Im August 1991 besucht der in Bosnien geborene Simon Michailovic seine Heimatstadt Foca. Es ist das erste Mal seit 25 Jahren, dass er die Stadt seiner Kindheit und Jugend wieder sieht. In den sechziger Jahren war er zum Medizinstudium nach Berlin gegangen, hatte dort seine Frau kennen gelernt, eine Arbeit an einem Krankenhaus gefunden und war Vater geworden. Die Angst, zum Militärdienst eingezogen zu werden, hielt ihn davon ab, die alte Heimat zu besuchen. Jetzt, 1991, scheint eine Reise möglich: Er ist Mitte 40 und die jugoslawische Armee löst sich gerade auf.
Von heute aus gesehen stand die Reise des Helden aus Dzevad Karahasans Roman Der nächtliche Rat von vornherein unter keinem guten Stern. Es beginnt mit dem Haus der Eltern, das seit ihrem Tod leer steht und auf das die muslimischen Nachbarn aufgepasst haben. Beim ersten Rundgang stellt Simon fest, das sich die Kellertür selbst mit Gewalt nicht öffnen lässt. Außerdem gibt das Haus nachts eigenartige Geräusche von sich.
Danach überschlagen sich die Ereignisse: Am nächsten Morgen wird eine von Simons muslimischen Klassenkameradinnen vergewaltigt und ermordet aufgefunden. Dann wird er zum Polizeichef der Stadt gerufen. Überrascht stellt er fest, dass es sich um den ehemaligen Sportlehrer seiner Schule handelt, der wie Simon serbische Vorfahren hat. Er verdächtig ihn, den Mord begangen zu haben. Schließlich sei es doch eigenartig, dass Simon nach 25 Jahren Abwesenheit gerade an dem Tag zurückkehrt, an dem der Mord begangen wurde. Er nimmt ihm Pass und Autoschlüssel ab, macht ihm aber gleichzeitig das Angebot, bei den nationalistischen Serben mitzumachen. Simon sitzt in der Falle. Und das Knarren der Dielen, die unerklärlichen Geräusche im Elternhaus, gehen weiter.
Eines Nachts steht Enver, sein bester Freund aus der Schulzeit im Raum. Beide beginnen ein Gespräch über das, was in den letzten 25 Jahren geschehen ist. Während Simon in den Westen gegangen war, hatte Enver die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen und im Osten den Sufismus, die islamische Mystik, studiert. Simon wundert sich, dass Enver immer genau die Fragen stellt, die Simon Anlass geben, das zu erzählen, was ihm wichtig ist. Nur eine Sache liegt Enver selbst auf dem Herzen, er kommt immer wieder darauf zurück: Dass er nicht versteht, weshalb Judas Jesus verraten musste, wo doch alles von Anfang an festgelegt gewesen sei. Das Leiden Christi, das würde er ja verstehen, aber weshalb dazu noch jemanden zum Verräter machen, einen Unglücklichen, der dafür ewig büßen muss?
Karahasan verdichtet in Motiven und Figuren seines Romans Anspielungen auf Literatur und Religion. Er weist auf die Gemeinsamkeiten der religiösen und kulturellen Ursprünge der Bosnier hin, die sich als das Verbindende und nicht, wie die Nationalisten meinen, als das Trennende herausstellen. Der spannend zu lesende Roman vermischt dabei kunstvoll Traum und Wirklichkeit, Bewusstes und Unbewusstes und macht damit die Wirkung des Irrationalen auf vermeintlich rationale Entscheidungen deutlich. Dabei geht es dem Autor weniger um die Täter, als vielmehr um die Opfer und Unbeteiligten von Krieg und Gewalt im ehemaligen Jugoslawien. Enver, der selbst ermordet wurde und nur als Traumgestalt Simons erscheint, tritt dabei als Anwalt der Opfer auf, letztlich aber ist er das Alter Ego Simons und stellt für ihn die Frage nach dem Umgang mit der gewaltsamen Vergangenheit.
Dann lässt sich die Kellertür plötzlich wieder öffnen. Dahinter befindet sich der Eingang zur Unterwelt, zu einer Vorhölle, allerdings nicht einer, in der die Sünder, die Täter, auf ihre Verurteilung warten, sondern die unschuldigen Opfer der bosnischen Geschichte. Ein Eingang, der an das Tor zum Fegefeuer im 9. Gesang von Dantes Göttlicher Komödie erinnert. Wie Dante unternimmt Simon seine Unterweltfahrt als Seelenreise, im Traum. Wobei der Klassiker der abendländischen Literatur den Aufstieg von der Hölle durch das Fegefeuer bis ins Paradies wiederum Mohammeds koranischer Nachtfahrt nachempfunden hat, die über das anonym erschiene Buch von der Himmelsreise, das Dante vorlag, erstmals in die europäische Literatur übernommen wurde.
In Der nächtliche Rat fordert Enver von Simon die Erlösung der Seelen der Opfer. Dazu soll er sie auf die gleiche bestialische Weise noch einmal umbringen. Simon ist entsetzt und lehnt das Anliegen Envers auch dann noch ab, als er erfährt, was damit gemeint ist: "Kannst Du leben, nachdem du sie gesehen hast? Ich fürchte nur dann, wenn du sie vergißt. Aber die einzige Art, sie zu vergessen, ist, daß du sie noch einmal umbringst." Das sei ganz einfach, nur ein kurzer Moment in Gedanken, virtuell sozusagen, weil es sich ja nur um Seelen handelt.
Doch Simon weigert sich auch deshalb, weil die Seelen danach nicht endgültig zur Ruhe kommen. Beim nächsten Massaker gelangen sie erneut in die Zwischenwelt und müssen wieder erlöst werden. Das Vergessen ist nur ein Verdrängen und das Verdrängen führt nur zur Wiederkehr des Verdrängten. Aber so wie Simon in Foca in der Falle sitzt, muss er sich dieser Vergangenheit stellen. Zu welchem Preis ihm das am Ende gelingt, lässt das Buch offen.
Das reale Foca, das vor dem Krieg etwa zur Hälfte von Muslimen bewohnt war, gibt es übrigens nicht mehr. Die Serben, die den Ort heute bewohnen, haben es in Srbinje, "Stadt der Serben", umbenannt. Aber es gibt die Erinnerung an die Opfer. Im "Urteil von Foca" sind 2001 vom internationalen Gerichtshof in Den Haag zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit Männer, die während eines Krieges systematisch Frauen vergewaltigt haben, unter dem Vorwurf des Verbrechens gegen die Menschlichkeit zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden. Sie hatten in der Partizan-Sporthalle in Foca muslimische Frauen und Mädchen wochenlang festgehalten und vergewaltigt. Ein darunter befindliches 12-jähriges Mädchen ist nie wieder aufgetaucht.
Dzevad Karahasan: Der nächtliche Rat. Aus dem Bosnischen von Katharina Wolf-Grießhaber. Insel, Frankfurt am Main 2006, 332 S., 19,80 EUR
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