Namenloser Schrecken

UNFÄHIG ZUR MITTEILUNG Pat Barkers Roman über die psychischen Folgen des Krieges »Das Auge in der Tür«

Der erste Weltkrieg ist zweifellos ein kaum zu überschätzender Einschnitt in der Geschichte der westlichen Welt gewesen. »Eine Generation«, schrieb Walter Benjamin, »die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken und unter ihnen, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige, gebrechliche Menschenkörper.« Aber nicht nur die ungeheure Gewalt der Materialschlachten machte die neue Qualität dieses Krieges aus. Die in den Schützengräben zwischen Passivität und der Hölle der Granatangriffe hin und her geworfenen Soldaten litten immer häufiger unter sogenannten »Kriegsneurosen«. Die englische Schriftstellerin Pat Barker hat sie zum Ausgangspunkt von drei Romanen über den ersten Weltkrieg gemacht. In dem nun auch auf Deutsch erschienen zweiten Band, Das Auge in der Tür, hat der Schauplatz von der in Schottland gelegenen psychiatrischen Klinik Craiglockhart nach London gewechselt. Siegfried Sassoon, der schwule Autor pazifistischer Gedichte, der in Niemandsland im Zentrum stand, befindet sich wieder in Frankreich an der Front und taucht nur kurz auf. Billy Prior, eine der wenigen nicht historisch verbürgten Figuren in der Trilogie, rückt ins Zentrum der Erzählung. Wie Sassoon, der einerseits öffentlich zu Friedensverhandlungen aufgerufen hatte - und nur noch durch die Einweisung in die Psychiatrie vor dem Kriegsgericht gerettet werden konnte - andererseits aber mit dem Argument an die Front zurückgekehrt war, daß er die Kameraden nicht im Stich lassen könne, ist auch Prior eine gespaltene Persönlichkeit. In engen, proletarischen Verhältnissen aufgewachsen, hatte er sich zum Offizier hochgearbeitet. Wegen schweren Asthmas und Erinnerungslücken nach London ins Rüstungsministerium versetzt, arbeitet er in einer Institution, deren Aufgabe unter anderem die Bekämpfung der pazifistischen Bewegung in England ist. Aufgrund seiner Position erhält er eine Besuchsgenehmigung bei der aufgrund fadenscheiniger Beweisen wegen versuchten Mordes an dem Premierminister Lord George verurteilten Pazifistin Hettie Roper. Prior hat ihr viel zu verdanken, da sie für ihn während seiner Kindheit wie eine Mutter gewesen war. Der innere Konflikt, in dem er sich befindet, wird deutlich, als Roper zu ihm sagt: »Ich werde dich nicht fragen, auf welcher Seite du stehst, könnte sein, du sagst mir nicht die Wahrheit, und wenn doch, würde ich dir nicht glauben. Aber sag mir nur das eine. Weißt du, auf welcher Seite du stehst?« Prior lächelt darauf nur und geht. Widersprüche dieser Art prägen Pat Barkers Figuren. Sie sind es, die die Spannung beim Leser aufrecht erhalten. Dabei verfällt sie in keinen äußerlichen Relativismus, bei dem das Gegensätzliche des Effekts wegen eingesetzt und dadurch der Geschichte die Lebendigkeit genommen wird. Barker erzählt ihre Figuren, belebt sie durch die Situationen, in denen sie sie schildert. Da die Ereignisse, in dessen Umfeld die Erzählung angesiedelt ist, bereits mehr als 80 Jahre zurückliegen, müssen es vor allem eigene Erfahrungen sein, die in ihre Bücher eingegangen sind. So wie Prior stammt auch sie aus dem Proletariat, hatte sich zu einem Studium an der Londoner »School of Enconomics« hochgearbeitet. Dabei überträgt sie nicht die heutigen Verhältnisse auf die Zeit des ersten Weltkriegs, sondern trifft die erzählerische Auswahl so, daß die Wurzeln der auch heute noch aktuellen Konflikte in dem historisch-erzählerischen Rückgriff deutlich werden.

Pat Barker geht es deshalb auch nicht um das »so war es«. Der Positivismus des Historismus liegt ihr fern. Sie beschreibt keine Details; der Leser erfährt nichts darüber, wie eine bestimmte Straßenecke Londons 1917 ausgesehen hat. Sie interessiert vielmehr die Mentalität ihrer Protagonisten, ihr Verhalten, ihr Fühlen und ihre Gespräche. Dialoge setzt Barker auch deshalb gerne ein, weil sie, wie sie einmal in einem Interview sagte, so Positionen darstellen könne, die sie selbst nicht teilt. In den Gesprächen zwischen dem von Craiglockhart ebenfalls nach London versetzten Psychiater W.H.W. Rivers und seinem Patienten Billy Prior wird dabei etwas anderes deutlich. Rivers, den es in Wirklichkeit gegeben hat, ist einer der ersten Freud-Anhänger in England gewesen. Er hatte nicht wie seine Kollegen auf Hypnose oder gar Elektroschocks zurückgegriffen, um die Neurosen seiner Patienten zu behandeln. Statt dessen versuchte er, sie durch Gespräche zum Reden über den Schrecken zu bewegen. Prior, der sich phasenweise für einen anderen hält, ganz so wie Henry Jekyll in Stevensons Dr. Jekyll and Mr. Hyde, hatte Rivers in Craiglockhart kaum zum Sprechen bewegen können. In Das Auge in der Tür beginnt er sich zwar langsam zu den Erlebnissen an der Front zu äußern, aber er tut dies nur in Verbindung mit starken Aggressionen gegen den Analytiker.

Durch Prior sieht sich Rivers plötzlich selbst in der Rolle des Patienten und seine eigene, ebenfalls zwiespältige Rolle in Frage gestellt. Denn selbst wenn er die brutalen Methoden seiner Kollegen ablehnt, dient auch seine »psychoanalytische Kur« nur dazu, die Soldaten wieder fronttauglich zu machen. Zudem stellt er in der Beobachtung eines befreundeten Arztes fest, daß die mentale Grundlage, die für die wissenschaftliche Arbeit - also auch die des Arztes - notwendig ist, gleichzeitig die Basis zum töten bildet. »Es handelte sich eindeutig um dieselbe Distanz, die der Soldat herstellen mußte, um töten zu können. Das Ziel war ein anderes, aber der psychische Mechanismus war im Prinzip derselbe.«

Der erste Weltkrieg erscheint in Pat Barkers Sicht damit nicht nur als Epochenzäsur, sondern gleichzeitig als extremer Ausdruck der »normalen« Zivilisation, in der wir auch heute noch leben. Die Schnittstelle zwischen Krieg und friedlicher Zivilisation wird dabei nicht in den Schützengräben deutlich (die sie auch beschreibt), sondern in der Psychiatrie im Hinterland. Diese Sicht verbindet Barker mit dem eingangs zitierten Benjamin, der sich ebenfalls für die Auswirkungen des ersten Weltkriegs auf einem als peripher geltenden Terrain interessierte: dem Erzählen. Für ihn ist der erste Weltkrieg nicht nur der Zeitpunkt, zu dem zum ersten mal Kriegsneurosen als Massenphänomen auftraten, sondern auch der Beginn einer Krise des Erzählens. Der Kern klassischen Erzählens, so Benjamin, sei letztlich immer die Weitergabe einer Erfahrung, eines Rates gewesen. Dies jedoch wurde mit dem Stellungskrieg in Frage gestellt. »Konnte man damals nicht die Feststellung manchen: die Leute kamen verstummt aus dem Felde? Nicht reicher, ärmer an mitteilbarer Erfahrung.« Pat Barker bestätigt diese Beobachtung in Das Auge in der Tür. Auch ihre Protagonisten sind unfähig, Erfahrungen zu machen, geschweige denn Ratschläge weiter zu geben. »Es ist ... unbegreiflich«, sagt Manning, einer von Rivers anderen Pratienten. »Ich meine nicht, daß man es nicht begreifen kann, wenn man nicht dort gewesen ist. Ich kann es nicht begreifen, obwohl ich dort gewesen bin. Ich kriege es einfach nicht in meinen Kopf rein«.

Pat Barker: Das Auge in der Tür, Hanser Verlag, München 1998, 290 S., 39,80 DM.

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