Ultras in Ägypten

Ultras Ägypten Revolution Ein Artikel von Ralf Heck über die ägyptische Ultrabewegung und ihre Beteiligung an den sozialen Aufständen

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Bei dem vorliegenden Artikel Ultras in Ägypten handelt es sich um einen Ausschnitt aus einer ausführlichen Studie mit dem Titel Zwischen Eigentor und Aufstand – Ultras in den gegenwärtigen Revolten aus der vierten Ausgabe der Zeitschrift Kosmoprolet. Einzelexemplare können für 5€ hier bestellt werden.

In den nordafrikanischen Ländern ist der Kursverlust der menschlichen Arbeitskraft tagtäglich deutlich wahrnehmbar. Armut, massenhafte Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung bestimmen das Bild, nirgendwo zeigt sich die schwindende Integrationskraft des Kapitalismus klarer als hier. Das Surplus-Proletariat tritt in Nordafrika auch wesentlich stärker als rebellierender Akteur in Erscheinung als in Europa. 2011 wurden dort in einer beeindruckenden Welle von Erhebungen jahrzehntelang regierende Diktatoren hinweggefegt.1 Voraus gingen diesen Revolten allerdings Aufstände der Fabrikarbeiterklasse. Im ägyptischen Mahalla etwa kam es 2008 zu einem bedeutenden Streik der Textilarbeiter2 samt tagelangen Straßenschlachten mit der Polizei. Neben der eher traditionellen Arbeiterklasse sowie der Jugendbewegung des 6. April gab es noch einen weiteren Akteur, der sich schon während der Diktatur aufmüpfig verhielt: junge Fußballfans, die sich in den Stadien sammelten und langsam anfingen, offen zu rebellieren. Existierten in den Ländern Nordafrikas kaum Orte, an denen sich Jugendliche ohne die Kontrolle der Alten oder der Sicherheitskräfte treffen konnten, so bildete das Fußballstadion eine Ausnahme. Die sich noch überwiegend als unpolitisch begreifenden Fußballfans versuchten sich dort einen Freiraum zu schaffen, und so entwickelte sich vor allem in Tunesien3 und Marokko, aber auch in Ägypten und Algerien eine auf Krawall gebürstete Bewegung jüngerer fußballbegeisterter Männer, denen ein Leben zwischen Armut und Geheimpolizei zu begrenzt erschien. Wie ein Ultra erklärte: »Zum Klub zu gehören ist das Einzige in unserem Leben, was wir selbst gewählt haben.«

Stark beeinflusst von der Ultra-Bewegung Italiens gründeten sich dann 2007 mit den Ultras Ahlawy, den Ultras Devils (beide al Ahly), den Ultras White Knights (UWK, al Zamalek), den Ultras Yellow Dragons (Ismaily SC/Ismailia) und den Ultras Green Eagles (al-Masry/Port Said) die ersten Gruppierungen in Ägypten. Sie bekamen regen Zulauf, da gerade junge Fans den starren und korrupten Fanclubs die wesentlich bunteren, tendenziell antiautoritär und säkular ausgerichteten Ultra-Gruppierungen vorzogen. Recht schnell gerieten sie dabei in Opposition zu den Verbänden, Vereinsbossen sowie den weniger engagierten Fans, denen sie vorwarfen, das Spiel lediglich konsumieren zu wollen. Die Konflikte drehten sich um das unerlaubte Abfackeln von Bengalos sowie Verbote von Choreographien, den Ausschluss von Fans, Restriktionen gegenüber Besucherinnen und um als zu hoch empfundene Spielergehälter. Von ihren Ultrafreunden aus Europa, zu denen teils persönliche Kontakte bestanden (wie auch zu denen in Tunesien), übernahmen sie die Ablehnung des modernen Fußballs, indem sie beispielsweise gegen die Erhöhung von Ticketpreisen und die Monopolisierung von Fernsehübertragungen protestierten. Allah spielte eine untergeordnete Rolle, doch die Autonomie ihrer Kurve wie auch ihre kollektive Identität war ihnen heilig. Gestärkt durch ihre Gruppe und durchaus auch von einem Ethos der Rebellion angetrieben, widersetzten sie sich deshalb oftmals den Anweisungen der Egyptian Football Association (EFA) und, anfänglich allerdings noch zaghaft, den Sicherheitskräften. Ein Ultra berichtet: »Es gab überhaupt keine Vorstellung von irgendeiner unabhängigen Organisation, seien es Gewerkschaften oder politische Parteien. Dann haben wir angefangen, Fußballultras zu organisieren (…) für sie [die Polizei] waren es die Jugendlichen – sehr gewiefte Leute –, die sich schnell in großer Zahl in Bewegung setzen konnten. Sie hatten Angst vor uns.«4 Selbstverständlich gab es auch Kämpfe zwischen den diversen Ultra-Gruppen, sie beschränkten sich aber auf eher harmlose Prügeleien, Beschimpfungen sowie das Klauen von Fan- und Gruppenutensilien. Das Jahr 2008 gilt dann als entscheidender Wendepunkt: Bei einem Spiel in Port Said versuchten die Sicherheitskräfte wieder einmal, ein Banner aus der Kurve der Ultras Ahlawy zu konfiszieren. Diese wehrten sich jedoch und gingen ihrerseits mit Holzlatten bewaffnet zum ersten Mal offensiv gegen die Polizei vor. Dieses Ereignis sowie viele weitere, die ihm an den allwöchentlichen Spieltagen folgten, führten zu einer massiven Hetze der Medien. Die Ultras wurden verunglimpft als Anhänger einer rassistischen Ideologie, die an die Nazis erinnere, als Verrückte, die sich für nichts anderes interessierten als für ihren Club und dabei westliche Jugendkulturen nachäfften, aber auch als Atheisten, Homosexuelle, Krawallmacher und Drogensüchtige bezeichnet. Vereinzelt gab es auch andere Protestformen, die den vermeintlich unpolitischen Charakter der Ultras konterkarierten. Nachdem ein UWK-Mitglied von der Polizei in Alexandria gefoltert wurde, trugen seine Fußballfreunde im November 2010 beim Spiel gegen al-Masry als Geste der Solidarität schwarz und im gleichen Jahr kam es einmal zu »Nieder mit Mubarak«-Rufen im Stadion. In anderen Fällen störten sie Wahlkampagnen von Abgeordneten, die sich gegen die Ultra-Bewegung stellten beziehungsweise mit dem korrupten Fußballverband in Verbindung gebracht wurden. Mitunter äußerten sich Ultras auch zu Palästina und zur stagnierenden Ökonomie, was zu einigen Verhaftungen führte. Dennoch »ist es wichtig, das politische Engagement von Ultras in den Jahren vor der ägyptischen Revolution nicht übermäßig zu betonen. Ultras, die sich vor 2011 politisch äußerten, taten dies weitgehend als Einzelne, nicht als Gruppenvertreter.«5Sowohl die Ultras als auch die Sicherheitskräfte waren damals noch bemüht, die Lage nicht vollends eskalieren zu lassen.

Nahezu alle Kommentatoren attestieren den Ultra-Gruppierungen eine klassenübergreifende Zusammensetzung: Sie »vereinen Gebildete und Analphabeten, Reiche und Arme«.6Die Ultras White Knights, bei denen minoritär auch Frauen beteiligt zu sein scheinen7, erklärten in Reaktion auf den Vorwurf, »Lumpen« zu sein: »Wir sind kein Haufen von Verlierern. Wir sind ein echter Cocktail der ägyptischen Gesellschaft, in dem man auch Anwälte, Doktoren, Ingenieure, Geschäftsmänner und Studenten findet.«8 Fakt scheint zu sein, dass die ägyptischen Ultras es verstehen, unterschiedliche – tendenziell überflüssige – Bevölkerungsteile in disziplinierten Vereinigungen zu organisieren, anfänglich vor allem Leute im Alter zwischen 16 und 25 Jahren. Trotz aller berechtigten Kritik an der alleinigen Fokussierung eines bestimmten – nämlich des gebildeten und zukunftslosen – Typus von Protestierenden scheint dieser bei der Gründung der ersten Ultra-Gruppen in Kairo mit ihren damals weniger als hundert Mitgliedern tatsächlich eine wichtige Rolle gespielt zu haben. Doch schon kurze Zeit später strömten andere Desillusionierte hinzu, sodass er in den nun jeweils mehrere tausend Mitglieder umfassenden Organisationen mit ihrer zigfach höheren Mobilisierungskraft kaum noch eine zentrale Bedeutung einnahm. Vielmehr scheint sich die Klassenzusammensetzung mittlerweile in Richtung städtischer Armer zu verschieben; die Ultra-Gruppierungen sind auch eine der wenigen, wenn nicht sogar die einzige organisierte Kraft, die revoltierende Straßenkinder in ihre Reihen integriert, sodass inzwischen auch schon 14-jährige Jungs bei ihnen mitmischen. Trotz gewisser Hierarchien sind die Gruppen relativ horizontal organisiert, aufgrund der Vielzahl ihrer Mitglieder aber in Sektionen gegliedert. Vor allem die Ultras Ahlawy haben Untergruppierungen im ganzen Land, die sich in den verschiedenen Vierteln der Städte organisieren – in extrem armen, eher traditionellen Arbeitervierteln wie auch in etwas wohlhabenderen Quartieren. Die Auswärtsfahrten und die teils sehr aufwendigen Choreographien finanzieren sie durch den Verkauf von Fan-Shirts und CDs sowie aus den nach Einkommen gestaffelten Mitgliedsbeiträgen. Ihre Kommunikationsstrukturen (Mobiltelefon und Facebook, Treffpunkte an Straßenecken, in Cafés, Schulen und Universitäten) sind nur schwer durchschaubar, durch persönliche Kontakte sowie einen starken Zusammenhalt – vor allem auch im Alltag – geprägt. Es drängen keine Repräsentanten ins Rampenlicht und das anonyme Agieren bietet einen relativen Schutz vor staatlicher Repression. Die Führungskader, die nicht als autoritäre Bosse9 zu verstehen sind, bilden sich gewöhnlich nach Bildungsgrad, Länge der Gruppenzugehörigkeit, Alter, Mut in Auseinandersetzungen mit der Polizei und Engagement heraus. Teilweise werden sie auch gewählt, beispielsweise bei den Ultras Yellow Dragon von Ismaily SC, die so versuchen, informellen und undurchsichtigen Hierarchien das Wasser abzugraben.10 Für die Capos gilt jedoch wie für den Rest der Mitglieder, dass sie sich in Sachen Fußball bedingungslos in den Dienst des Kollektivs zu stellen haben und ihnen bei Zuwiderhandlung der Ausschluss droht. Dazu gehört in erster Linie, sich an gemeinsame Absprachen zu halten, für sein Handeln Verantwortung zu übernehmen, sich nicht persönlich über die Gruppe zu stellen und vor allem keine Interna an die mit großem Misstrauen beäugte Presse weiterzugeben.

»Als am 25. Januar die ägyptische Revolution ausbrach, stellten Beobachter fest, dass die einzige organisierte Gruppe im Land, die über die nötigen Kampferfahrungen verfügte, um mit den Sicherheitskräften fertigzuwerden, die Ultras waren – und nicht die Muslimbrüder, die Jugendbewegung des 6. April oder die Nationalversammlung für Wandel«.11 Viele Menschen beteiligten sich in diesen Tagen zum ersten Mal in ihrem Leben überhaupt an Protesten, waren also völlig unerfahren, und tatsächlich wussten selbst die Aktivisten der Jugendbewegung des 6. April, die durchaus Erfahrungen mit Polizeigewalt hatten, dieser nicht effektiv entgegenzutreten. Die diversen Ultra-Gruppierungen stellten es ihren Mitgliedern frei, sich an den geplanten Protesten zu beteiligen, riefen allerdings nicht aktiv zur Demonstration am 25. Januar auf.12 Dennoch fanden sehr viele Ultras an diesem Tag auf den Straßen zusammen. Nachdem es zu hunderten von Festnahmen und massiven Übergriffen der Sicherheitskräfte gekommen war, entschieden die Ultra-Gruppierungen, sich klar zu positionieren und gemeinsam am Widerstand gegen das Mubarak-Regime zu beteiligen – am »Tag des Zorns« riefen sie dann auch offiziell zu den Protesten auf. In den militanten Auseinandersetzungen, besonders bei der sogenannten Kamelschlacht, spielten sie eine entscheidende Rolle und trugen so in Alexandria, Suez und Kairo ihren Teil zum Sturz Mubaraks bei.13 Ultras beteiligten sich aber auch an der Aufrechterhaltung der Infrastruktur, versuchten das Ägyptische Museum vor Plünderern zu schützen und etablierten Graffitis durch unzählige Sprühaktionen als eine neue Kommunikationsform. Sprühten sie zuerst die Namen ihrer Gruppen und Parolen gegen Fußballkommerz, korrupte Verbände und das Fernsehen an die Häuserwände, so wurden Graffitis nun zu einem der wichtigsten Kanäle, der Botschaften der Revoltierenden an den Rest der Bevölkerung übermittelte und damit wesentlich bedeutender gewesen sein dürfte als Facebook und Twitter zusammen. Aber vor allem sorgten sie mit Gesängen für Zuversicht auf den besetzten Plätzen und bei den Angriffen auf die Ordnungskräfte. Aus Liedern, die bisher fast ausschließlich von der Liebe zum eigenen und dem Hass auf den gegnerischen Verein handelten, wurden nun Protestlieder gegen staatliche Korruption, die Macht der Militärs und Polizeibrutalität. Die zunehmende Politisierung zeigte sich auch sofort in den Stadien, als im April 2011 die Spielzeit wieder aufgenommen wurde und die Ultras lautstark Parolen gegen die Militärherrschaft riefen. Außerdem versuchten sie, Spieler und Vorstände aus den Vereinen, die der Staatspartei NDP nahestanden, durch körperliche Angriffe und erzwungene Rücktritte zur Verantwortung zu ziehen. Die Transformation in eine sich deutlich politisch artikulierende und handelnde Vereinigung, die sich sowohl in Opposition zum Militärrat als auch zu den aufstrebenden Muslimbrüdern verortete, machte sie zu einem klar definierten Angriffsziel für die immer noch regierenden Militärs. Gleichzeitig drückte sich in der zunehmenden Politisierung ein Widerspruch aus, der sich auf lange Sicht nicht auflösen lässt und bis heute für reichlich Diskussionsstoff innerhalb der Gruppen sorgt. Während ein Großteil darauf pochte, den Fokus der Proteste wieder in die Stadien zu verlegen – sie fühlten sich nach eigenem Bekunden wie ein »zappelnder Fisch an Land, der wieder schleunigst zurück ins Wasser muss« – und damit in erster Linie Ultra bleiben wollte, sahen andere ihre Berufung mittlerweile darin, weiterhin auf allen »Straßen der Revolution« zu agieren. Einige Ältere verließen dann auch die Gruppen, um sich anderen außerparlamentarischen Oppositionsgruppen anzuschließen. Der massenhafte Zustrom vom Aufstand begeisterter Jugendlicher nach dem Sturz Mubaraks sorgte gleichzeitig dafür, dass die Ultra-Gruppen »wahrscheinlich zur zweitgrößten zivilen Organisation nach den Muslimbrüdern« (James Dorsey) anwuchsen; allerdings vertieften sich damit auch die inneren Widersprüche. Die neuen Mitglieder brachten nämlich auch Chaos in die Gruppen – es kam beispielsweise zu nicht abgesprochenen Platzstürmen und die Capos verloren mehr und mehr die Kontrolle über ihre Schäfchen. Viele fanden es einfach cool, Ultra und damit Teil der Rebellion zu sein; der Klub war nur noch nebensächlich. Dies muss man keineswegs bedauern, aber für die Ultra-Gruppierungen mit ihrem ausgeprägten Kollektivstolz ist eine vereinigende Klammer unabdingbar. Dies sind normalerweise die Farben des Vereins und für einen kurzen Moment war es der Aufstand mit einem klaren, gemeinsamen Feind, dem Militär.14 Aber schon vor der ersten Wahl nach dem Sturz Mubaraks kamen Streits unter den Ultras auf, beispielsweise darum, welchen Kandidaten sie präferierten.

Die Klammer sollte jedoch wesentlich schneller wieder heften, als ihnen lieb war: 74 Tote und knapp tausend Verletzte waren die Folgen des Massakers von Port Said bei einem Spiel der beiden als Erzrivalen geltenden Fußballklubs al-Ahly Kairo und al-Masry. Nicht nur das Datum – fast auf den Tag genau ein Jahr nach der Kamelschlacht auf dem Tahrir-Platz – deutet auf einen Vergeltungsschlag der Sicherheitsorgane gegen die beim Aufstand hervorstechenden Ultras Ahlawy hin. Aufgrund dieses Ereignisses, das die Ultras als Angriff auf ihr Kollektiv verstanden, betraten sie erneut geschlossen die politische Bühne; zu einer Zeit, in der sie sich intern eigentlich schon längst wieder auf einen Rückzug in die Stadien verständigten. Massive, tagelange Straßenschlachten und Angriffe auf Polizeistationen, aber auch Belagerungen von Banken, Presseerklärungen, Zusammenarbeit mit Anwälten, politische Demonstrationen und mehrwöchige Sit-Ins folgten – gemeinsam mit einem ihrer größten Rivalen, den Ultras White Knights, die ihre Solidarität auf vielfältige Art zum Ausdruck brachten, und anderen außerparlamentarischen Oppositionsgruppen.

Die Rechnung des Militärs schien jedoch aufzugehen: Ein empörter Aufschrei der mittlerweile revolutionsmüden ägyptischen Bevölkerung blieb aus; stattdessen erschallte laut der Ruf nach Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung. Vor allem in konservativen und religiösen Kreisen gelang es, den Ultras die Schuld in die Schuhe zu schieben, sie als Krawallbrüder zu diskreditieren und das Militär erneut als Wahrer der öffentlichen Ordnung ins Spiel zu bringen. Aber auch die organisierten Fußballfans handelten sehr widersprüchlich und gingen trotz eines massiven Aufbäumens letztendlich als Verlierer aus diesem todernsten Spiel fernab des grünen Rasens hervor. Einerseits prangerten sie das Militär für das Massaker an, andererseits kooperierten sie mit den Sicherheitskräften, um Täter zu identifizieren, für die sie auch lauthals die Todesstrafe forderten. Auch ihre Staatsfeindlichkeit zeigte Grenzen. So sehr sie die Staatsorgane verachten, glaubten sie doch daran, mit Hilfe der Justiz Gerechtigkeit herstellen zu können – selbst für eine Reform des Polizeiapparates setzten sie sich ein. Kaum ein ranghoher Polizist und schon gar nicht das Militär wurde letztendlich für das Massaker zur Verantwortung gezogen, aber viele Anhänger von al-Masry – die recht willkürlich dafür verantwortlich gemacht wurden – wurden zum Tode verurteilt, was bei den Ultras in Kairo zu Jubelstürmen und in Port Said, Suez und Ismaila zu schwersten Ausschreitungen mit Dutzenden von Toten und einer Verhängung des Ausnahmezustandes führte. Der Glaube an die Justiz scheint mittlerweile allerdings verloren gegangen zu sein. Nach Zusammenstößen mit der Polizei im Februar 2015, die nun auch bei ihnen mehr als zwanzig Todesopfer forderten, erklärten die Ultras White Knights in einem Facebook-Eintrag schlicht, dass sie mit der Justiz weder zusammenarbeiten werden noch irgendeine Art von Gerechtigkeit von ihr erwarten. Eine Einschätzung, die treffender nicht hätte sein können: Obwohl die Polizei mit Gas und Schrot in die Menge gefeuert und dadurch die tödliche Massenpanik ausgelöst hatte, wurden einige UWK-Mitglieder dafür verantwortlich gemacht und mit unter Folter erpressten Geständnissen zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. Im Juni 2015 wurden alle Ultra-Gruppierungen Ägyptens zu terroristischen Vereinigungen deklariert und verboten. Das deutsche Bundeskriminalamt honorierte diese klare Linie ordentlich: mit einer Schulung für die neue ägyptische Sicherheitsbehörde National Security Sector, inklusive Hospitation beim letzten DFB-Pokalfinale in Berlin.

Ultra per se ist ein recht fragiles Konstrukt, vollkommen abhängig von der sich verändernden Zusammensetzung der Gruppen wie auch den politischen und sozialen Rahmenbedingungen. Besonders deutlich zeigt sich dies an der ägyptischen Szene: in einem Land, das vom Sturz Mubaraks über die Machtteilung zwischen Islamisten und Generälen bis hin zum erneuten Coup des Militärs seine Geschichte des Aufstandes und der Konterrevolte im Zeitraffer durchlebte. Ohne klare Agenda und voller politischer Widersprüche bewegen sich die ägyptischen Ultras darin genauso konfus wie der Rest – aufgrund ihrer Organisationsweise agieren sie aber höchst flexibel. Zum einen verhalten sie sich wie die »sozialen Nicht-Bewegungen« (Asef Bayat) der städtischen Armen und Marginaliserten, also jenen Teilen der Klasse, die häufig nicht streiken können und politisch kaum vertreten werden: Sie eignen sich durch ständige Regelverletzungen den öffentlichen Raum an und verschieben dabei unter anderem repressive Moralvorstellungen. Wenn sich die Gelegenheit bietet, beteiligen sie sich auch an Riots – seit jeher die Kampfform der Ausgeschlossenen und Überflüssigen. Die meisten Ultras agieren außerhalb des Fußballstadions auf diese Art und Weise, auch massenhaft, aber nicht als Ultra-Kollektiv. Der soziale Zusammenhalt steht dabei über der politischen Gesinnung und jeder kann frei entscheiden, inwieweit er sich daran beteiligt. Zum anderen aber übernehmen sie Verhaltensformen von politischen Organisationen und NGOs, etwa Demonstrationen und klare, politisch vermittelbare Forderungen. So flexibel sie ihr Verhalten den äußeren Umständen anpassen, so diffus bleibt die inhaltliche Stoßrichtung. Nicht nur in Geschlechterfragen zeigt sich das deutlich. Einerseits setzten sich Ultras gegen Restriktionen gegenüber Stadionbesucherinnen ein, andererseits berichteten feministische Teilnehmerinnen der Sit-Ins, Ultras hätten ihnen in paternalistischer Manier nahegelegt, um 22 Uhr nach Hause zu gehen und das Rauchen zu unterlassen. Auch kam es im einen oder anderen Fall zu Zerwürfnissen mit anderen außerparlamentarischen Gruppierungen, beispielsweise bei einer Demonstration gegen Militärgewalt: Als Aktivisten Parolen gegen die Muslimbrüder skandierten, versuchten Ultras dies aus Sorge um den Zusammenhalt ihrer Gruppen, die in Anhänger und Gegner Mursis gespalten waren, zu unterbinden. Viele Ultras beteiligen sich als Individuen weiter an den militanten Auseinandersetzungen, teils auch in etwas formelleren Zusammenhängen von (ehemaligen) Ultras, die sich keinem Verein mehr zugehörig fühlen – den Ultras Freedom in den Anfangstagen der Revolution, später an dem durch europäische Anarchisten inspirierten Black Bloc, der als entschiedener Gegner des Mursi-Regimes auftrat, aber den Coup des Militärs im Sommer 2013 begrüßte, und an den Ultras Nahdawy, die bei den neueren Studentenprotesten und den freitäglichen Riots gegen das Militär in den Armenvierteln eine bedeutende Rolle spielen.15 Aktuell kämpfen die verschiedenen Ultra-Gruppen, da seit dem Massaker von Port Said die allermeisten Wettbewerbe unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden, verstärkt um erneuten Einlass in die Stadien und versuchen somit, wieder in die Rolle der Fans zu schlüpfen. Obwohl die organisierten Fans eine nicht unbedeutende Rolle in den Aufständen spielten, hat es wenig Sinn, sie als Speerspitze der Revolte zu glorifizieren. Dafür sind sie politisch viel zu verworren und in letzter Konsequenz wird ihr Verhalten weniger von internen Diskussionen abhängig sein als vom Charakter zukünftiger Aufstände. Ganz sicher befinden sie sich jedoch in direkter Konkurrenz zu einer anderen Kraft, die ebenfalls perspektivlose Subjekte anzieht: dem »Islamischen Staat« und anderen djihadistischen Gruppierungen. Die Ultras bieten nach wie vor ein Bollwerk gegen islamistische Heilsversprechen, wobei sich – glücklicherweise bisher noch sehr leise – vor allem bei den neu hinzuströmenden jungen Wilden aus den Armutsvierteln wachsende Begeisterung für die islamistischen Terrorgangs vernehmen lässt.

1 Vgl. Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft, Arabischer Frühling im Herbst des Kapitals, Kosmoprolet 3 (2011), 16ff.

2 Vgl. dies. (Hg.), Vier Jahre Wirren in Ägypten, Berlin 2015.

3 Den Anfang machten 1995 die African Winners des Vereins Africa in Tunis, die zahlreichen anderen gründeten sich auch dort erst nach der Jahrtausendwende.

4 James Montague, Egypt‘s Politicised Football Hooligans, 2012, online abrufbar unter: aljazeera.com.

5 Connor T. Jerzak, Ultras in Egypt: State, Revolution, and the Power of Public Space, Interface 2 (2013), 245.

6 Ebenda, 243.

7 Es ist nicht ganz klar, ob die Zamalek Girls eine Untergruppe darstellen oder eine eigenständige Ultra-Vereinigung sind. Vgl. hierzu auch: Paul Amar, The Street, the Sponge and the Ultra in Egypt, 2014, online abrufbar unter: projectcontentiouspolitics.files.wordpress.com

8 Philipp Natzke/Georg Maier, Umbruch in Ägypten – Ein Blick über den Nil, Blickfang Ultra 20 (2011).

9 Wahrscheinlich etwas blumig beschreibt dies ein Ultra so: »Es gibt bei uns keine Führer, aber Einzelne, die Treffen leiten und den jüngeren Mitglieder Orientierung geben. Wir haben keine Hierarchie, die Organisatoren sind einfach Leute mit Verstand.« (Maha El-Nabawi, Beyond Football: The Creative Transformation of Egypt‘s Ultras, Egypt Independent, 13.11.2012.

10 Vgl. Mohamed Elgohari, The Ultras Political Role and the State in Egypt, 2013, online abrufbar unter: fordifp.net

11 Ashraf el-Sherif, The Ultras‘ Politics of Fun Confront Tyranny, 2012, online abrufbar unter: jadaliyya.com.

12 Wenige Tage vor dem Aufstand skandierten Ultras beim Basketball-Match zwischen Al-Itihad und Al-Jazira allerdings schon laut »Tunesien, Tunesien, Tunesien«, während sie sich mit den Sicherheitskräften kloppten; die Ultras Ahlawy hissten bei einem Spiel die tunesische Flagge in ihrer Kurve.

13 Allerdings sollte man ihre Rolle auch nicht überbewerten. Zum einen gingen hunderttausende Schüler, Studentinnen, Marginalisierte aus den Slums und viele andere auf die Straße, zum anderen dürften für den vom Militär erzwungenen Rücktritt Mubaraks die Streikdrohungen der Arbeiter am Suez-Kanal mindestens genau so wichtig gewesen sein wie die Straßenschlachten.

14 Dalia Abdelhameed Ibraheem legt in einer Arbeit am Beispiel der Ultras Ahlawy dar, dass eine weitere Klammer für sie der positive Bezug auf die ägyptische Nation darstellt, da sie sich vollkommen affirmativ mit der »glorreichen nationalen« Vergangenheit ihres Vereins identifizieren. Die unkritische Haltung zur Nation war allerdings ein allgemeines Problem der Revoltierenden in Ägypten. Unseres Wissens nehmen die Ultras von Zamalek keine andere Haltung zur Nation ein als die Ultras Ahlawy, obwohl ihr Verein als der der Ausländer und englischen Kolonisatoren gilt. (Vgl. Dalia Abdelhameed Ibraheem, Ultras Ahlawy and the Spectacle: Subjects, Resistance and Organized Football Fandom in Egypt, 2015, online abrufbar unter: dar.aucegypt.edu

15 Die Ultras Nahdawy stellen eine Ausnahme dar. Sie eint eine klare politische Haltung: Sie verorten sich auf Seiten der Muslimbruderschaft und des abgesetzten Präsidenten Mursi.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

footballuprising

Von Ralf Heck (twitter.com/Ralf__Heck). Aktueller Artikel: Die italienische Liga ist längst nicht mehr die schönste der Welt (NZZ am Sonntag 27.01.)

footballuprising

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden