Das Projekt der Multitude

Gegen den Souverän Antonio Negri und Michael Hardts Buch"Multitude" krankt an einer Vermischung von philosophischer Theorie und politischer Debatte, an falsch historisierendem Marxismus und an mangelnder wissenschaftlicher Sorgfalt. Das wirkliche Potenzial des Textes liegt dort, wo man es nicht vermutet

Ferdinand Tönnies, einer der Begründer der Soziologie und ein Vordenker des rechten Flügels der klassischen deutschen Sozialdemokratie, hat die Problematik der politischen Philosophie der Neuzeit, wie sich nämlich die Herrschaft menschlicher Individuen über andere menschliche Individuen erklären und zugleich rechtfertigen lasse, einmal mit einer Bemerkung beiseite gewischt: Wir wüssten doch inzwischen, dass wirkliche Gesellschaften nicht aus Individuen bestünden, sondern aus Kollektiven - und dass die Geschichte deswegen allein von letzteren, etwa von Klassen oder Nationen, gemacht würde.

Diese These gehört einer vergangenen Epoche an. Auch ohne uns dem "methodologischen Individualismus" zu verschreiben, der den individuellen Privateigentümer als homo oeconomicus zur verpflichtenden Referenz für alle sozialwissenschaftliche Forschung erheben will, können wir heute erkennen, dass dieser "Kollektivismus" theoretisch falsch ist und praktisch verheerend wirkt. Diese wichtige Einsicht bildet den Ausgangspunkt für den Versuch von Antonio Negri und Michael Hardt in ihrem neuen Buch Multitude - Krieg und Demokratie im Empire, aus dem bei Hobbes und Spinoza theoretisch wichtigen Begriff der multitudo einen für die Gegenwart triftigen Begriff der "Multitude" zu gewinnen, um so der auch in der Linken wirksamen Tradition der Orientierung auf den "einen Souverän" entgegenzutreten. Dieser Begriff soll erklärtermaßen nicht weniger leisten, als "dem Begriff des Proletariats ... seine weiteste Fassung zu geben". Der Grundgedanke, dem die Autoren dabei nachgehen, lässt sich dahingehend zusammenfassen, dass gemeinsame Handlungsfähigkeit auch ohne "Vereinheitlichung" gewonnen werden kann, ohne ein klar definiertes Zentrum oder einen allseitig anerkannten Hegemon - also ein Gedanke, wie er sich in den Erfahrungen der wirklichen sozialen Bewegungen der letzten Jahrzehnte vielfach bewahrheitet hat.

Negri und Hardt sind zum Teil selbst verantwortlich dafür, dass die Rezeption ihrer philosophischen Vorstöße, wie auch in Empire, auf erhebliche Hindernisse stößt. Sie versichern zwar selbst abstrakt, ihre Argumentationen seien nicht als eine konkrete politische Programmatik zu verstehen, zugleich greifen sie aber beständig in politische und wissenschaftliche Debatten ein, die um die Frage kreisen, wie ein wirklich zeitgenössisches politisches Programm der Linken heute auszusehen hätte.

Eine Korrektur dieser Fehlentwicklung beginnt mit einer anderen Lektüre. In diesem Sinne beginne ich einfach damit, im jetzt neu vorgelegten grandiosen Entwurf, den Hardt und Negri vorgelegt haben, an ausgewählten Punkten philosophische Sondierungen vorzunehmen.

Dialektischer Taumel

Eine zentrale, wenn auch verdeckte Rolle in Hardt/Negris Konstruktion spielt eine seit Leibniz virulente ›dialektische Logik‹. Für sie ist das Verhältnis von Identität und Differenz zentral. Nur vor diesem Hintergrund ist es nicht einfach trivial, wenn Hardt/Negri feststellen, dass es gemäß der "Definition der Multitude ... keinen Gegensatz zwischen Singularität [d.h. einer Identifizierbarkeit als selbiges, FOW] und Gemeinsamkeit gibt". Und nur vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, warum sie gar nicht dazu in der Lage sind, die von ihnen selbst postulierte Differenz zwischen philosophischen Untersuchungen, wissenschaftlichen Forschungen und politischen Debatten in ihrem weiteren Text durchzuhalten: Jede Darstellungsweise - ganz gleich ob die des Dichters, der Wissenschaftlerin - oder des Wissenschaftlers unterliegt für sie dem "dialektischen Taumel", wie ihn Hegel in seiner Phänomenologie postuliert und vorgeführt hat. Da ihnen als Materialisten das absolute Wissen der hegelschen Geistphilosophie abhanden gekommen ist, die Form eines historistischen Taumels dominiert, argumentieren sie darin, ohne jemals bei der wirklichen Globalisierung oder in der wirklich existierenden politischen Debatte der weltweiten "sozialen Bewegung" ankommen zu können.

Das ist zu bedauern. Denn das von Hardt und Negri thematisierte Anliegen ist unbestreitbar wichtig, sogar von zentraler Bedeutung: In der Tat wird es im kommenden Jahrzehnt darum gehen, das identifizierbare Subjekt politischen Handelns in einer konkreten historischen Situation sowohl plural als auch einheitlich zu konzipieren, sowohl theoretisch als auch ganz praktisch - das heißt als gemeinsames Handeln vieler Identitäten, die sich auf gemeinsame Interessen stützen und gemeinsame Ziele und Zwecke verfolgen, ohne deswegen ihre eigene Identität als Individuen oder Gruppen irgendwie aufzugeben.

Zugleich wird es auch darum gehen, konkret zu begreifen, wie sich die unterschiedlichen Subjekte von Widerstand und gegenläufiger Praxis der weltweit und in alle Gesellschaftsbereiche hinein immer weiter ausgreifenden Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise entgegensetzen, und wie sie daraus ein Zusammenwirken ihrer politischen Projekte entwickeln können. Dafür ist das unvermittelte "Vorlaufen zum einen Ganzen", wie es in letzter Instanz in dem Gedanken der Multitude vollzogen wird, allerdings nicht hilfreich.

Liberale Legenden

Was die beherrschte Klasse tut, wenn sie kämpft, und wie sich dies in unterschiedlichen Produktionsweisen darstellt, ist bisher wenig untersucht worden.

Die Frage nach den Voraussetzungen, Bedingungen und Strukturen eines globalen Zusammenhandelns der Menge der Vielen steht also in der Tat auf der Tagesordnung. Wir sollten sie aber aus ihrer identifikatorischen Behandlung lösen, die sie in Hardt/Negris Philosophie der Arbeit erfährt, und ebenfalls sollten wir sie abtrennen von der These, Biopolitik sei die gegenwärtige hegemoniale Form der gesellschaftlichen Arbeit. Diese Identifikationen ziehen ihre Plausibilität vor allem daraus, dass sie traditionelle liberale Ideologeme zurückweisen, die in dem offiziellen Marxismus, auf den sich Negri eben doch vor allem zurückbezieht, faktisch unkritisiert überlebt hatten.

Das beginnt bereits mit dem Modell, an dem sie den gegenwärtigen Übergang verdeutlichen wollen. Sie setzen ihn parallel zu dem theoretischen Einschnitt, den Hobbes zwischen De Cive und dem Leviathan vollzogen hat. Es ist aber irreführend, den von Hobbes damals gemachten philosophischen Schritt auf die Differenz von ›Artikulation der Perspektive der aufsteigenden Kapitalistenklasse‹ und ›Ruf nach dem Souverän‹ abbilden zu wollen: Der Leviathan argumentiert sogar noch deutlicher aus der besitzindividualistischen Perspektive dieser aufsteigenden, damals ihre ersten erfolgreichen Revolutionen durchführenden Klasse, und De Cive beruht noch deutlicher auf einer monarchistischen Position. Was diese Art von Hobbeslektüre nicht begreift, ist die durchdringende Einsicht in die Grundstruktur von Gesellschaften, "in welchen die kapitalistische Produktionsweise herrscht", mit der Hobbes die Durchsetzung der besitzindividualistischen begriffenen ›gleichen Freiheit‹ und die Errichtung einer souveränen Staatsgewalt zusammengedacht hat.

Demgegenüber bleiben Negri und Hardt in der letztlich liberalen Vorstellung befangen, die aufsteigende Kapitalistenklasse sei nicht auf den souveränen Staat angewiesen, sondern ihre Abhängigkeit von der politischen Gewalt trete erst ›in einer späteren Phase‹ auf. Das passt dann zusammen mit anderen liberalen Legenden, die durch ihre Argumentationen spuken. Der Legende zum Beispiel, es habe eine Phase des Kapitalismus gegeben, in der die Methoden der gewaltsamen ›ursprünglichen Akkumulation‹ keine Rolle gespielt hätten, oder in der sich der Umstand, "dass die kapitalistische Produktionsweise herrscht", nicht auf alle Bereiche der Gesellschaft bezogen hätte.

Marx richtig lesen

Ein springender Punkt in diesem Weiterwirken unverdauter liberaler Vorstellungen aus dem Marxismus der II. und III. Internationale ist das von Hardt und Negri formulierte Verständnis von ›abstrakter Arbeit‹. Ohne jeden Begriff von ›Formbestimmung‹ - Hardt und Negri reden zwar viel von ›Formen‹ der Arbeit, verwenden diesen Ausdruck jedoch theoretisch unspezifisch, etwa im Sinne von ›Modell‹ oder ›Variante‹ - ist es nicht möglich, überhaupt zu thematisieren, worum es im Marxschen Bergriff der ›abstrakten Arbeit‹ geht: um die strukturell herrschaftliche Gesellschaftlichkeit der kapitalistischen Produktionsweise. Diese ergibt sich aus dem Kapitalverhältnis, in dem das Kapital dem ›doppelt freien Lohnarbeiter‹ gegenübertritt - und ihn aufgrund eines Vertrags beherrscht und ausbeutet, das heißt in einem marktvermittelten nicht-personalen Herrschaftsverhältnis. Das ist für dieses Buch deswegen zentral, weil in ihm der Begriff der Multitude eben auch strategisch auf den Gesamtzusammenhang der gesellschaftlichen Arbeit bezogen wird: "Die Multitude setzt sich potenziell aus all den verschiedenen Gestalten der gesellschaftlichen Arbeit zusammen", wobei jedenfalls der "neuen und heute dominanten Form der Arbeit" als "Hauptmerkmal" die "Produktion des Gemeinsamen" zugeschrieben wird.

Hardt und Negri bleiben der paläomarxistischen Ansicht verhaftet, Marx rede vom späten 19. Jahrhundert und für unsere Zeit müsse die Theorie ganz neu gemacht werden. Daher, können sie sich Marx´ Kritik der politischen Ökonomie nicht mehr theoretisch zunutze machen: Kaum sind sie beim Begriff der "abstrakten Arbeit" als "Quelle des Werts im Allgemeinen" (S. 165) angelangt, stellen sie bereits "schnell" einen wichtigen "Unterschied zwischen den Zeiten von Marx und den unseren" fest: "Die Arbeitszeit als Grundmaß des Werts macht heutzutage keinen Sinn mehr" (S. 166). Der von Hardt und Negri für diese Behauptung angeführte Grund liegt aber auf der Ebene der konkreten Arbeiten und geht damit am Kern der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie als Kritik der herrschenden ökonomischen Verhältnisse und Formen ganz einfach vorbei. Stattdessen greifen sie auf einen originellen Theorien-Mix zurück, in dem sich Foucaults Konzept der Biomacht mit einem doch stark lebensphilosophisch respektive romantisch aufgeladenen Projekt einer Biopolitik vermischt. Ich denke, das ist jedenfalls nicht ihre starke Seite. Ihre Stärke liegt vielmehr darin, das fortwirkende Erbe der neuzeitlichen Souveränitätstheorie des Politischen auch in den Traditionen der Linken und in zeitgenössischen Demokratietheorien problematisiert und im Ansatz überwunden zu haben. Das ist schon ein enormer Schritt. Aber hier wäre auch kritisch weiterzuarbeiten.

Es steht zu befürchten, dass in vielen Bereichen, in denen Mutitude gelesen wird, gerade die Schwächen des Buches auf Zustimmung stoßen werden: Erlauben sie es doch, sich relativ komfortabel in einem schattenhaften "Zwischenreich" einzurichten, in dem weder die Schärfe wirklicher philosophischer Auseinandersetzungen, noch der Ernst politischer Debatten bestimmend ist. In diesem "Zwischenreich" geht es übrigens auch nicht um die Mühen wirklicher wissenschaftlicher Forschung. In ihm scheinen eher Verhältnisse zu bestehen, wie in der kleinen Geschichte von Mark Twain über einen Yankee, der beständig anbot, mit 1000-Dollar-Noten zu zahlen. Da niemand darauf herausgeben konnte, kam der Yankee auch nie in die Verlegenheit zu zahlen.

Es wäre schade, wenn der richtige Grundgedanke von Hardt und Negri in einen derartigen Theoriebankrott mit hineingezogen würde. Gerade deswegen ist es so wichtig, die multitudo wieder in den Kontext zu stellen, in dem sie im 17. Jahrhundert als Ausgangspunkt einer politischen Philosophie auf der Grundlage der ›gleichen Freiheit‹ konzipiert worden ist, ohne diesen Grundgedanken dabei wieder ›souveränistisch‹ einzuengen: als die konstituierende Bezugsgröße, auf die sich jede Staatsgewalt zurückbeziehen muss, um sich selbst erklären und legitimieren zu können - und darüber hinaus als Grundlage des Projektes einer Demokratie als auf Dauer gestellter gemeinsame Selbstbestimmung aller.

Hardt und Negri haben die juristische Ideologie dekonstruiert, den Gedanken von dem einen Souverän als Schöpfer von Recht und Staat "aus dem Nichts". Das ist wirklich weiterführend. Dieser Grundgedanke bedarf aber, um konkret zu werden, der Bezugnahme auf vielfältige theoretische Analysen, vor allem von sozialen Bewegungen, Klassenverhältnissen und zivilgesellschaftlichen Strukturen politischer Herrschaft. Aber ihn als solchen in aller Schärfe neu gefasst und in die philosophische Debatte wieder eingebracht zu haben, bleibt ein unbestreitbares Verdienst, das sich Hardt und Negri allerdings mit der wirklichen Bewegung teilen müssen, deren Wünsche und Ziele sie in diesem wesentlichen Punkt überzeugend artikulieren.

Dieser Text ist die leicht veränderte und gekürzte Version eines Artikels, der Ende Dezember in der Zeitschrift Widerspruch, Heft 47 Agrobusiness - Hunger und Recht auf Nahrung, erscheinen wird.


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Geschrieben von

Frieder Otto Wolf

Ich lehre als Honorarprofessor Philosophie an der Freien Universität Berlin, bin Mitinitiator des Forums Neue Politik der Arbeit und Humanist.

Frieder Otto Wolf

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