Acht Jahre lang brauchte der spätere türkische Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk, um seinen ersten Roman zu veröffentlichen. 1982 erschien endlich Cevdet und seine Söhne. Und erst jetzt, 29 Jahre später, ist der Roman ins Deutsche übersetzt. Ein Buch also, das lange niemand haben wollte. Und man fragt sich nach der Lektüre: Warum nur? Was die deutsche Ausgabe angeht, so hatte sich Pamuk allerdings zunächst grundsätzlich gegen eine Übersetzung des Buches gewehrt. Wie er in dem 2010 verfassten Nachwort andeutet, schien ihm der Roman zu sehr an seine Vorbilder – Thomas Manns Buddenbrooks und vor allem Leo Tolstois Anna Karenina – zu erinnern. Aber selbst einen epigonalen Roman à la Tolstoi muss man schreiben könn
la Tolstoi muss man schreiben können. In Cevdet und seine Söhne spürt der Leser von der ersten bis zur letzten Zeile, dass er es mit einem Könner zu tun hat.Die Geschichte der Familie Işıkçı beginnt in der Ära von Sultan Abdülhamit (1876-1909). Cevdet, unter den griechischen und jüdischen Händlern Istanbuls einer der wenigen muslimischen Kaufleute, ist mit Holzhandel und später mit Lampen zu Geld gekommen. Sein Reichtum erlaubt es ihm, um die Hand der Tochter eines Paşas anzuhalten. Die feudale Gesellschaft des osmanischen Reiches ist im Niedergang begriffen und sein späterer Schwiegervater – ein ehemaliger Minister – steht vor der Pleite. Kurz vor der Heirat kauft er ein Haus in Nişantaşı, einem Viertel für die Reichen in Istanbul. Ein Ort, zu dem die Erzählung immer wieder zurückkehren wird.Bereits in diesem ersten Teil des Buches flicht Orhan Pamuk geschickt die politischen Hintergründe in den Roman ein. So versucht sich Cevdet aus den Kämpfen zwischen den Jungtürken und dem Sultan, in die auch sein Bruder verwickelt ist, herauszuhalten. Aber sein Freund Fuad, ein zum Islam konvertierter Jude, kritisiert ihn heftig: „Was wollen dein Bruder und seine Gesinnungsgenossen? Dass die Verfassung wieder in Kraft tritt, dass das Parlament eröffnet wird, dass Schluss ist mit dem Absolutismus und wir Freiheit bekommen und dass, wenn nötig, Sultan Abdülhamit gestürzt wird. Vor alledem schreckst du zurück! Und warum? Weil du darin unbegreifliche, schreckliche Dinge siehst!“Im BarackendorfIm zweiten, in den dreißiger Jahren spielenden, Teil des Romans verschärft sich die Diskussion über die gesellschaftlichen Zustände. Auch in diesem, bei weitem umfangreichsten der drei Teile hat Pamuk die Hintergründe überzeugend in die einzelnen Charaktere integriert. Cevdet ist inzwischen gestorben, seine Söhne Osman und Refet haben das Geschäft übernommen. Während Osman sich für die Firma engagiert, gelingt es seinem Bruder Refet nicht, einer persönlichen Krise zu entkommen. Die Arbeit erscheint ihm sinnlos. Er hat das Gefühl, etwas anderes machen zu müssen, und entschließt sich, seinen Studienfreund Ömer zu besuchen, der in Anatolien als Ingenieur im Eisenbahnbau arbeitet.In der Einöde der kargen Berglandschaft spitzt Orhan Pamuk dann die Widersprüche in seinen Protagonisten zu. Ein deutscher Ingenieur ist der einzige, mit dem sich Ömer und Refet angeregt unterhalten können. In dem Barackendorf wohnen ansonsten nur die ungelernten Arbeiter der Baustelle. Der Deutsche kritisiert immer wieder mit Hölderlin-Zitaten den orientalischen Charakter der Türken. Die westlich orientierten Ömer und Refet stimmen ihm zwar zu, aber sie spüren auch die subtile Verachtung, die in seinen Worten liegt.Die politischen und gesellschaftlichen Probleme der Türkei bilden jedoch nur den Hintergrund von Cevdet und seine Söhne. Im Zentrum dieses und der nachfolgenden Romane Orhan Pamuks stehen der Einzelne und seine Probleme. Einer wie Osman, der die Firma Cevdets erfolgreich führt und sein Leben nicht in Frage stellt, interessiert ihn allerdings viel weniger als ein Zweifler wie der Bruder Refet. In ihm treffen die Widersprüche der türkischen Identität aufeinander. In sein Tagebuch schreibt er: „Bei Voltaire, in Rot und Schwarz oder in den Bekenntnissen, in denen ich gerade heute wieder geblättert habe, finde ich einen ganz bestimmten intellektuellen Geist, und dann frage ich mich, warum ich diesen hierzulande nie antreffe, weder bei mir selbst noch bei irgendwelchen Bekannten oder bei türkischen Schriftstellern. Ich bin in einem so hoffnungslos trägen, widerlichen Zustand, aber ist nicht die ganze Türkei so?“Pamuks Helden sind, um es auf die kurze Formel zu bringen, auf der Suche. Es sind die großen Fragen des Lebens, die sie zu lösen versuchen – Fragen der bürgerlichen Epoche. Wie viele Autoren schreibt Pamuk vordringlich über das, was er kennt. Als Kind in einer wohlhabenden Istanbuler Familie aufgewachsen, verhandelt er Probleme relativ unabhängig von Existenzkämpfen, fragt nach Selbstverwirklichung und Identität, und wurde so bei dem in ähnlichen Verhältnissen lebenden Publikum im Westen zu einem erfolgreichen Autor.Faszinierendes PanoramaCevdet und seine Söhne ist ein ganz in der realistischen Tradition geschriebener Roman. Noch steht er vor dem Weg, den er 1996 in einem Gespräch mit der Literaturzeitschrift Schreibheft skizziert hat, und die ihn zu einer literarischen Sprache führt, „die nicht einer westlichen Strömung oder Mode entspringt. In dieser Sprache dürfen ruhig Einflüsse erkennbar sein, doch sie soll nicht schlicht realistisch, naturalistisch oder postmodernistisch sein“.Pamuks Erstling geht das Geheimnisvolle der späteren Bücher ab, der Bezug zum Beispiel zur islamischen Mystik, mit der er, wie er sagt, die „einseitige säkulare Perspektive“ des westlichen Realismus in Frage zu stellen versucht. Aber trotzdem ist Cevdet und seine Söhne ein faszinierendes Panorama der türkischen Oberschicht im 20. Jahrhundert. Ein spannender Familienroman, der einem gleichzeitig die widersprüchliche Geschichte der Türkei vermittelt und der bereits die Fragen aufwirft, die dann die späteren Romane Pamuks prägen: Die nach der Liebe, nach einem sinnvollen Leben und nach einer Identität zwischen Orient und Okzident. Einer Grenzidentität, die inzwischen global zu werden beginnt.
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