Vor dem Abriss

THEATER Nachchruf auf eine Kultstätte

Auch Kultstätten haben eine geringe Halbwertzeit. Die winterliche Sonne an diesem Vormittag bringt es unweigerlich an den Tag. Die weißgestrichene Fassade des einstigen Talentschuppens weist hier und da Rostflecken auf, traurig blättert seine Farbe ab. Über dem verriegelten Gittertor ist die Inschrift deutlich zu erkennen: BARACKE. Nichts erinnert mehr daran, dass hier noch im vergangenen Sommer Theater gemacht wurde. Das fahrende Volk ist weiter gezogen. Zurück blieb ein Container auf verlorenem Posten; sein Anblick ein stummer Vorwurf gegen die Herzlosigkeit der Theaterwelt, die sich bekanntlich auf den flüchtigen Augenblick gründet.

Dabei fing alles so vielversprechend an. Damals im Dezember 1996 wurde die Baracke als Spielraum und Experimentierbühne eröffnet. Der Nachwuchs sollte eine Chance bekommen. Thomas Ostermeier, Jens Hillje und Stefan Schmidke übernahmen die künstlerische Leitung. Kurzer Hand erklärten sie ihre an eine Pappschachtel erinnernde Bühne zu einem multiplen Aktionsraum. Hier wurde an "zeitgemäßen Darstellungsformen und Erzählstrategien" gewerkelt, Podiumsdiskussionen, Konzerte und szenische Lesungen als Teil der Recherche nach einem zeitgenössischen Theater deklariert. In der Baracke waren die Klassiker verpönt, dafür aber die jungen, wilden Autoren aus Großbritannien hoch willkommen. Damit war man am Puls der Zeit, denn spätestens seit dem Kino-Hit Trainspotting wollte alle Welt wissen, weshalb die Kinder der Thatcher-Ära so zornig und destruktiv mit sich und anderen umgehen. Doch die well-made plays von Sex und Gewalt waren vor allem sinnstiftend, stand doch am Ende der vorgeführten Selbstzerstörungsrituale die Versöhnung des Individuums mit einem allseits enthemmten Kapitalismus. Die theatralische Hausse einer heillosen Welt von Strichern, Fixern und Aussteigern stellte zusehends das stuckverzierte und mit rotem Samt ausgeschlagene Deutsche Theater in den Schatten. Nicht nur das Publikum, jung und alt, strömte in die Baracke, sondern auch die Theaterkritiker. Sie kürten 1998 die Baracke zum "Theater des Jahres".

Kurz war der Sommer der Anarchie. Er endete an der Schaubühne am Lehniner Platz, dieser Bastion eines bürgerlich-aufgeklärten Theaters inmitten der Schaufensterwelt des Kurfürstendamms. Vorbei auch das lustige Treiben zwischen Bühne und Acke-Bar, wo sich nach der Vorstellung das junge Volk mit der Bierflasche in der Hand und leuchtenden Augen den Akteuren näherte. Zwischen Garderoben-, Bar- und Bühnencontainer lag ein Hauch von jugendlichem Übermut in der Luft. Erwachsenwerden war noch in ferner Zukunft. "Der verweigerte Vatermord" hieß eines der Themen in der Baracken-Diskussionsreihe. Doch warum sollten die pragmatischen Kinder der 68er-Revoluzzer das blutige Geschäft des Vatermords betreiben? Die Väter, wie König Lear müde geworden vom Regieren, übergaben ihr Reich der Schatten den dankbaren Söhnen und Töchtern. Bleibt nur die Frage, was aus der inzwischen verwaisten Talentschmiede, wo das Theaterwunder einst geschah, nun werden soll. "Die Baracke? Die soll demnächst abgerissen werden, da kommt ein neues Haus hin", tönt es kaltherzig aus dem Pförtnerhäuschen des Deutschen Theaters. Ach!

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