„Wir müssen aufstehen!“

Interview Georg Albiez war als medizinischer Leiter an Bord der „Lifeline“. Hier spricht er über seine Beweggründe, Eindrücke und seine Meinung zur aktuellen Migrationspolitik

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„Es müssen mehr werden, es müssen mehr Schiffe werden“
„Es müssen mehr werden, es müssen mehr Schiffe werden“

Foto: Matthew Mirabelli/AFP/Getty Images

Sie waren der medizinische Leiter auf der „Lifeline“, wie sind Sie dazu gekommen?

Eine frühere Mitarbeiterin, eine Intensivpflegekraft, mit der ich über 20 Jahre zusammengearbeitet habe, wusste, dass ich gerne Teil eines solchen Projektes sein wollte – und sie stand in Kontakt mit der Dresdener NGO „Mission Lifeline“. Seit dem 01.03. dieses Jahres bin ich im Ruhestand, und die hatten noch keinen Arzt für die anstehende Mission – also hat sie mich angerufen. Das war eine vergleichsweise kurzfristige Verpflichtung, die dann zu dieser Mission geführt hat.

Haben Sie vorher bereits an Rettungsaktionen teilgenommen oder in Krisengebieten gearbeitet?

Nein, habe ich bislang noch nie. Ich bin 40 Jahre lang Klinikarzt gewesen und war dadurch immer sehr stark in Anspruch genommen. Solche Projekte hatte ich mir für die Zeit in meinem Ruhestand vorgenommen. Damit ich nicht in die Untätigkeit verfalle und dann nur noch an mich denke und weiterhin das machen kann, was ich immer gemacht habe: anderen Menschen zu helfen.

Was hat Sie konkret zu dieser Mission bewegt?

Ich beschäftige mich schon seit längerer Zeit mit dem Thema Migration und bin auch emotional sehr stark berührt von den Berichten aus den Krisengebieten, in denen Migration stattfindet oder abgewehrt wird. Insbesondere mit welchen Mitteln sie abgewehrt wird. Darüber hinaus bin ich schon seit Jahren entsetzt darüber, dass wir billigend in Kauf nehmen, dass tausende Menschen im südlichen Mittelmeer ertrinken. Für 2018 sind bereits 1.000 Tote nachgewiesen. Die wahre Zahl liegt sehr wahrscheinlich um den Faktor 10 darüber, also bei 10.000 Toten.

Mit welchen Erwartungen sind Sie an Bord gegangen?

Ich bin mit großem Respekt an Bord gegangen. Einen 14-tägigen Aufenthalt auf hoher See, ohne einen Hafen zu sehen, ohne Land zu sehen – sowas habe ich noch nie gemacht. Ich wusste nicht, ob ich seekrank werde, wie ich mich selbst fühlen werde, welche Ressourcen ich über die 14 Tage mobilisieren kann und wie ich mich von den Strapazen erholen werde. Ich habe mir auch Gedanken über die Enge, das Fehlen der Privatsphäre und der schönen häuslichen Umgebung, die ich bislang gewohnt war, gemacht. Angesichts dieser zu erwartenden Herausforderungen hatte ich großen Respekt davor. Ich wusste auch nicht, wie die Crew sich zusammenschweißen lässt, ob es da starke Spannungen geben könnte, oder wie gut diese zusammen arbeiteten würde. Das alles waren Fragen, die mich im Vorfeld beschäftigt haben. Deswegen war es für mich kein Abenteurertum, sondern eine mit hohem Respekt begonnene Mission.

Wie viele Tage war das Schiff unterwegs, bevor sie die 234 Menschen an Bord genommen haben?

Wir sind am 13.06. – das war ein Mittwochabend – von La Valletta auf Malta ausgelaufen und am 21.06. haben wir die 234 Menschen innerhalb weniger Stunden aufgenommen. Allerdings muss ich dazu sagen, dass wir – das wird in den Medien ständig unterschlagen – fast die doppelte Anzahl von Menschen gerettet haben. Bereits nach 48 Stunden – das war am Freitagabend, den 15.06. – haben wir mit Hilfe der US-Navy einen Transfer von über 120 Menschen auf ein Cargoschiff bewerkstelligt. Diese Handelsschiffe sind nicht in der Lage, bzw. haben nicht die Mittel für eine solche Rettungsaktion. Sie haben keine Beiboote, die sie mal eben ins Wasser lassen können. Außerdem gibt es keine ausreichende Anzahl von Schwimmwesten an Bord. Ein großes Schlauchboot eines US-Kriegsschiffes hat uns geholfen, weil unser eigenes großes Schlauchboot bereits zu Beginn des Transfers zum Handelsschiff ausgelaufen war.

Wir sind dann weitergefahren, das Meer war die nächsten Tage sehr unruhig. Wir wussten, wenn die See rau ist und der Nordwest-Wind bläst, dann können die Schlepperboote überhaupt nicht ablegen, weil die Wellen zu hoch sind, die Kraft der Motoren nicht ausreicht und die Boote zu instabil sind, um das offene Meer zu erreichen. Die nächsten Tage wurde die See dann flacher. Dann nahmen wir an, dass die Schlepperboote kommen würden. Am 21.06. folgte dann die große Rettungsaktion im Morgengrauen, bei der wir 234 Menschen aus zwei Schlepperbooten an Bord genommen haben. In der Nacht danach haben wir nochmal 100 Menschen auf einen Containerfrachter, der dänischen Reederei Mærsk transferiert. Die Gesamtzahl der Geretteten lag also in etwa bei 450.

Wie sind sie überhaupt auf die Menschen in ihren Schlauchbooten aufmerksam geworden?

Wir operierten etwa 20-30sm (ca. 40 bis 60 km) von der libyschen Küste entfernt. Wir wussten, dass die See keine Wellen hatte, der Wind praktisch eingeschlafen war und die Bedingungen deshalb günstig für die Schlepperboote waren. Wir hatten natürlich Radar an Bord, mit dem wir selbst in der Nacht Aufklärung machen konnten. Damit haben wir dann am 21.06. noch in der Nacht diese Boote aufgespürt.

Wie lief die Rettungsaktion am 21.06. ab?

Das erste Boot, das wir aufgespürt hatten, wollte in der Dunkelheit vor uns fliehen, weil die Menschen nicht wussten, ob wir freundlich oder feindlich (z.B. die sogenannte libysche Küstenwache) waren. Wir mussten uns an dieses Boot heranschleichen, sie konnten noch manövrieren, ihr 40 PS Außenborder lief noch. Dann haben wir unsere beiden Schlauchboote mit unseren beiden Kränen zu Wasser gelassen und sind herangefahren. Niemand trägt auf diesen Schlepperbooten eine Rettungsweste. Die Taktik der Search and Rescue (SAR) Schiffe ist immer so, dass sie sich vorsichtig annähern, damit keine Panik entsteht. Wir beruhigten die Leute und verteilten dann erstmal Schwimmwesten an alle, auch an Babys und Kleinkinder. Damit wird Vertrauen aufgebaut. Die See war zu diesem Zeitpunkt so ruhig, dass wir dieses erste Schlepperboot mit unseren Schlauchbooten an unser Schiff seitlings heranschieben konnten. Somit konnten wir dann die Menschen in kurzer Zeit sicher an Bord bringen. Im Anschluss haben wir das zweite Boot angefahren, da war der Morgen schon etwas weiter gediehen, und der Vorgang wiederholte sich. Unter den 234 Menschen waren 80 unbegleitete Minderjährige unter 18 Jahren, zwei Babys unter einem Jahr und ein Kind von drei Jahren. Mit dieser hohen Zahl von Geretteten war unser Schiff voll.

Wie schätzen Sie die Arbeit der „lybischen Küstenwache“ ein?

Obwohl das Seegebiet so riesig ist, findet keine systematische Aufklärung statt. Die „libysche Küstenwache“ ist nachts gar nicht aktiv, die haben keine Flugzeuge, ihre Boote sind nicht ausgestattet für Rettungsaktionen. Letzte Woche, am 29.06., sind über 100 Menschen ertrunken, weil die „libysche Küstenwache“ ein Gummiboot in den eigenen Hoheitsgewässern (12 sm) evakuieren wollte.

Gab es während ihres Einsatzes Komplikationen mit der „lybischen Küstenwache“?

Während unserer Mission hatten wir dreimal Kontakt mit der „libyschen Küstenwache“. Die ersten beiden Male an aufeinanderfolgenden Tagen, als wir noch keine Geretteten an Bord hatten. Sie haben uns mit großem Abstand zweimal umkreist, um nachzuschauen. Beim dritten Mal hatten wir dann die 234 Menschen an Bord. Als sie das entdeckten, haben sie ultimativ verlangt, dass wir sie übergeben. Ihr Schiff wollte längsseits an uns anlegen, die Besatzung hatte die Taue schon wurfbereit in der Hand gehabt. Wir haben das aber strikt abgelehnt. Mit dem Kapitän, der fast kein Englisch konnte, haben wir dann vereinbaren können, dass unser Beiboot einen Emissär, letztendlich waren es zwei, zu uns an Bord holt. Mit der starken Präsenz unserer Crew, haben wir sie dann umringt und sie davon überzeugt, dass wir die Geretteten nicht übergeben werden. Es war eine höchst brisante Situation, ein Psychokrieg. Sie hatten kein Recht, das zu tun. Wir waren im Recht. Wir waren in internationalen Gewässern. Wir haben durch unsere Stärke, unser Standing die Flüchtlinge geschützt. Diese hatten sich auf den Decks versteckt und gesagt, wir springen über Bord, wenn etwas passiert. Wir konnten sie beruhigen und durch unser Standing das Schiff der Küstenwache zum Umdrehen veranlassen, so dass es schließlich Richtung Libyen „abgedampft“ ist.

Unglaublich und bemerkenswert, dass die „Küstenwache“ sich gebeugt hat.

Naja, die hatten keine Waffen, zumindest nicht sichtbar, vermutlich hatten sie unter Deck welche. Wir waren in internationalen Gewässern, da gilt immer das Internationale Seerecht. Ich möchte betonen, dass Italien uns Gesetzesbruch vorwirft, also uns Rettern, obwohl das Recht durch Italien gebrochen wird. Es wird hoffentlich ein Verfahren vor dem Internationalen Seegerichtshof (ISGH) in Hamburg geben.

Die Reederei Mærsk, die im zweiten Assist von uns die Menschen aufgenommen hatte, durfte auch nicht in Italien anlanden. Das Schiff lag tagelang vor einem italienischen Hafen, bis sie dann praktisch Nothilfe angefordert hatten, weil die Situation bei denen an Bord mit Nahrungsmittelvorräten unerträglich geworden war. Erst dann konnten sie in den Hafen einlaufen. Also auch die weltweit operierende und größte Container-Reederei der Welt, die wird Klage beim ISGH einlegen. Das war ein absoluter Rechtsbruch und sie werden natürlich auch Schadensersatz vom italienischen Staat für das Blockieren ihres Schiffes verlangen. Uns wird aus nicht nachvollziehbaren Gründen Rechtsbruch vorgeworfen. Dabei ist es Italien, das Internationales Recht bricht.

Wie war der allgemeine Zustand der Geretteten?

Also wir hatten keine akuten, schweren Verletzungen, insofern war das eine gute Situation. Fast alle Menschen, selbst die kleinen Kinder hatten Krätze, weil sie monatelang unter grausamen Bedingungen von irgendwelchen Schleppern oder in sonstigen Lagern gehalten wurden. Die Krätze ist eine Parasitenerkrankung der Haut, die bei uns praktisch ausgestorben ist, aber in Ländern mit schlechten hygienischen Bedingungen grassiert. Das ist keine schlimme Erkrankung, aber die Menschen haben starken Juckreiz, vor allem im Schlaf, kratzen sich auf, und das führt zu bakteriellen Superinfektionen. Es gab auch einige Flüchtlinge, die ältere Folterspuren mitbrachten. Die haben wir so behandelt, wie wir es konnten. Unser Schiff war 32m lang und ist nur geeignet, um kurzfristig Gerettete aufzunehmen. Die müssten dann eigentlich an größere Schiffe weitergegeben werden, um dann an Land gebracht zu werden. Früher hat das die italienische Küstenwache gemacht. Seit einiger Zeit übernahmen das auch größere NGO-Schiffe. Die italienische Küstenwache ist nämlich nicht mehr präsent in diesem ganzen Gebiet, weil Italien fordert, dass der libysche Staat das übernimmt. Dieser existiert aber gar nicht. Europa bzw. unsere Staats- und Regierungschefs und Brüssel suggerieren uns, dass Libyen als „normaler“ Staat existiert. Das ist aber nicht richtig. Es gibt zwar eine vom sogenannten Westen anerkannte Regierung in Tripoli, deren Machtbereich endet jedoch wenige Kilometer außerhalb der Stadt. Deswegen kann auch keine Rede davon sein, dass rechtsstaatliche Grundsätze oder Flüchtlingskonventionen umgesetzt werden. Es ist eine absolute Fiktion. Wenn ich mal einen Vergleich nennen kann: Wenn der US-Präsident heute sagen würde, ich gebe Geld und Waffen an die mexikanische Drogenmafia, um die Grenze zu sichern, dann brauche ich keine teure Mauer bauen. Das wäre vergleichbar mit dem, was die EU macht. Die EU macht eine Politik, die so katastrophal ist, dass man sie demaskieren muss auf allen Kanälen. Die Zivilbevölkerung in Deutschland muss aufstehen, wir müssen Demonstrationen organisieren, wir müssen uns dagegen wehren und die Lügen unserer Politiker demaskieren.

Haben sie von den Geretteten konkrete Informationen über die Zustände in libyschen Lagern erhalten?

Also mein Ansatz war der folgende gewesen: Die Menschen sind so traumatisiert, dass ich sie nicht danach frage. Ich wusste, dass ich Traumatisierungen in dieser Zeit – es wurden dann ja sieben Tage – nicht behandeln kann. Durch Gesten, durch Berührungen, durch Umarmungen, durch Händedruck und durch Blickkontakt habe ich versucht, den Menschen zu helfen. Deswegen habe ich nicht aktiv nachgefragt. Wir haben die Menschen umsorgt, und das war das Wichtigste. Die meisten waren massiv unterernährt, wir haben sie mit Kalorien versorgt und versucht, sie zum Lachen zu bringen. Dann war da noch das große Problem der Seekrankheit. Deshalb waren viele Menschen völlig apathisch in Decken eingehüllt. Diese haben wir aktiv auf den Decks aufgesucht. Wir mussten im schlimmsten Fall bei komatösen Seekranken Infusionsbehandlungen vornehmen, weil sie tagelang nicht in der Lage waren, etwas zu essen oder zu trinken.

Wie war die Situation für die Crewmitglieder?

Wir waren sehr eng zusammengedrängt. Es war eine katastrophale Situation an Bord, die wir aber gemeistert haben. Da kann die ganze Crew sehr stolz sein. Sie hat unglaublich gut zusammengearbeitet und ich konnte mir vorher nicht vorstellen, dass so etwas möglich ist. Dass Menschen, die sich vorher nur teilweise kannten, so gut zusammen funktionieren können. Allerdings waren auch welche dabei, die sich ihrer Arbeit schon jahrelang verpflichtet fühlen und damit sehr erfahren waren. Einer unserer Beibootfahrer hatte schon über 20 Missionen bei allen möglichen NGOs gemacht, der war also ein Profi. Auch die Maschinisten waren Profis aus der Seefahrt. Aber für alle war es natürlich eine extreme Belastung. Alle mussten an ihre Grenzen gehen. Wir haben sehr aufeinander aufgepasst, dass jeder im Team die Freiräume hat, um sich auch körperlich und mental immer wieder zu erholen. Um auch mal zu sagen, ich bin jetzt am Ende, ich muss mich jetzt mal für eine Stunde in eine Ecke mit meinem MP3-Player verziehen und einfach mal abschalten. Auch das war möglich, das haben wir zu gelassen. Wir sind so exzellent miteinander umgegangen. Das war ja zu Beginn auch eine meiner Hauptfragen, wie wird das mit der Crew, wie stellt die sich zusammen, wie findet die sich und wie unterstützt sie sich gegenseitig? Wir hatten natürlich auch krankheitsbedingte Ausfälle innerhalb der Crew. Das war auch meine Aufgabe, die Crew zu unterstützen, medizinisch und psychologisch.

Welcher Hafen sollte nach der Rettung angefahren werden, ein italienischer oder maltesischer?

Malta war eigentlich nicht geplant. Die maltesische Regierung hat zwar bis in die neuste Zeit den NGOs eine Basis gegeben, jedoch immer mit der Argumentation, die Insel sei zu klein, die Anlandung von Flüchtlingen abgelehnt. Jetzt wurden aber alle NGO-Schiffe von der maltesischen Regierung an die Leine gelegt, die dürfen nicht mehr auslaufen. Das betrifft die Sea Watch 3 der Berliner Organisation Sea-Watch e.V., die die größte deutsche NGO auf Malta ist. Diese ist am längsten aktiv und auch am besten vernetzt. Die arbeiten hochprofessionell. Wir waren in den 2 Wochen das einzige NGO-Schiff im SAR-Gebiet. Wir wussten das, und wir haben abgewogen zwischen der absoluten Sicherheit für das Schiff und die Mannschaft auf der einen Seite – und dem Verlust von Menschenleben auf der anderen Seite. Wir hätten natürlich von Anfang an sagen können, unter dieser veränderten italienischen Situation – Salvini hatte am Sonntag den 10.06., als ich nach Malta aufgebrochen bin, verkündet, dass die italienischen Häfen in Zukunft gesperrt werden – widerrechtlich. Das habe ich dann auch als Botschaft mit runtergebracht und gesagt: Leute, wir haben eine ganz neue Situation. Dennoch haben wir uns gesagt, wir müssen Menschenleben retten, das ist unsere Aufgabe. Das kann niemand anderes tun. Also sind wir am Mittwochabend ausgelaufen, um in das SAR-Gebiet zu kommen.

Unser Plan war, dass wir nach der letzten Rettungsaktion zurück laufen in einen sicheren Hafen. Italien hat aber die Zusage kategorisch abgelehnt. Deshalb haben wir auf Malta gebaut. Als wir uns der 24sm Zone näherten, sind wir vom maltesischen MRCC (Maritime Rescue Coordination Centre) aufgefordert worden, außerhalb der Zone zu bleiben. In einer Nacht musste eine medizinisch begründete Evakuation mit einem SAR-Schnellboot aus Malta durchgeführt werden. Wir haben bei ca. 18sm gestanden und da wurde von uns verlangt, dass wir zurückfahren auf die 24sm Zone. Eigentlich befindet man sich bereits ab 12sm in internationalen Gewässern, aber es gibt noch eine 12sm Anschlusszone, in der gewisse Rechte von dem angrenzenden Land wahrgenommen werden können. Einmal wurden wir von der maltesischen Regierung mit Proviant versorgt. Sie haben uns gesagt, dass wir außerhalb der 24sm zu bleiben haben und erst danach haben wir die Versorgung bekommen. Also eine Art Bestechung, damit wir außerhalb bleiben. Dann sind wir praktisch da auf und ab gefahren auf verschiedenen Kursen und mussten dann die Geretteten vertrösten, weil die natürlich erkannt haben, dass etwas nicht stimmt.

Wie war während dieser sieben Tage, in der sie in keinen Hafen einlaufen konnten die Informationslage an Bord?

Wir hatten natürlich ein Sattelitentelefon, das hat aber leider nicht immer funktioniert. Deshalb hatten wir nur manchmal eine stabile Sattelitenverbindung.

Seit zwei Jahren fährt das Schiff unter niederländische Flagge, die Rechtmäßigkeit wird jetzt in Frage gestellt. Was ist an den Vorwürfen dran?

Naja, die Niederländer haben uns während der Mission die Flagge entzogen, obwohl wir ein gültiges Zertifikat hatten. Kein Mensch weiß, auf welcher Rechtsgrundlage das geschehen ist. Ich bin im Seerecht nicht so kundig– aber das, was ich verstanden habe, ist, dass es offensichtlich „commercial“- und „noncommercial“- Registrierungen gibt. Wir sind natürlich „noncommercial“, also so wie ein Segel- oder Sportboot. Das Entziehen der Flagge wurde jetzt auch medial aufgebauscht, um uns einen Rechtsbruch vorzuwerfen. Wir haben die Flagge natürlich drangelassen, sie war am Heck befestigt und auch gehisst. Wir haben keine Begründung bekommen, warum uns die Flagge entzogen wurde, obwohl ein gültiges Dokument an Bord war.

Und diese Information haben sie direkt von den niederländischen Behörden erhalten?

Nein, das wurde uns nicht direkt mitgeteilt, sondern meines Wissen nach haben die niederländischen Behörden das einfach in die Nachrichten per Twitter hineingestreut. Auch in den Niederlanden gab es einen starken Rechtsruck. Das ist ja das generelle Problem auf der Welt, und da passiert dann sowas. Die Deutschen haben gesagt, die Niederländer sollen sich drum kümmern, weil das Schiff da registriert ist. Wir sind nicht der Flaggenstaat.

Hatten Sie das Gefühl, dass in Bezug auf die zukünftige Migrationspolitik der EU an der „Lifeline“ ein Exempel statuiert werden sollte und sie bewusst so lange hingehalten wurden?

Nein, aber wir hatten gehofft, dass der EU-Gipfel Fortschritte bringt, jedoch hat er nur Rückschritte gebracht. Europa will sich abschotten, und die Grenzkontrollen der EU sollen auf Nordafrika verlagert werden. Was natürlich nicht klappen wird. Die EU-Regierungschefs haben die ganze Arbeit der NGOs diskreditiert, sie haben die Position der italienischen Gesetzesbrecher übernommen. Gesetzesbruch ist jetzt offizielle EU-Politik und das ist ein absoluter Skandal. Das bedrückt mich alles tief. Wir müssen aufstehen, wir müssen die Menschen hier informieren, wir müssen auf die Straße gehen, es müssen 100.000 Leute nach Berlin kommen und da demonstrieren. Natürlich werde ich auch „kommen.“

Die Organisation „Mission Lifeline“ und die Besatzung stammen aus Deutschland. Hatten sie während der Blockadehaltung Kontakt zur Bundesregierung? Wie schätzen Sie die ablehnende Haltung – die Geretteten aufzunehmen – der Bundesregierung ein?

Wir hatten in der Nacht von Sonntag auf Montag drei Bundestagsabgeordnete, einen Europaabgeordneten und eine Abgeordnete eines Provinzparlaments aus Nordspanien an Bord. Die sind extra mit einem Pilotboot zu uns gebracht worden. Etwa 40sm von Malta entfernt. Sie waren von 22 Uhr bis 02 Uhr morgens bei uns an Bord. Frau Luise Amtsberg von den Grünen, die auch Flüchtlingsbeauftragte ihrer Fraktion ist, Herr Manuel Sarrazin ebenfalls von Grünen und Herr Michel Brandt von den Linken. Von den Regierungsparteien war kein Abgeordneter dabei. Am Sonntagabend kamen sie zu uns an Bord, sie waren tief beeindruckt. Wir haben lange mit ihnen gesprochen, und sie haben auch Filmmaterial erstellt. Sie sind noch in der Nacht zurückgefahren und haben dann die ganze politische Kampagne, die dann in Berlin stark den Druck erhöht hat, in Gang gesetzt. Horst Seehofer hat bis zuletzt – das ist eine Sache die niemand verstehen kann – alles torpediert. Deutschland bzw. Merkel ist eingeknickt. Sie knickt ja seit Jahren vor allem ein. Und Horst Seehofer ist schlimmer als Orban, ist offensichtlich auch schlimmer als Salvini. Das ist kaum erträglich. Neben dem Besuch hatten wir mehrfach Kontakt mit dem Krisenreaktionsteam im AA, dieses ist 24 Stunden erreichbar. Die waren sehr freundlich, sehr aktiv, und die haben im Hintergrund sehr viel gemacht für uns, aber Horst Seehofer hat seinen Dickschädel durchgesetzt und hat verhindert, dass wir eine schnellere Lösung bekommen. Wir wussten, dass Malta uns nur dann hineinlässt, wenn sie verbindliche Zusagen haben, dass andere europäische Länder sämtliche Geretteten aufnehmen. Dazu gehört auch Deutschland, aber Deutschland hat das nicht gemacht. Das ist beschämend. In meinen Augen ist das maximal beschämend und ich schäme mich für die Bundesregierung.

Der Kapitän wurde meines Kenntnisstandes zum Verhör von den maltesischen Behörden mitgenommen? Wie erging es dem Rest der Crew?

Der Kapitän musste zur Befragung, er wurde aber nicht festgesetzt. Ich kann sagen, dass „Sea-Watch“ stark vertreten ist, und sie haben während unserer – ich will es mal Irrfahrt nennen – sehr viele Rechtsanwälte, sehr viele Aktivisten nach Malta gebracht. Es ist eine sehr professionelle Unterstützung. Zu Details darf ich nichts sagen.

Sie dürfen nicht? Gibt es dazu ein Verbot?

Ich hatte letztes Wochenende nochmal, weil ich von der Badischen Zeitung eine Interviewanfrage hatte, nachgefragt, wie „Mission Lifeline“ dazu steht. Sie waren unter großer Anspannung und haben mir gesagt, es gäbe ein Aussageverbot – also eine ganz klare Linie. Ich habe mir gesagt, die Dinge, die ich erlebt habe, kann ich als freier Bürger äußern, und das werde ich auch tun. Also die Dinge, die passiert sind, mit dem Schiff der „libyschen Küstenwache“ und die anderen Erlebnisse, darüber spreche ich, aber zu der aktuellen Situation äußere ich mich nicht.

Wissen Sie, was mit den Geretteten geschah, bzw. passieren wird? Bisher hatten verschiedene Staaten zugesagt, nur einen Teil der Menschen aufzunehmen.

Ich weiß es nicht. Wir haben uns darauf verlassen, dass das Disembarkment – also das an Land bringen – reibungslos mit den Behörden von Malta erfolgt. Es war auch so. Wir haben an einem geschützten, abgesperrten Hafenbereich festgemacht. Die Disziplin der Geretteten war enorm, die waren alle ganz ruhig, und das an Land bringen ging zügig. Zuerst wurden die Frauen mit Kleinkindern, die Frauen insgesamt und dann die Verletzten oder Kranken, für die waren mehrere Krankenwagen bereitgestellt, von Bord geholt. Die Malteser waren insgesamt gut vorbereitet.

ProAsyl bezeichnete den EU Gipfel am letzten Donnerstag als „Gipfel der Inhumanität“ und auch von „Ärzte ohne Grenzen“ wurde dieser scharf kritisiert? Was halten Sie vom vermeintlichen Asylkompromiss?

Ich schließe mich dieser Kritik vollkommen an. Es ist eine Katastrophe, es ist eine Verabschiedung aller Werte, die Europa eigentlich ausmachen sollte. Es ist ein Einknicken vor Salvini, Orban oder wie sie alle heißen. Deswegen müssen wir alle auf die Straße. Die europäische und deutsche Zivilgesellschaft muss auf die Straße.

Hat sich ihre persönliche Haltung gegenüber der Migrationspolitik der EU/Deutschlands nach dem Einsatz verändert?

Ja, meine Grundsätze, die ich immer schon hatte, haben sich bestärkt. Der Einsatz hat mich in meiner gesamten Haltung bestärkt. Ich unterscheide zwischen den verschiedenen Migrationsarten. So zum Beispiel sind Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien zu trennen von den afrikanischen Migranten. Der Krieg in Syrien ist hoffentlich irgendwann vorbei. Hingegen schätze ich die Migration aus Afrika so ein, dass dies erst der Anfang ist. Die Politiker meinen immer, das geht bald wieder vorüber wie schlechtes Wetter. Aber wir werden einen zunehmenden Migrationsdruck aus Afrika bekommen, aus vier verschiedenen Gründen. Als erstes wäre da die Bevölkerungsentwicklung zu nennen. Es leben heute schon eine Milliarde Menschen auf dem afrikanischen Kontinent. Wir rechnen in etwa 30 Jahren mit 1.4 Milliarden Menschen. Damit hätte Afrika den größten Bevölkerungsanteil der ganzen Welt. Der zweite Grund ist die Klimaveränderung, insbesondere die Ausbreitung der Sahelzone nach Süden und die damit verbundenen drastischen Folgen für die Landwirtschaft. Den dritten Faktor stellen die grausamen Bürgerkriege – wie zum Beispiel im Sudan oder in Somalia – dar. Davor verschließen wir unsere Augen. Wir hatten eine große Gruppe von Menschen aus dem Sudan an Bord, dort herrscht Krieg und es gibt Hungersnöte. Schließlich noch die massive Korruption vermeintlich stabiler afrikanischer Länder und die flächendecke Armut. Das alles sind Migrationsgründe. Vielleicht finden Sie noch andere, aber das sind die Wesentlichen. Der Migrationsdruck wird zunehmen, und was die EU anbietet, ist keine Lösung. Auch die 500 Millionen, die bereitgestellt werden sollen – vergleichen sie das mal mit den drei Milliarden Euro, die Herrn Erdogan in den Rachen geworfen werden – ohne, dass dort ein anständiges Monitoring stattfindet. Die für Afrika in Aussicht gestellten Summen sind lächerlich und kommen in der Regel gar nicht zu Stande, bleiben also nur Ankündigungen. Seit Jahrzehnten ist ein Versagen Europas in der Entwicklungspolitik zu erkennen, und ein Konzept für die Zukunft steht in den Sternen. Es gibt Menschen, die sich seit Jahrzenten mit Migration beschäftigen und mit den Ursachen, mit den Lösungsmöglichkeiten – die Politik sieht weg. Sie will jetzt akut irgendwas machen – das ist kein Konzept.

Wie schätzen Sie die Zukunft für Mission Lifeline ein? Der maltesische Regierungschef Muscat soll gesagt haben, dass das Schiff beschlagnahmt werden soll. Wird es weitere Einsätze geben können?

Es ist notwendig, dass alle NGO-Schiffe wieder auslaufen. Und ungehindert ihre Arbeit machen können, weil es da um die unmittelbare Rettung von Menschenleben geht. Ich habe einen Gedanken entwickelt, einen Vergleich – Vergleiche hinken zwar immer aber: Stellen sie sich mal vor, wir würden in Deutschland – um den Straßenverkehr zu behindern oder zum Erliegen zu bringen – in sämtlichen Fahrzeugen die Sicherheitsgurte entfernen, die Airbags stilllegen, jedem Auto die Geschwindigkeit von mindestens über 100Km/h aufdrücken, die Leitplanken und die Überholverbotsschilder entfernen und dann sagen: Kein Rettungswagen rückt mehr raus, um Unfallverletzte aufzunehmen, kein Krankenhaus darf Unfallverletzte behandeln. Das wäre vergleichbar mit dem, was von der EU gemacht wird. Es wird quasi die unabdingbare, die hochqualifizierte und die allein von diesen NGO-Schiffen sicher durchzuführende Rettungsarbeit lahmgelegt, und das ist vergleichbar mit der Analogie, die ich ihnen geschildert habe. Bei Autos denkt ja jeder, er sei ein Experte und verstehe alles. Der Plan der EU, mit einer nahe 100-prozentigen Todesrate das Geschäft der Schlepper lahm zu legen, ist purer Zynismus!

Aber nochmal zur Beschlagnahme des Schiffes, da haben Sie jetzt keine Infos oder wollen/dürfen nichts zu sagen?

Das unterliegt der Informationssperre.

Werden Sie weiterhin ein Teil davon sein, wenn es zu weiteren Einsätzen kommt?

Ja, ich habe der Organisation gesagt, dass ich jederzeit dazu bereit bin. Und das obwohl es ein Einsatz war, dessen Dimension ich mir vorher nicht vorstellen konnte und die Belastung, der wir ausgesetzt waren, unvorstellbar hoch war. Das man sowas aushalten kann! Ich bin auch noch nicht im „normalen“ Leben angekommen. Wenn man versucht, den Schalter jetzt auf Null zu stellen – das geht nicht. Ich stehe noch massiv unter Adrenalin. Es muss ein Zukunftskonzept geben, die Arbeit muss weiter gehen. Die Flüchtlinge ertrinken vor der Küste Libyens. Ich will ihnen noch eine ganz persönliche Sache erzählen: Ich habe ein sechs Monate altes Baby gefüttert, ich habe es an meiner Brust in den Schlaf gewiegt. Ich habe eine Melodie gesummt, ich habe mich dabei an meine eigenen Kinder und meine Enkel erinnert und kam dabei ganz runter, ganz tief runter, und ich wusste, dass dieses Kind nicht mehr leben würde, wenn wir nicht da gewesen wären. Denken Sie immer daran, wir müssen hier in Deutschland weiterarbeiten, wir müssen die Arbeit der NGOs, Leben zu retten, unterstützen. Es müssen mehr werden, es müssen mehr Schiffe werden – und die aktuelle Politik ist eine Katastrophe!

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Florian Sachse

ist Zeithistoriker und freier Journalist. Lebt und arbeitet in Berlin

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