In Tuchfühlung mit dem Gerichtsvollzieher

GRIECHENLAND Die Opfer deutscher Kriegsverbrechen fordern weiter die Pfändung des Goethe-Instituts und anderer Einrichtungen

Tiefe Trauer und Scham empfand Johannes Rau, als er im April mit seinem griechischen Amtskollegen Kostis Stefanopoulos an einer Gedenkfeier in Kalavrita, einem Dorf auf dem Peloponnes, teilnahm. Vor 57 Jahren exekutierten hier deutsche Besatzungstruppen etwa 1.500 Menschen. Nur die Frauen überlebten diese »Sühnemaßnahme«, wie Racheakte gegen die Zivilbevölkerung genannt wurden. Zum ersten Mal besuchte ein deutscher Bundespräsident die Gedenkstätte von Kalavrita. Nur wer seine Vergangenheit anerkenne, könne einen Weg zu einer besseren Zukunft finden, meinte Rau. »Der Präsident entschuldigt sich für die Kriegsverbrechen, ohne die Frage der Entschädigung zu berühren. Eine sehr wohlfeile Entschuldigung«, kommentierte ein griechisches Regionalblatt.

Nur 250 Kilometer Luftlinie von Kalavrita entfernt - auf der anderen Seite des Kanals von Korinth - liegt das Dorf Distomo. Im Sommer 1944 stürmten SS-Panzergrenadiere nach einem Partisanenüberfall den Ort. »Das ganze Dorf ist zerstört«, meldete der Präfekt der Region Böotien nach Athen. Der Schrecken vor weiterer »Vergeltung« saß so tief, dass sich selbst die Ärzte des Roten Kreuzes weigerten, die Opfer zu bergen und zu versorgen. Für Kalavrita hat es später ein Aufbauprogramm gegeben, bei dem griechische Jugendliche eine Berufsausbildung in Deutschland bekamen. Für Distomo hingegen blieb nicht nur jede Wiedergutmachung aus, der Name des Ortes stand noch nie auf dem Besuchsprogramm eines Bundespräsidenten, auch bei Rau nicht. Seine Anwesenheit dort wäre eine in Griechenland seit langem erwartete Geste gewesen und hätte außenpolitisch wohl manche Woge glätten können.

Die Überlebenden von Distomo und die Hinterbliebenen der Opfer des Massakers fordern 56 Millionen Mark Schmerzensgeld - und Deutschland soll zahlen. Der Oberste Griechische Gerichtshof in Athen - der Aeropag - bestätigte Mitte April den Entschädigungsanspruch der 295 Kläger und somit das erstinstanzliche Urteil des Gerichts von Livadia, das bereits 1997 gefällt wurde. Obwohl die deutsche Seite einerseits beim Aeropag Revision beantragt hat, will sie andererseits dessen Entscheidung nicht anerkennen, denn die verstoße, so heißt es, gegen geltendes Völkerrecht und die Staatsimmunität. »Nach diesen Grundsätzen kann ein Staat nicht durch das Gericht eines anderen Staates verurteilt werden«, doziert das Auswärtige Amt. Außerdem: Griechenland habe bereits 1960 im Rahmen eines Globalentschädigungsabkommens 115 Millionen Mark erhalten. Laut Vertrag seien diese Zahlungen hinreichend. Griechenland hingegen betrachtet die Frage der Reparationen als noch längst nicht abgeschlossen, Athen besteht darauf, für zerstörtes Staatseigentum, für Kriegsdarlehen, vor allem aber bei der individuellen Entschädigung von NS-Opfern noch Leistungen beanspruchen zu können. Die Begründung liefert eine Note, die im Jahr 1960 der damalige griechische Botschafter an das Auswärtige Amt richtete und in der es heißt, man behalte sich weitere Forderungen gemäß Artikel 5 Abs. 2 des Londoner Schuldenabkommens von 1953 vor. Darin wurde festgelegt, dass die Regelung von Forderungen gegenüber Deutschland bis nach Abschluss eines Friedensvertrages zurückgestellt werde. Die Wiedervereinigung Deutschlands komme einem Friedensvertrag gleich, meint man nun in Athen. Die Ansprüche müssten demzufolge jetzt erneut geprüft werden. Bereits 1995 hatte die griechische Regierung versucht, die Verhandlungen über Reparationen wieder aufzunehmen. Doch Bonn blockte ab. Nach 50 Jahren habe die Reparationsfrage ihre Berechtigung verloren, hieß es. Das Problem wurde immer wieder vertagt - von beiden Seiten. Für die griechische Außenpolitik beanspruchten die Zypernfrage, die türkisch-griechischen Grenzstreitigkeiten in der Ägäis oder die Aufnahme Griechenlands in die Euro-Zone mehr Priorität. Und hierfür benötigte Athen den Geleitschutz starker EU-Partner.

In letzter Minute

So wären die Entschädigungsfrage wie auch die historisch-politische Aufarbeitung der Okkupation Griechenlands während des Zweiten Weltkriegs weiterhin in der Schwebe geblieben, hätte es nicht die zivilrechtliche Klage der Opfer von Distomo gegeben. Auf Betreiben von Ioannis Stamoulis, des Anwalts der Kläger, kam im Juli die Gerichtsvollzieherin ins Athener Goethe-Institut. Auf der Pfändungsliste standen als nächstes das Deutsche Archäologische Institut und die Deutsche Schule. Deren Vermessung und Inventarisierung wurden in letzter Minute durch eine einstweilige Verfügung von der deutschen Botschaft gestoppt. »Den Verlust eines Familienangehörigen kann keine finanzielle Entschädigung ungeschehen machen«, sagt Ioannis Stamoulis. Die Entschädigung bedeute für ihn in erster Linie, dass die NS-Verbrechens von deutscher Seite als solche anerkannt und verurteilt würden. Daher sei eine politische Lösung der Reparationsfrage durch ein zwischenstaatliches Agreement für alle das Beste. »Doch sollte eine solche Lösung ein juristisches Fundament haben.« Stamoulis hat vorsorglich beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg Beschwerde gegen Deutschland und Griechenland eingelegt. Damit will er den Artikel 923 der griechischen Zivilprozessordnung außer Kraft setzen lassen, wonach eine Pfändung ausländischen Staatseigentums der Unterschrift des griechischen Justizministers bedarf. Weil die nicht vorlag, konnten die Rechtsanwälte der deutschen Botschaft mit ihrem Widerspruch die für den 27. September angesetzte Zwangspfändung des Goethe-Instituts vorerst verhindern.

»Eine Fixierung auf finanzielle Wiedergutmachung wird dem Gegenstand, um den es dabei geht, überhaupt nicht gerecht«, glaubt der ehemalige Direktor der Deutschen Schule in Athen. Knut Koch bezweifelt, ob man heute in Deutschland Forderungen, die mehr als ein halbes Jahrhundert zurückliegen, noch verstehen könne. Koch sitzt inmitten von Umzugskisten. Aus gesundheitlichen Gründen ist er frühzeitig pensioniert worden. Seine Dienstwohnung liegt in einem der nördlichen Nobelvororte Athens, unweit der Deutschen Schule. Mehr als 70 Prozent seiner Schüler sind Griechen. Ihre Eltern fragen nun beunruhigt, ob der Unterricht weiter stattfinden werde. In seiner sechsjährigen Dienstzeit hat Koch mit Schülern und Lehrern an jeder Gedenkfeier in Kalavrita teilgenommen, allerdings gab es dabei kaum jemals einen direkten Kontakt zu den Hinterbliebenen, was Koch bedauert. Es sei für ihn beeindruckend gewesen, die noch immer tiefe Betroffenheit der Kalavriter über die vor 57 Jahren begangenen Verbrechen zu spüren.

Wie die Deutsche Schule fühlt sich auch das Deutsche Archäologische Institut (DAI) völlig zu Unrecht von den Querelen tangiert. Als das Institut 1874 seine Außenstelle in Athen eröffnete, argumentierte der Deutsche Reichstag in seinem Beschluss, mit dieser Gründung könnten nicht nur neue archäologische Erkenntnisse vermittelt werden - dank der Wissenschaft ließe sich auch mehr politischer Einfluss in dieser Region Südosteuropas gewinnen. Nachdem das DAI 1944 in Athen beschlagnahmt wurde, waren es vor allem griechische Archäologen, die sich nach Kriegsende für die baldige Rückgabe des Instituts an die Bundesrepublik Deutschland einsetzten. »Wir Archäologen können für uns in Anspruch nehmen, die Kontakte, die jeder Staat zu einem anderen braucht, durch Kultur und Wissenschaft gefördert zu haben«, ist Direktor Klaus Fittschen überzeugt - das werde jetzt aufs Spiel gesetzt, wenn beide Seiten die Gerichte bemühten.

»Normales« Kriegsgeschehen

Die Haltung der Bundesregierung ist unmissverständlich und unversöhnlich. »Die Reparationsfrage ist gelöst und erledigt, aber wir Europäer schauen gemeinsam vorwärts«, insistiert der deutsche Botschafter in einem Gespräch mit der Athener Zeitung. Längst hat sich die Sprache der Diplomatie in diesem Konflikt einen kräftigen Ton zugelegt. Presseberichte, die von einem deutschen Druck auf die griechische Regierung sprechen, kommentiert Botschafter Kuhna so: »Der einzige Druck, der auf Griechenland ausgeübt wird, kommt von den Klägern.« Deutschland befürchtet einen Präzedenzfall und somit weitere Klagen - nicht nur von griechischer Seite. Man spielt also auf Zeit. Mittlerweile hat das Athener Landgericht die zitierte einstweilige Verfügung verlängert. Gepfändet wird nicht, aber das Urteil des Aeropag bleibt weiterhin bestehen. Eine Hauptverhandlung im Herbst 2001 wird sich dann mit dem deutschen Antrag auf Suspendierung des Livadia-Urteils von 1997 auseinandersetzen. Der Bundesgerichtshof hingegen soll schon im kommenden November die Forderung der Opfer von Distomo behandeln. Parallel zur Klage von Livadia haben sie beim Landgericht Bonn und in zweiter Instanz beim Oberlandesgericht in Köln auf Schadensersatz geklagt. Der Bundesgerichtshof muss nun klären, ob es sich bei dem Massaker in Distomo um »normales Kriegsgeschehen« handelte, was Entschädigungen ausschließen würde. Sollte das Gericht allerdings zu dem Schluss kommen, es handelte sich um ein Verbrechen, müsste wohl gezahlt werden.

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