Der Winter singt und hört sich zu, / Der zottige Wald summt sich zur Ruh / Mit hundertfachem Laut. / Tieftraurig hin am Himmelsrand / Ziehn in ein unbekanntes Land / Die Wolken fort, ergraut. Ein Gedichtanfang, wie er bei Westwind durchaus zu Deutschland passen würde und das nicht nur wegen des frühen Wintereinbruchs im letzten Dezember, sondern weil die russische Heimat des Dichters dieser Zeilen, Sergej Jessenin, auch nach der Wende für die meisten "ein unbekanntes Land" geblieben ist.
In der Reihe Rowohlt-Reihe Paare hat die Publizistin Carola Stern ein kleines und lesenswertes Buch über die Ost-West-Liebesgeschichte des Dichters mit der Amerikanerin Isadora Duncan geschrieben. Jessenin hatte die berühmte Tänzerin, die um die Jahrhundertwende mit ihrem individuellen Ausdruckstanz die Bühnen der Welt revolutionierte, 1921 in Moskau kennen gelernt. "Sie tauchte die Hand in seine Locken und sagte: Goldener Kopf!", beschreibt ein Freund Jessenins, Anatoli Marienhof, die Szene. "Es überraschte, dass sie, die keine zwölf russische Wörter kannte, diese zwei wusste. Dann küsste sie ihn auf die Lippen. Und wieder formte ihr Mund, der klein und rot war wie die Einschusswunde von einer Pistolenkugel, gebrochene russische Laute: "Engel!" Sie küsste ihn wieder und sagte: "Teufel!""
Die verbale Verständigung zwischen den beiden, die schnell ein Liebespaar werden, bleibt bis zum Ende auf ein russisches Kauderwelsch beschränkt, das sich Isadora Duncan aneignet. Vielleicht ist dies einer der Gründe, weshalb die Liebe über allen Streit und alle Zerwürfnisse hält. Denn die Sprachlosigkeit des anderen aus der anderen Welt ist zwar Anlass für zahllose Missverständnisse und Eifersuchtsausbrüche, aber wohl auch Grundlage dafür, dass sich Duncan und Jessenin immer wieder ineinander verlieben und versöhnen. Verliebtsein, konstatiert der große Entzauberer Sigmund Freud, sei ein narzisstisches Gefühl, das eigene Wünsche auf den zunächst unbekannten Anderen projiziert. Und das funktioniert in gewisser Weise umso besser, je geheimnisvoller der Andere ist und bleibt.
Jessenin entsprach in vielem dem westlichen Klischee vom Russen, der gerne mal ein Hotelzimmer zerlegt, gleichzeitig aber wunderbare Gedichte schreibt. Oleg Jurjew, ein seit 1991 in Frankfurt lebender, aus Russland stammender Autor, konzentriert sich auf einen weiteren Aspekt des Russenklischees hierzulande. "Mich interessiert nur Sex, und auch der nicht richtig", erklärt gleich auf der ersten Seite der Ich-Erzähler in seinem Buch Spaziergänge unter dem Hohlmond. Am Ende der Lektüre wird dann zweifelsfrei deutlich, dass er sich wirklich nur für Sex interessiert und das auch nicht richtig, denn sonst würde er nicht so viel darüber reden. Der Zerfall der Sowjetunion, die Unmöglichkeit von Veränderungen und ein gewisses Maß an Elend und Langeweile bilden in Jurjews "kaleidoskopischem Roman" den Hintergrund für dieses exzessive Interesse der männlichen Figuren. Hieße der Erzähler nicht auch noch Oleg wie der Autor, könnte von Rollenprosa gesprochen werden und an ein Buch wie Die Reise nach Petuschki von Wenedikt Jerofejew gedacht werden - ein Buch, das aus einem einzigen Besäufnis besteht und in seiner grotesken Übertreibung überzeugt. Doch die zahllosen Metaphern und Vergleiche, mit denen Jurjew seine Erzählung garniert, stellen mit ihrem poetischen Anspruch die Ironie der einzelnen Geschichten in Frage. Letztlich geht es dem Autor bei der Beschreibung der sowjetischen Endzeit mehr um die Schönheit des Morbiden nach dem Motto, eigentlich war es doch ganz schön - nur, wie vielen Russen ist es ebenso ergangen?
Ein gleichfalls in Deutschland gestrandeter Russe, Maxim Gorski, hat den Versuch unternommen, seinen Landsleuten Deutschland und die Deutschen zu erklären. In der Piper-Reihe mit Gebrauchsanweisungen, in der das berühmte Buch Gebrauchsanweisung für Amerika von Paul Watzlawick erschienen ist, hat er eine Bedienungsanleitung für Deutschland und die Deutschen geschrieben. Während allerdings Watzlawick, der österreichisch-jüdische Emigrant in den USA, auf Deutsch für Deutsche das US-amerikanische Leben zu erklären versucht, schreibt Gorski auf Deutsch und nicht auf Russisch. Und in der Tat ist die Zielgruppe des Buches wohl vor allem in den Deutschen selbst zu sehen, die einmal etwas von einem gebürtigem Russen über sich erfahren wollen. Gorskis Buch entspricht diesem Anspruch und ist mit viel Sinn für Humor und detaillierter Beobachtung für die Eigenheiten der örtlichen Spezies geschrieben. Es fängt mit "Immer im Weg, immer auf dem Weg" an und hört mit dem Kapitel "Von Lach- und Schließmuskeln: Der deutsche Humor" auf. Dass dabei Einiges übertrieben wird, Anderes - wie die fast religiöse Bindung an die katastrophale NS-Vergangenheit - dem russischen Blick entgeht, tut der Qualität des Buches keinen Abbruch.
Gebrauchsanweisung für Deutschland ist ein Buch, dass die Differenz zwischen Deutschland und Russland akzentuiert. Dagegen kann der Roman Die Welt hinter Dukla des Polen Andrzej Stasiuk als ein Beispiel für das Verbindende zwischen den Kulturen gesehen werden. Viele Rezensenten haben das Buch bei Erscheinen als ein Werk über die kleinstädtische galizische Provinz interpretiert. Genauso gut könnte es jedoch als ein romantisches Buch über die Adoleszenz bezeichnet werden, über die Jugend des Erzählers, aber eben gleichzeitig auch über das Erwachsenwerden im Allgemeinen. Denn Dukla, jener mythische Ort, den der dorthin immer wieder zurückkehrende Erzähler mit Hilfe der Erinnerung in kleinen Geschichten und Beobachtungen umkreist und zu fassen versucht, hat wahrscheinlich so niemals existiert. Auch wenn der kleine Ort auf der Landkarte von Polen verzeichnet ist, besteht er für den Erzähler aus der Erinnerung an Ort und Zeit der Jugend, an die erste Liebe, an Gerüche und Gefühle, die jedoch vergangen sind und niemals greifbar werden. Deshalb scheitert auch die Suche danach, was Dukla wirklich ausmacht. Indem Stasiuk dies beschreibt, schafft er auf beeindruckende Weise etwas Neues, etwas, das universell ist und Ost und West verbindet.
Carola Stern: Isadora Duncan / Sergej Jessenin. Rowohlt Taschenbuch 2002, 172 S., 7,90 EUR
Oleg Jurjew: Spaziergänge unter dem Hohlmond. Aus dem Russischen von Birgit Veit. edition suhrkamp 2002, 132 S., 8,50 EUR
Maxim Gorski: Gebrauchsanweisung für Deutschland. Piper 2002, 173 S., 12,90 E
Andrezj Stasiuk: Die Welt hinter Dukla. Aus dem Polnischen von Olaf Kühl. suhrkamp taschenbuch 2002, 175 S., 8,- EUR
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.