Erinnerung ist Beschwörung

TASCHENBÜCHER Was landläufig als Erinnerung gilt, mag zwar durchaus Vergnügen bereiten, macht aber manchmal unweigerlich einsam und beschwört zudem die Einsamkeit ...

Was landläufig als Erinnerung gilt, mag zwar durchaus Vergnügen bereiten, macht aber manchmal unweigerlich einsam und beschwört zudem die Einsamkeit vergangener Zeiten herauf. Wie dem auch sei, ich leide darunter, daß ich einfach nicht vergessen kann. So sind die Erzählungen in dieser Sammlung entstanden.« 1881 geboren, meinte Lu Xun vor allem die Erinnerung an die Rückständigkeit und die immer wieder enttäuschten Hoffnungen auf Veränderungen im halb kolonialisierten China der Jahrhundertwende. Die Geschichten, die er erzählt, handeln von Menschen, die zu überleben versuchen. Es sind Geschichten vom verzweifelten Glauben der Armen, Tuberkulose mit einem in Menschenblut getunkten Dampfbrötchen heilen zu können. Von Herrn Jedermann beispielsweise, einem Mann, mit dem niemand verwandt sein will, aus Angst, es könne deutlich werden, daß er in einem selbst tief drin steckt; dessen Fatalismus soweit geht, daß er seine eigene Erschießung hinnimmt: »In dieser Welt, so schien ihm, war es eben nicht zu vermeiden, auch einmal hingerichtet zu werden.« Und so sind es nicht nur die Verhältnisse, die die Zeitgenossen Lu Xuns in Elend und Unkenntnis halten. Ein Stück weit sind sie an ihrer Situation selber Schuld. Seine Erzählungen wirken deshalb nie moralisierend. Wären es nur die Verhältnisse gewesen, vielleicht hätte Lu Xun auch weniger unter seinen Erinnerungen gelitten. Und seine Erzählungen, die durch ihre Schlichtheit faszinieren, wären nicht so grotesk und andere wiederum nicht so melancholisch geworden.

Auch Eine Geschichte mit blassen Augen von Kirsty Gunn durchzieht eine tiefen Melancholie. Doch eine Melancholie, die ganz andere Ursachen hat als die Lu Xuns. In dem Roman der neuseeländischen Autorin erinnert sich die Erzählerin an ihre Mutter, die sich als Alleinerziehende um sie kümmern mußte. Ihr Mann, den sie abgöttisch liebte, hatte sie verlassen. Eine Mutter allerdings, die schon bald nicht mehr ihre Aufgabe bewältigen kann, sondern im Gegenteil auf die Hilfe des Kindes angewiesen ist. Der Drogensucht, der sie verfällt, ist das Mädchen schonungslos ausgeliefert; das einzige, was sie schützt, ist das kindliche Vokabular, das den Dealer zum Doktor macht. Erinnerung ist Beschwörung, meint Ruth Klüger. In gewisser Weise bestätigt Kirsty Gunn diese Aussage. Auch die Erinnerung ihrer Erzählerin ist ein Umkreisen von Menschen, von Situationen, über die sie oft wenig weiß. Und so ist denn vieles von dem, was sie schildert, weniger Erinnerung als Phantasie. Es ist der Versuch, etwas zu erklären von dem Elend, das ihr Leben bestimmt hat, von der Wiederholung des Schicksals der Mutter in ihr selbst. Dabei ist die Erinnerung auch nicht der Schmerz, den das Erzählen lindern soll, wie bei Lu Xun, sondern ein Mittel, die eigene Identität herzustellen, sich selbst zu vergewissern. »Ein Leben nimmt Gestalt an durch Wörter, die aufeinander folgen, sich zu Sätzen verbinden, die sich drehen und wenden und mir von der Seite entgegenblicken.« Der Preis den die Erzählerin - und damit auch die Autorin - für diese Art des erinnernden Erzählens bezahlt, ist der der Ästhetisierung. Wie dem Kind der Dealer zum Doktor wird, der mit seiner Spritze nur die Medizin in die Venen der Mutter spritzt und nicht das Heroin, so wird ein ganzes Leben zum Text, in dem all die Häßlichkeit, die Abhängigkeit und die Gewalt aufgelöst wird. Ein Text, der wie ein Sog den Leser in sich hineinzieht, der das Elend nicht nur erträglich, sondern gleichzeitig konsumierbar macht.

Während für Kirsty Gunn Erinnerung wie das Eintauchen in ein Meer ist, ein sich treiben lassen, für Lu Xun die Qual, die ihn zum Erzählen drängt, so ist sie für den in der Schweiz lebenden lybischen Autor Ibrahim al-Koni der Rat der Tradition, den es zu befolgen gilt. Sein Held, ein junger Mann aus der libyschen Wüste, gelangt in den Besitz eines wunderschönen Kamels, dem nach und nach seine ganze Leidenschaft gilt. Für dieses ist er bereit, alles zu opfern, zuletzt auch seine Frau und sein Leben. Dem Seßhaften ist das Kamel ein lächerliches Tier. Al-Koni aber gelingt es, den Leser in den Bann seiner Geschichte zu ziehen. Dabei läßt er erzählerisch alles links liegen, was nicht der Leidenschaft und dem Kampf seines Helden Ausdruck verleihen könnte. Die gnadenlose Wüste und der Hunger, der nach Ausbruch eines Krieges um sich greift, zwingt ihn immer mehr in die Enge. Je härter aber das Leben wird, desto mehr haßt er seine Frau, die ihn immer wieder auf seine familiären Pflichten hinweist. Und desto öfter erinnert er sich der misogynen Tradition: »Die Frau, das Weib. Hatte nicht Scheich Mûssa gesagt, daß sie es war, die Adam aus dem Paradies vertrieb?« Wie heilsam wäre deshalb manchmal das Vergessen!

Der schwedische Journalist Richard Schwartz, der seit den siebziger Jahren für das Svenska Dagblatt aus Osteuropa berichtet, hat einer mörderischen Art der Erinnerung einen denkwürdigen Text gewidmet. Herr Weiß besucht die weiße Stadt lautet sein Titel, erschienen in dem Band Room Service, einer Sammlung mit äußerst lesenswerten literarischen Reportagen aus Europas nahem Osten. Es geht um seinen sympathischen serbischen Dichterfreund Dragan und wie ihm dieser kurz nach Ausbruch des serbisch-kroatischen Krieges auf den Tisch des Cafés Moskva in Belgrad eine blank polierte Granathülse stellt, auf dessen Unterseite die Aufschrift eingraviert ist: »M. Weiß, Budapest 1914«. Und wie ihm sein Freund erzählt, daß ein Priester aus der kleinen bosnisch-serbischen Stadt Bosanski Petrovac ihm die Hülse auf einem Podium vor der Kirche überreicht hatte; wie er sich mit der Hülse im Arm erhoben hatte und spontan eine kleine Rede vor den versammelten Zuhörern hielt; wie er sagte, sein Volk habe eine lange Geschichte und nur wenige Kilometer von hier wiederhole sich diese, es habe den Anschein, als seien die Feinde von heute dieselben wie die von gestern.

Lu Xun: Applaus, Unionsverlag Taschenbuch, Zürich 1999, 18,90 DM

Kirsty Gunn: Eine Geschichte mit blassen Augen, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1999, 14,90 DM

Ibrahim al-Koni: Goldstaub, Lenos Verlag, Basel 1999, 18,00 DM

Richart Schwartz: Room Service. Geschichten aus Europas nahem Osten, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M. 1998, 18,90 DM

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