Man muss sich den Autor als 13, 14 Jahre alten Jungen vorstellen, der in seinem Zimmer im fünften Stock eines hässlichen Plattenbaus am Fenster steht und hinaussieht. Unten, auf dem Stefan-cal-Mare Boulevard, fahren Straßenbahnen und Autos; dahinter, soweit man sehen kann, liegt das abendlich erleuchtete Bukarest. Ein Blick, geprägt von kindlicher Phantastik und der Erotik des Pubertierenden, dem die Stadt in seiner Einsamkeit zum Körper wird. Der sie, als die Bedrängnis zu groß wird, in langen Spaziergängen zu entdecken beginnt und dann, sehr viel später, mit großer Belesenheit und überbordender Phantasie zum Schauplatz seiner Romane und Erzählungen macht. In „der Erinnerung neu erfindet“, wie er sagt.
Der Autor ist Mircea Cărtărescu. Der 1956 in Bukarest geborene Autor ist der im Augenblick wohl bekannteste rumänische Schriftsteller, dessen Roman Die Wissenden mit diesem Blick aus dem Fenster beginnt. Ein Buch, das den ersten Teil einer Trilogie bildet, die Cărtărescu „Orbitor“ genannt hat, was so viel wie „Blendwerk“ heißt.
Es ist kein klassischer Roman mit der Lebensgeschichte des Helden von der Kindheit bis zu Tod, sondern eine Reihe von traumhaften, aber auch traumatischen Geschichten, erzählt in einer Art magischem Realismus. Begriffe aus der Neurologie und der Entomologie (Cărtărescu wollte als Kind Schmetterlingsforscher werden) erhalten poetische Qualitäten. Einen roten Faden gibt es nur innerhalb der Geschichten. Ausgangspunkt ist, neben dem Autor selbst, die Geschichte seiner Familie, insbesondere die seiner Mutter, die vom Land stammt und während des zweiten Weltkriegs als junges Mädchen nach Bukarest zog.
Vieles ist dabei durch die Assoziationen des Erzählers verbunden, der wie Cărtărescu „Mircea“ heißt. Da ist zum Beispiel eine alte Damenhandtasche, die er in einem Versteck hinter dem Wäschekorb in der elterlichen Wohnung entdeckt. Seine Mutter bewahrt in ihr verschiedene Erinnerungstücke auf. Die alten Schwarz-Weiß-Negative, die Familienfotos, die kaputte Armbanduhr faszinieren ihn; vor der Zahnprothese seiner Mutter ekelt er sich gleichzeitig. Sie erinnert ihn an eine peinliche Situation, bei der er als kleiner Junge seine Eltern im Kaufladen laut um eine Packung Präservative bittet, ein Wort, das er auf einer Packung mit faszinierenden Gummiringen gelesen hatte.
Kafka nach Punkten besiegt
„Die Proustsche Methode war mir im übrigen bereits vertraut, als ich von Proust noch keine Ahnung hatte“, heißt es in der Erzählung Die Zwillinge. Eine Geschichte, die sich in Nostalgia befindet, einem Band mit Erzählungen, der noch 1989 kurz vor dem Ende der Ceauşescu-Zeit erscheinen konnte, allerdings zensiert. Aber selbst wenn Cărtărescu die Erinnerungstechnik von Proust anwendet, der mit dem Geschmack einer Madeleine, getunkt in Lindenblütentee, die Kindheit heraufbeschwört, so ist er doch eher ein romantischer Autor.
Cărtărescu geht es nicht darum, eine in ihren inneren und äußeren Verhaltensweisen unendlich verästelte, vergangene Gesellschaft zu beschreiben, wie Proust, sondern um die Romantisierung der Wirklichkeit. Cărtărescu ist weniger ein Beobachter als ein Träumer, der sich während der Schulzeit für „eine Art Superchampion im Träumen“ hielt. „Ich hatte, so meinte ich, Mandiarques, Jean Paul, Hoffmann, Tieck, Nerval und Novalis durch K.o. besiegt, Kafka nach Punkten und Dimov hatte (in der sechzehnten Runde) aufgegeben.“
Das graue, unansehnlich Bukarest verwandelt sich mit der Hilfe seiner Träume in ein Atlantis, wie Dresden für E.T.A. Hoffmann. „So weit das Auge reichte“, heißt es in Die Wissenden, „ein blutdurchpulstes gläsernes Modell-Bukarest mit fantastischer Dachlandschaft: riesige Eier, Dojons, die Kirchtürme der Metropole, der Kristallbauch der Sparkasse, die Kugeln am First des Negoiu-Hotels und der Wirschaftsakademie, die gedrechselten Pilzhüte der Russischen Kirche, der mit Parabolantennen bestückte Eisberg des Telefonpalastes, der wie das Bein eines von Kinderlähmung gezeichneten Kindes in Metallschienen steckte, der phallische Wasserturm“.
An manchen Stellen fallen dem Leser die surrealen Geschichten von Bruno Schulz ein. An anderen, der Geschichte der Mutter des Erzählers etwa, die Verbindung von Geschichte und Verschwörungstheorie bei Thomas Pynchon. Cărtărescu hat den geheimnisumwitterten amerikanischen Autor einmal als das „einzig wahre Genie“ unter den Lebenden bezeichnet.
So ist die Mutter, die als junges Mädchen in Bukarest auf die erotischen Versuchungen der Großstadt und die Bedrohungen durch die alliierten Luftangriffe stößt, Anlass, von dem schwarzen Drummer Cedric zu erzählen, der in einem Club in Bukarest auftritt. Dessen Geschichte wiederum führt nach New Orleans zu einer ominösen Sekte der Wissenden“, die mit einer mystischen Theorie ausgestattet ist wie bei Pynchon.
Allzu ernst darf man diese Theorie aber nicht nehmen. Denn im Grunde setzt Cărtărescu in seiner Prosa Techniken ein, wie sie auch in der modernen Lyrik oder in Videoclips verwendet werden: assoziativ aneinander gesetzte Bilder, die Emotionen evozieren sollen. Diese Schreibweise hat Cărtărescus offenbar aus seiner Zeit als Lyriker übernommen. Bereits 1978 erschien der erste Gedichtband des 1956 geborenen Autors. Seinen Lebensunterhalt musste er allerdings von 1980 bis 1989 als Lehrer verdienen.
In den neunziger Jahren hatte er immer wieder als Hochschullehrer für Literatur gearbeitet, wenn er nicht mit einem Stipendium im Ausland an einem neuen Buch schrieb. Die Phase der Lyrik endete abrupt in einer Schreibkrise, die ihn fast zerstört hätte. „Ein Jahr lang habe ich nichts mehr gemacht, bin nicht mehr ausgegangen, habe fast nicht mehr geschlafen ... Ungefähr zu jener Zeit begannen die Träume, die meine Prosa begründen sollten.“
Eine Prosa, die „uns einen sentimentalen Stoff in einer fantastischen Art nahebringt“, wie es der wohl wichtigste Theoretiker der Romantik, Friedrich Schlegel, formuliert hat. Wobei er das „Sentimentale“ als etwas versteht, „was uns anspricht, wo das Gefühl herrscht, und zwar nicht ein sinnliches, sondern das geistige. Die Quelle und Seele aller dieser Regungen ist die Liebe, und der Geist der Liebe muss in der romantischen Poesie überall unsichtbar sichtbar schweben“.
Unerreichbare Frauen
Die Liebe ist es denn auch, die viele der Texte Cărtărescu prägen. Der im letzten Jahr auf Deutsch erschiene Band Warum wir die Frauen lieben macht sie zum zentralen Thema. Die autobiografischen Texte, die der Autor für die rumänische Ausgabe von Elle verfasst hat, geben Auskunft über Frauen, die für Cărtărescus wichtig waren und die ihn zu seiner Literatur inspiriert haben. Wobei ihn mehr die abwesenden unerreichbaren Frauen geprägt haben, als die erreichbaren anwesenden, was literarisch offenbar dann zu jenem „Geist der Liebe“ geführt hat, der in seinen Büchern „unsichtbar sichtbar schwebt“.
So wie Gina in Die Zwillinge, die den Helden und Erzähler der Geschichte in seinem Drängen, mit ihr zu schlafen, immer wieder hinhält. Als die beiden dann am Ende im Bett liegen, zerbricht der ganze Zauber wie für Narziss, der im Teich nach seinem Spiegelbild greift und es damit zerstört.
„Vollkommenheit ist langweilig“, meint Cărtărescu. Der fragmentarische Charakter, die unerfüllte Leidenschaft seiner romantischen Prosa sind Ausdruck dieser Unvollkommenheit. Warum wir die Frauen lieben ist in dieser Hinsicht ein eher enttäuschendes Buch, weil es den Zauber der Romane und Erzählungen auflöst. Die Realität, die hinter seinen Büchern steht, ist zumeist banal. Andererseits erklären sie Cărtărescus Prosa und seine Situation im rumänischen Sozialismus, der weniger Einfluss auf sein Werk hat, als man gemeinhin im Westen denkt.
Cărtărescu war, wie sein türkischer Kollege Orhan Pamuk, dessen Bücher viel mit denen des rumänischen Autors gemeinsam haben, kein dezidiert politischer Schriftsteller. Natürlich konnte und kann sich ein Autor einem Engagement nicht entziehen. Selbst das radikalste l‘art-pour-l‘art Gedicht ist ein engagierter Text, so wie jeder, der sich für unpolitisch hält, eben damit eine dezidiert politische Meinung vertritt.
Aber zu den politischen Essays und Artikeln, die nach der Wende erschienen sind, sah sich Cărtărescu, wie Pamuk, eher durch die Umstände gedrängt. Als rumänischer Autor von europäischem Rang kann er nicht verhindern, dass er zu Problemen wie Sinti und Roma, Securitate und der Armut in seinem Land gefragt wird.
Ein paar seiner Essays hat die Stuttgarter Akademie Schloss Solitude unter dem Titel Europa ist ein Gehirn auf Deutsch vorgelegt. Darin zeigt er sich außerdem als Verteidiger eines Literaturbegriffs, der lieber die Gemeinsamkeiten osteuropäischer Schriftsteller mit ihren westeuropäischen Kollegen betont als die Differenzen. Und so, als europäische Literatur ersten Ranges, sollten denn auch Mircea Cărtărescus beeindruckende Romane und Erzählungen gelesen werden.
Nostalgia Mircea Cărtărescu, Erzählungen. Übersetzt von Gerhardt Csejka. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2009, 415 S., 24,80
Warum wir die Frauen liebenMircea Cărtărescu, Geschichten. Übersetzt von Ernest Wichner. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2008, 171 S., 17,80
Die Wissenden Mircea Cărtărescu, Roman. Übersetzt von Gerhardt Csejka. Zsolnay, München 2007, 626 S., 24,80
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