Zwang zur Harmonie

Wiedereingliederung Akira Yoshimuras Roman "Unauslöschlich"

Ein Buch wie eine langsame Flussfahrt. Die Geschichte erscheint als die vorbeiziehende Landschaft; ab und zu tauchen am Ufer Häuser und Städte auf, von denen zwar Einzelheiten zu erkennen sind, deren Inneres aber verborgen bleibt. Trotzdem - oder vielleicht gerade deshalb - liest der Leser immer weiter.

Zu Beginn von Akira Yoshimuras Unauslöschlich beantragt Shirô Kikutani seine vorzeitige Entlassung aus dem Gefängnis. Als dem Antrag stattgegeben wird und der ehemalige Gymnasiallehrer auf Bewährung seine Zelle verlässt, hat er 16 Jahre einer lebenslänglichen Strafe in der Tokioer Haftanstalt zugebracht. Wieder in Freiheit erhält er alle Unterstützung, um sich in der inzwischen veränderten Welt zurechtzufinden. Sein erster Bewährungshelfer besorgt ihm eine Wohnung und außerdem einen Job auf einer Hühnerfarm; zu dem zweiten, einem erfahrenen älteren Mann, der nach einem Ortswechsel für ihn zuständig ist, fasst er Vertrauen wie zu einem Vater.

Doch während sich Tokio in den 16 Jahren äußerlich stark verändert hat, ist eines gleich geblieben: die Schande, die auf Kikutani lastet. Seine Tat bestimmt auch weiterhin sein Leben, weil er Angst haben muss, andere könnten erfahren, dass er seine Frau wegen einer Affäre mit einem Anglerfreund erstochen hat, und außerdem die Mutter dieses Mannes starb, weil er dessen Haus angezündet hat. Als ein ehemaliger Mitgefangener bei einer Lieferung Kikutani kurz auf der Arbeit wiedererkennt, schreibt er ihm in einem verzweifelten Brief: "Bitte haben Sie Erbarmen mit einem Mitinsassen, der das gleiche Schicksal teilt, und verraten Sie mich nicht. Ich flehe Sie an".

Die Geschichte in Unauslöschlich erinnert eher an die Bücher des 1899 geborenen Schriftstellers Yasunari Kawabatas, der 1968 als erster Japaner den Literatur-Nobelpreis erhielt. Weniger dagegen an Autoren aus der eigenen Generation des 1927 geborenen Yoshimura, wie Kenzaburo Oe (geboren 1935) oder Kobo Abe (geboren 1924). Beide hatten sich in den sechziger Jahren von westlichen Autoren inspirieren lassen, insbesondere von den französischen Existenzialisten. Zwar spielt für Yoshimura äußerlich im Vergleich zu Kawabata die traditionelle japanische Gesellschaft mit ihren Ritualen weniger eine Rolle; aber im Zentrum von Unauslöschlich steht auch keine "persönliche Erfahrung", wie es bereits in dem Titel des berühmten, 1964 erschienenen Romans von Oe heißt oder die Frage nach der Freiheit, die zusammen mit der Erfahrung des Absurden Die Frau in den Dünen von Kobo Abe prägt. Die individuelle Selbstverwirklichung des Helden - Kikutanis eigenes Glück - spielt nur eine Nebenrolle. Ihm geht es vor allem darum, sich wieder in die Gesellschaft einzufügen und dort ein normales Leben zu führen. Dazu gehört auch, dass er es sofort akzeptiert, als einfacher Arbeiter auf einer Hühnerfarm sein Geld zu verdienen, obwohl er einmal Lehrer war. Und selbst als sein Bewährungshelfer ihm die Heirat mit einer Frau vorschlägt, die er nicht kennt und nur einige Male von weitem gesehen hat, geht er - nach einer kurzen Phase der Empörung über diesen Eingriff in seine Privatsphäre - darauf ein.

Zu Kikutanis eigentlichem Problem wird deshalb etwas anderes: dass er seine Tat nicht bereuen kann. Hierin aber bestünde die Voraussetzung für seine endgültige Rehabilitierung und Wiedereingliederung in die japanische Gesellschaft. Denn mit der öffentlich gezeigten Reue würde auch seine Bewährungsstrafe ausgesetzt, die ihn ansonsten bis an sein Lebensende unter Aufsicht stellt. Als er aber heimlich in seinen Heimatort fährt, um am Grab der durch ihn umgekommenen alten Frau zu beten, stellt er fest, dass er keinerlei Mitgefühl mit ihr empfindet. Unverrichteter Dinge kehrt er wieder in seine Wohnung zurück. Der Leser beginnt zu spüren, dass der ruhige Erzählfluss langsam auf einen Abgrund zutreibt.

Yoshimura enthält sich in Unauslöschlich jeder tieferen Deutung. Kikutani erinnert sich, dass er mit einer lebenslänglichen Strafe nur deshalb davongekommen war, weil er während der Gerichtsverhandlung diese Reue noch gezeigt hatte. Nach dem Besuch auf dem Friedhof überkommen ihn jedoch Zweifel an der Echtheit seiner damaligen Gefühle. Der Leser, der sich nach und nach mit Kikutani identifiziert, ist gleichzeitig immer mehr darüber irritiert, dass er zu dieser Reue nicht fähig ist. Letztlich legitimiert diese Unfähigkeit den Mord an seiner Frau, woran sich die Frauenfeindlichkeit der japanischen Gesellschaft ebenso ablesen lässt wie an dem im Affekt begangenen Mord die aufgestaute Gewalt durch den ungeheuren Konformitätsdruck dieser Gesellschaft, in der Frieden und Harmonie so sehr im Vordergrund stehen. Wie in einem der Samurai-Filme Kurosawas bricht die Gewalt abrupt und brutal hervor. Kikutani hat sich von seiner Frau auch deshalb so sehr hintergangen gefühlt, weil sie ihm das Gefühl gegeben hatte, sie sei zufrieden und ihre Ehe harmonisch. Vielleicht wäre alles glimpflicher abgelaufen, hätte sie - die offensichtlich unglücklich war - den Zwang zu dieser Harmonie durchbrechen können.

Andererseits übt gerade die von Yoshimura im Tonfall der Selbstverständlichkeit erzählte Harmonie eine Faszination auf den Leser aus, der er sich nur schwer entziehen kann. Wenn alles ineinandergreift und keiner aus der Gesellschaft heraus fällt und das selbst noch im Gefängnis, wenn Gewalt keine mit dem Westen vergleichbare Rolle spielt, dann wird damit auch ein Stück Utopie geschildert. Dass der Preis für diesen Frieden durch einen hohen Konformitätsdruck erkauft worden ist, der wiederum Gewalt hervorbringt, das lässt dann den Leser von Unauslöschlich umso nachdenklicher zurück.

Akira Yoshimura: Unauslöschlich. Roman. Aus dem Japanischen von Sabine Mangold. C.H. Beck, München 2002, 251 S., 19,90 EUR


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