend erforderlich, um ein würdevolles Gedenken und nicht Geschichtsrevision in den Vordergrund zu rücken. In der Praxis gibt es tatsächlich Möglichkeiten Naziaufmärsche insbesondere an geschichtsträchtigen Orten und Daten zu verbieten. Als prominentes Beispiel ließe sich der 8. Mai 2005 anführen. Am Tag der Befreiung wollte damals die NPD eine Demonstration entlang des Holocaust-Mahnmals vorbeiziehen lassen und eine Kundgebung vor dem Brandenburger Tor abhalten. Der Berliner Senat hatte mit Hilfe des Berliner Kammergerichts die Veranstaltung verbieten lassen und stattdessen einen „Tag der Demokratie“ am Brandenburger Tor durchgeführt. Das Urteil wurde später vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe bestätigt. Demnach gäbe es also Handlungsspielräume für den rot-rot-grünen Senat. Es bleibt abzuwarten, ob er sich an diesem geschichtsträchtigen Tag zum „antifaschistischen Grundkonsens“ bekennt oder einen Nazitrauermarsch am 80. Jahrestag der Reichspogromnacht durch Berlin Mitte ungehindert marschieren lässt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Florian Sachse

ist Zeithistoriker und freier Journalist. Lebt und arbeitet in Berlin

Avatar

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden