Der Baum der Wünsche

Die innere Wahrheit In seinem neuen Roman "Der Granatapfelbaum" erzählt Yasar Kemal von der Mechanisierung der Landwirtschaft in der Türkei

Fünf Männer ziehen aus ihrem hungernden Dorf im Taurus-Gebirge hinunter in die Çukurova, der südanatolischen Tiefebene, wo sich der Ceyhan bis ins Mittelmeer schlängelt und das Land fruchtbar ist. Dort soll es Arbeit geben, aber die Sümpfe, die sich rechts und links neben dem Fluss gebildet haben, sind noch nicht trockengelegt. "Ihr geht in den Tod, geht ins Siechtum, geht in die Fiebersümpfe zu elendem Fraß!", sagt Yusuf, der es wissen muss, denn ihn, der schon unten war, hat die Malaria bereits erwischt. Und doch läuft er den Männern hinterher, als diese sich nicht von ihm abhalten lassen und eines Morgens aufbrechen. Armut und Elend sind so groß, dass die Hoffnung, Arbeit zu finden, stärker ist als die Angst vor dem Tod.

Yasar Kemals Erzählung Der Granatapfelbaum erinnert an das Märchen von den Bremer Stadtmusikanten. Als die Tiere auf ihrem Weg nach Bremen den Hahn treffen, der am Abend geschlachtet werden soll, sagt der Esel: "Etwas besseres als den Tod findest du überall". Ein Spruch, der wohl das Gefühl aller trifft, die ihr Glück in der Fremde suchen, weil sie zu Hause nicht mehr leben können. Aber Hösük, einer der fünf Männer, ist noch verzweifelter: "Tod sein ist besser als arm sein", sagt er zu Yusuf, als der ihn vor den Gefahren der Çukurova warnt. Gleichzeitig erinnert Der Granatapfelbaum aber auch an biblischen Geschichten, denn die Çukurova, das ist das verheißene Land, dort, wo Milch und Honig fließen, wo die Schwester von Memed Herrin über einen Gutshof ist und ihnen Arbeit geben kann. Damit ihre Frauen und Kinder im Winter nicht hungern müssen.

Doch es kommt ganz anders. Das verheißene Land hat sich verändert und die Großgrundbesitzer haben keine Arbeit mehr. Selbst die Schwester Memeds tut so, als kenne sie ihn nicht und lässt ihm einen Laib Brot geben, damit er wieder geht. Sie erfahren von dem "Blonden", den sie noch nicht entlassen hat, dass sie von "unerfüllter, schwarzer Liebe" befallen ist. Sie hat sich in die neuen Motorfahrzeuge verliebt, die der Marshallplan nach dem Zweiten Weltkrieg in die Çukurova gebracht hat. "Jeden Morgen, sowie sie aufsteht, nimmt sie einen Eimer Wasser und ein Stück Seife in die Hand, geht zu den Fahrzeugen, wäscht die Räder, putzt die Motoren, gerät bei jedem Körnchen Staub, bei jedem Spritzer Schlamm außer sich." Da hilft auch keine Maschinenstürmerei, dass einer eines Nachts den Motorblock eines Massey-Ferguson ausbaut und an der tiefsten Stelle des Ceyhan versenkt.

Die fünf müssen weiterziehen. Die Verzweiflung steigt von Tag zu Tag. Immer wieder treffen sie auf kleine Trupps von Tagelöhnern, die wie sie hungern und keine Arbeit finden. Traktoren und Mähdrescher übernehmen jetzt all das, wozu früher Hunderte von Arbeitskräften nötig waren. Und Yusuf wird immer schwächer. Ein Fieberanfall löst den anderen ab; am Ende müssen sie ihn tragen. In einem Dorf, durch das sie kommen, gibt ihnen eine Frau Chinintabletten und erzählt von einem Granatapfelbaum, der auf einem Hügel steht. Zu diesem Baum seien sie immer gegangen, wenn nichts mehr half. Denn dort sollen alle Wünsche in Erfüllung gehen.

Erzählerisch ist Der Granatapfelbaum von denkbarer Einfachheit. Eine Geschichte, die vor einem konkreten Hintergrund - der Mechanisierung der Landwirtschaft in der Türkei nach dem Zweiten Weltkrieg - von allgemeinmenschlichen Problemen handelt. Trotzdem fesselt sie den Leser von der ersten bis zur letzten Zeile. Ein Autor aus dem Westen würde sich sicherlich kaum für die Probleme interessieren, die Kemal beschreibt; existentielle Sorgen haben hier in den letzten hundert Jahren andere Formen angenommen. Der Einzelne würde viel isolierter vom Anderen erscheinen als in der Geschichte Kemals, in der einer gar nicht ohne den anderen existieren kann. Themen wie Freundschaft und Liebe sind hier immer konkret an Handlungen und die Beziehung zu den Anderen gebunden und kein innerweltliches Geschehen im Individuum. Eigenartigerweise wirken Kemals Figuren trotz des Fehlens innerer Psychologie in ihrer Auseinandersetzung mit den katastrophalen Lebensumständen individueller als viele Helden westlicher Romane. Nicht selten entpuppt sich hier Individualität als Ideologie, hinter der sich in Wahrheit mehr Konformität und Passivität verbirgt als in der von Zwängen geprägten traditionellen Gesellschaft, wie sie Kemal beschreibt.

Vielleicht ist dies auch ein Grund, weshalb Yasar Kemals Bücher im Westen ein breites Publikum finden. Bekanntlich suchen hier ja viele die Unfreiheit in Extremsituationen, um dann in deren Überwindung das Glücksgefühl der Befreiung zu spüren. Außerdem rühren die extremen Verhältnisse, die Kemal beschreibt, an unbewusste Ängste und Wünsche, die in jeder Kindheit real, in den Industrieländern - wo äußere Gewalt weitgehend kein Alltagsphänomen mehr ist - später ins Unbewusste verdrängt werden. Ihm käme es darauf an, hat er einmal gesagt, die innere Wahrheit des Menschen zu erfassen. In Der Granatapfelbaum erzählt Kemal von dieser Wahrheit, und zwar so, dass sie über das historisch-gesellschaftliche Umfeld hinaus verständlich bleibt. Seine Kindheit und die Çukurova, in der er in einem Dorf von gerade sesshaft gewordenen Nomaden aufgewachsen ist, bleiben dabei immer der Ursprung seines Erzählens. Aber die Wirkung seiner Literatur entfaltet Kemal erst mit der kunstvollen Verwandlung dieses Ursprungs. "Die reale Çukurova interessiert mich, doch die imaginäre Çukurova, die ich erschaffen habe, interessiert mich mehr".

Als Ali der Barde Abends zum Klang seiner Saz zu singen beginnt, hören ihm alle gebannt zu und vergessen die aussichtslose Lage, in der sie sich befinden. Die Kunst seines Vortrags gibt ihnen die Kraft, weiter nach Arbeit und nach dem märchenhaften Granatapfelbaum zu suchen. Am Ende bleibt Kemals Erzählung kein Märchen, keine "Sage von dem Besiegen der mythischen Mächte", wie Walter Benjamin den Kern des Märchens beschrieb, sondern endet offen und damit ganz gegenwartsbezogen. Kemal hat es nie verschmäht, auch in seiner Literatur Stellung zu beziehen. Allerdings überzeugt dieses Engagement auch deshalb, weil sich der Autor niemals zu einfachen Lösungen hinreißen ließ. Sein wichtigstes Anliegen war immer die Freiheit des Menschen. Die, allerdings, beginnt bei der Überwindung von Armut und Elend.

Yasar Kemal: Der Granatapfelbaum. Roman. Aus dem Türkischen von Cornelius Bischoff. Unionsverlag, Zürich 2002, 123 S., 14,80 EUR

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