Die Andere im Mann

Moderne Der Schriftsteller Blaise Cendrars stand fest auf der Seite der Außenseiter und Abenteurer. Nun wird sein rasanter Roman „Gold“ neu aufgelegt

Die Literatur“, schrieb der Dichter und Schriftsteller Blaise Cendrars, „ist Teil des Lebens. Sie ist nicht etwas von ihm ‚Getrenntes‘. Ich schreibe nicht, weil es mein Beruf ist. Leben ist kein Beruf.“

Das Bekenntnis des Wahlfranzosen, der 1887 im Westschweizer La Chaux-de-Fonds geboren wurde und 1961 in Paris starb, würde heute, in Zeiten der Berufsausbildung von Schriftstellern, von Creative-Writing-Kursen und Literaturinstituten, wohl kaum jemand machen. Wie aus einer anderen Zeit wirkt auch die Zigarette, die auf jedem zweiten Foto in Cendrars Mundwinkel hängt. Man fühlt sich an Jean-Luc Godards Au bout de Soufle von 1960 erinnert: Am Ende taumelt Jean-Paul Belmondo als Michel angeschossen eine Straße entlang, die Zigarette als letztes Zeichen seiner Souveränität im Mundwinkel. Selbst als er stürzt, verliert er sie nicht, und sein letzter Atemzug ist ein Zug aus dem Glimmstängel. Bei Godard war das ironisch gebrochen, bei Cendrars lässt sich heute kaum feststellen, was Inszenierung und was authentischer Ausdruck war. Vielleicht war es ganz banal: Die Zigarette an den Lippen hielt ihm den linken Arm frei; den rechten hatte Cendrars im Ersten Weltkrieg verloren.

Und doch: Die draufgängerische Haltung, die die Fotos vermitteln, entspricht durchaus der Literatur des im deutschsprachigen Raum wenig bekannten Autors. Sie passt auch zu dem Pseudonym, das sich Frédéric-Louis Sauser, wie Cendrars eigentlich hieß, 1912 zulegte. „Braise“ bedeutet auf Französisch „Glut“ und „cendre“ „Asche“. Wie ein Phönix aus der Asche wollte Cendrars sich stets neu erfinden. Zweimal das gleiche Buch zu schreiben, kam nicht in Frage. Es galt, immer wieder literarisches Neuland zu betreten. So war es auch bei seiner Funktion als Herausgeber einer Sammlung von Texten afrikanischer Literatur, der sogenannten Négritude, deren erster Band in den dreißiger Jahren erschien: Cendrars war einer der Ersten, die diese Literatur für den Westen entdeckten.

Der aufgedrückte Stempel

Als Emphatiker des Lebens gehörte seine Sympathie all denen, die das Leben als Aufforderung zu Freiheit und Abenteuer verstanden. Im Zweifelsfall galt sie auch jenen, die mit dem Gesetz in Konflikt gerieten. Wobei ihm die Verklärung von Gangstern und Ganoven fremd war: Er schrieb, dass „die wüstesten Ausschweifungen und die Unbotmäßigkeiten der Aufwiegler, der Anarchisten, der Zigeuner, der Apachen, der Diebe und der Mörder, kurz, der so genannten Befreiten, geradezu konformistische Sitten und Bräuche sind“. Zu lesen ist das in Abhauen, einem Buch, in dem Cendrars rückblickend das Gefühl seiner Jugend einzufangen versucht.

1905, im Alter von 17 Jahren, hatte er Familie und Heimat den Rücken gekehrt und war nach St. Petersburg gegangen, um dort als Bijouterie-Lehrling zu arbeiten. Er wollte weg aus der in der Tradition erstarrten Schweiz, „wo Berge sich erheben / Wie Bretter vor dem Kopf.“ Bereits vor dem ersten Weltkrieg reiste er nach New York, drei Mal war er für längere Zeit in Brasilien. Seine Reisebeschreibungen füllen einen dicken Band; trotzdem ist er nicht der Abenteuerschriftsteller, für den ihn viele halten. Der Stempel wurde Cendrars 1925, nach dem Erscheinen von Gold, aufgedrückt und lenkt davon ab, dass das eigentliche Abenteuer für ihn die Literatur war.

Gold ist ein schmaler, rasant geschriebener Roman, den der Schweizer Verlag Nagel Kimche jetzt neu in seiner Kollektion herausgebracht hat und die Popularität dieses spannenden und lesenswerten Autors hoffentlich ein bisschen erhöht. Der Held des Buches heißt Johann August Suter und sein Schicksal ist in die Geschichtsbücher der USA eingegangen. Von Gläubigern und der Polizei gejagt, musste Suter 1834 Hals über Kopf seine Schweizer Heimat verlassen. Über New York, den Mittleren Westen, Hawaii und Alaska führte ihn sein Weg bis in die Nähe des heutigen San Francisco. Kalifornien gehörte damals noch zu Mexiko und war dünn besiedelt. Suter baute innerhalb weniger Jahre mithilfe von Sklaven und Arbeitern eine florierende Landwirtschaft auf, ließ Mühlen und Sägewerke errichten und sicherte sich die Sympathien des mexikanischen Gouverneurs Alvarado, indem er die Indianer vertrieb und ihre Angriffe aus dem Norden mit seiner Privatarmee abwehrte. Alvarado schenkte Suter am Ende um San Francisco herum 800 Quadratkilometer Land und machte ihn damit zu einem der reichsten Männer der Neuen Welt. Bis, ja, bis einer seiner Angestellten im Januar 1848 beim Bau einer Sägemühle in der Nähe von Coloma ein Stück Gold fand.

Suter versuchte, den Fund geheim zu halten, aber bald ließen seine Arbeiter alles stehen und liegen und versuchten ihr Glück in den Bergen. Gleichzeitig verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer. Von überall her kamen die Abenteurer nach Kalifornien, verwüsteten auf ihrer Suche nach Gold Suters Land und ließen sich darauf nieder. Suter versuchte gerichtlich dagegen vorzugehen, aber staatliche Strukturen, die seine Ansprüche hätten durchsetzen können, existierten noch nicht. Am Ende verlor er alles und starb verarmt 1880 in Washington.

Klischiertes Frauenbild

Mit seinen kurzen Absätzen und erzählerisch harten Schnitten war Gold ästhetisch auf der Höhe der Zeit. Cendrars übernahm diese Schreibweise vom Film, der ihn bereits früh fasziniert hatte. 1920 war er Regieassisten von Abel Gance bei den Dreharbeiten zu La Roue gewesen; 1921 drehte er in Italien einen eigenen Film, La Venus noir, der jedoch von den italienischen Faschisten beschlagnahmt und zerstört wurde.

Den Erfolg von Gold konnte Cendrars nie wiederholen. Dabei lassen sich auch seine Reiseerzählungen und die späten autobiografischen Romane sehr gut lesen. In Die rote Lilie beschreibt er zum Beispiel seine Zeit als Soldat in den Gräben des ersten Weltkriegs. Auch hier klingt das Abenteuer durch, wähnt sich der Leser manchmal als Zuhörer am Lagerfeuer; aber letztlich laufen die Geschichten immer auf das Sinnlose des Krieges hinaus, auf die Schikanen, die Langeweile und den Tod.

Ein Wermutstropfen in Cendrars Erzählungen sind die von Klischees und Männerfantasien geprägten Frauendarstellungen. Man wünscht sich bisweilen, er hätte nur über Männer geschrieben. Die Literaturwissenschaftlerin Maria Teresa De Freitas sieht die Wurzeln seines Frauenbildes vor allem in der schweigenden, abwesenden Mutter des Autors. In der Liebe schwankte er zwischen dem „Hang zum Dämon und Drang zum Engel“ und suchte „durch sein ganzes Leben und Werk hindurch ... vergeblich nach einer unmöglichen Synthese“. Zugleich hat Cendrars immer wieder den weiblichen Charakter von Literatur betont. „Heißt nicht die einzig wahre, große Liebe Cendrars‘“, schreibt de Freiras, „die einzige ‚Frau‘, die für ihn wirklich gezählt hat – ,Schreiben‘?“

Cendrars hatte einmal gegen Rimbauds „Ich ist ein Anderer“ mit Gérard de Nerval gesagt: „Ich bin der Andere.“ Der Andere, der nicht aufhört zu schreiben (im Gegensatz zu Rimbaud, der in Afrika Waffenhändler wurde), sondern immer wieder neu beginnt. Vielleicht hieß das aber auch: „Ich bin die Andere.“ Die Andere im Mann. Cendrars gelungene Männerdarstellungen, die viel Weibliches enthalten, und seine Faszination für Androgynität würden das zumindest bestätigen.


GoldBlaise Cendrars Nagel & Kimche, 152 S., 18,90 (Das Gesamtwerk auf Deutsch ist im Schweizer Lenos Verlag erschienen)

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