Der spektakuläre Auftritt des französischen Philosophen Alain Badious in Berlin, der zu Beginn des Jahres in den Kunst Werken über "Art and Politics" sprach, hat es gezeigt: Die postmoderne Skepsis gegenüber den Rundumschlägen und dem Prinzipiellen, die sie als "große Erzählungen" kritisierte, hat sich erschöpft. In der zeitgenössischen öffentlichen Debatte breitet sich ein neuer Ton des "Willens zum Wissen" aus. Sollte das etwa heißen, dass jede Art von Skepsis damit erledigt wäre?
Der Begriff der Skepsis als philosophischer Grundhaltung entstammt einer historischen Epoche, in der die Philosophie in der gesamten "bekannten Welt" als eine überschaubare Konstellation philosophischer Grundhaltungen organisiert war. Diese Grundhaltungen wurden nach der in ihnen vollzogenen Wahl bezeichnet, als hairesis, wovon sich dann der theologische Begriff der Häresie ableitete.
Der große Philosoph Pyrrhon von Elis (270 v.u.Z.) hat in jener Konstellation den anderen philosophischen Grundhaltungen, welche jeweils eine bestimmte Auffassung, ein dogma, vertraten, die Haltung der Untersuchung, skepsis, entgegengesetzt. Sie beruht auf dem Zweifel, dass Menschen zu wahren Antworten auf die von der Philosophie aufgeworfenen Fragen gelangen können. Deswegen "wählt" der Skeptiker die Haltung der beständig weiterzuführenden Untersuchung - und wirft den anderen Philosophien ihren "Dogmatismus" vor.
In der westeuropäischen Neuzeit hat das Modell der Skepsis eine Radikalisierung erfahren: In Auseinandersetzung mit den Antworten auf die kartesische Frage nach dem Charakter der objektiven Realität hat David Hume die "skeptische" These formuliert, unsere philosophischen Ansichten über die Realität beruhten letztlich nur auf unseren eigenen Gewohnheiten. Immanuel Kant sprach davon, die Lektüre von Hume habe ihn aus seinem "dogmatischen Schlummer" geweckt. Unter der Voraussetzung, dass es unterschiedliche philosophische Grundhaltungen gibt, zwischen denen ihre VertreterInnen beanspruchen, eine rational begründete Wahl getroffen zu haben, besteht die Pointe dieser Skepsis eben darin, genau diese Wahl abzulehnen.
In dieser Verweigerung liegen aber zwei verschiedene Momente: Die Verweigerung der Wahl als solcher und die Bestreitung der Rationalität der für die Wahl von den unterschiedlichen DogmatikerInnen vertretenen Gründe. Wer zu dieser Unterscheidung nicht in der Lage wäre, der müsste aus dem schwer bestreitbaren Tatbestand, dass die philosophischen DogmatikerInnen allesamt keine hinreichenden rationalen Gründe für die von ihnen getroffene Wahl vorbringen, die ziemlich problematische Schlussfolgerung ziehen, dass die einzige rational mögliche Haltung die skeptische Enthaltung von jeder Wahl zwischen philosophischen Grundhaltungen ist.
Diese "quietistische" Schlussfolgerung ergibt sich aber keineswegs, wenn wir die vorgeschlagene Unterscheidung zwischen Verweigerung der Wahl und Bestreitung der Geltung der Gründe voraussetzen: Indem wir die Art von Fragen - etwa die nach einem allgemeinen Grund der Wirklichkeit der neuzeitlichen "Dogmatismen" oder die der hellenistischen "Dogmatiker" nach einem allgemeinen Wahrheitskriterium - ganz grundsätzlich von der Art von Fragen unterscheiden, wie sie bei der Artikulation einer philosophischen Grundhaltung überhaupt gestellt und beantwortet werden müssen, wie etwa die nach dem Status philosophischer Thesen und Begriffe.
Im Lichte dieser Unterscheidung wird deutlich, dass wir nicht allein deswegen wählen müssen, weil wir in unserem Leben immer schon gewählt haben, bevor wir darüber nachzudenken beginnen - und ebenso wenig immer schon irgendwelche Gründe als "gut" akzeptieren müssen. Selbst wenn wir uns hier auf diejenigen Menschen beschränken, die ihrerseits beschlossen haben, sich an den Auseinandersetzungen zwischen philosophischen Positionen zu beteiligen, können wir dem Anspruch wirksam argumentativ entgegentreten, jeder Teilnehmer müsse immer schon Position beziehen und dürfe sich nicht skeptisch enthalten. Hegels entsprechendes Diktum "Die Angst vor dem Irrtum ist die Angst vor der Wahrheit!" bleibt eine unbegründete Anmaßung.
Denn wir können wiederum zwischen der sich ereignenden Evidenz von "letzten Wahrheiten" unterscheiden und den "einfachen Wahrheiten", um die es in alltäglichen politischen oder ästhetischen beziehungsweise in wissenschaftlichen Diskussionen geht. Die spezifische Pointe liegt in der These, dass alle in authentischen Wahrheitsereignissen sich als evident erweisenden wichtigen Wahrheiten wahr sind, ohne sich auszuschließen. Diese These scheint nur auf den ersten Blick gegen die Haltung der Skepsis zu sprechen: Wenn alle Grundhaltungen auf ihre Weise wahr sind, dann gibt es doch scheinbar keinen Grund mehr dafür, sich der Wahl zwischen ihnen zu enthalten.
Dieser Eindruck beruht jedoch auf einer Täuschung: Die Wahrheit dieser Grundhaltungen ist gemäß dieser These daran gebunden, dass sie dem Wählenden in einem Wahrheitsereignis evident geworden ist. Demgegenüber lassen sich drei mögliche Haltungen einer Skepsis auseinanderlegen: eine Verweigerung der Evidenz eines eingetretenen Wahrheitsereignisses - was rational kaum vertretbar wäre, eine Haltung der fortgesetzten Suche nach einem evidenten Wahrheitsereignis, das noch nicht eingetreten ist, und eine Haltung, die auf einem evidenten Wahrheitsereignis im Sinne der Skepsis beruht. Die erste Haltung, eine dezisionistische Skepsis, bedeutet zumindest den Ausstieg aus der gemeinsamen menschlichen Rationalität und wäre in rationaler Hinsicht selbstzerstörerisch und daher als argumentativer Anspruch illegitim. Die zweite Haltung, die wir als zetetische Skepsis bezeichnen können, ist dagegen in ihrer Legitimität kaum zu bestreiten. Nur die dritte Art von Skepsis stellt uns vor ein Problem: Ist eine derartige dogmatische Skepsis auf rationaler Grundlage überhaupt möglich oder ist sie als Haltung derart inkonsistent, dass sie gar nicht erst wirklich zustande kommen kann?
Aus der Geschichte der philosophischen Analysen zum Skeptizismus können wir immerhin wissen, dass die Antwort auf diese Frage davon abhängt, wie wir das Problem der Reflektionsniveaus lösen: Ein dogmatischer Skeptizismus, der einfach in der globalen These bestünde, gegenüber allen inhaltlichen Grundfragen sei die Haltung der Skepsis zu wählen, würde sich in der Tat diskursiv selbst zerstören: Es genügt, die These auf die Haltung des dogmatischen Skeptizismus selbst anzuwenden, damit dieser sich in destruktive Widersprüche verwickelt. Aber das ist wohl kaum eine adäquate Wiedergabe einer skeptischen Haltung, welche auf einem entsprechenden evidenten Wahrheitsereignis beruht. Auf der Reflektionsebene wird dort doch anerkannt, dass die Haltung der Skepsis auf einem evidenten Wahrheitsereignis beruht, während auf der Gegenstandsebene skeptisch die Geltung aller anderen Haltungen als zu hinterfragen eingestuft wird. Dies ist zwar womöglich gegenüber den anderen Haltungen "unfair", es ist aber weder inkonsistent noch illegitim.
Wenn wir an dieser Stelle näher hinschauen, können wir ein Kriterium dafür gewinnen, welche Arten einer dogmatischen Skepsis als legitim und sogar als gesellschaftlich unverzichtbar gelten müssen: Das schlichte Hinterfragen von Antworten in dem Sinne, dass ihrer behaupteten Geltung einfach die Zustimmung verweigert wird, kann dafür allerdings nicht reichen. Eine derartige voluntaristische Variante der dogmatischen Skepsis liefe in der Praxis des Argumentierens auf die Dauer auf das Gleiche hinaus wie die Haltung der dezisionistischen Skepsis - und kann daher auch legitimerweise die gleichen Reaktionen auslösen. Das stellt sich jedoch in dem Moment ganz anders dar, in dem ein derartiges Hinterfragen nicht mehr nur, auf einem bloßen "trockenen Versichern" (Hegel) beruht, sondern dazu in der Lage ist, besondere Fragestellungen, Gesichtspunkte und Gründe für die Verweigerung der Zustimmung beizubringen.
Auch aus der Perspektive von VertreterInnen einer "dogmatischen" Position, welchen die konkret vorgebrachten Fragestellungen, Gesichtspunkte und Gründe nicht einleuchten, ist dies eine Haltung, die systematisch dazu beiträgt, die geführte Debatte zu bereichern. Einer solchen produktiven Variante der dogmatischen Skepsis werden auch diejenigen, die sie nicht wählen, nicht die Legitimität als eine rational wählbare Grundhaltung absprechen können: Indem das Wahrheitsereignis der dogmatischen Skepsis in eine Haltung umgesetzt wird, die dazu geeignet ist, die rationale Qualität der gesamten Debatte zu heben, verschafft sie sich eine unbestreitbare Legitimität.
Wir müssen allerdings noch einmal unser Bild der Skepsis komplizieren, indem wir zwei Grundsituationen einer Auseinandersetzung um wichtige Wahrheiten unterscheiden - eine Situation, in der es nur um Wahrheit als solche geht, und eine Situation, in der dieser Streit um Wahrheiten mit konkreter Machtpolitik verflochten ist. Jedenfalls unter gesellschaftlichen Verhältnissen, die von Herrschaftsverhältnissen geprägt sind, erfordern Situationen, in denen Auseinandersetzungen um Wahrheiten mit Kämpfen um Machtverhältnisse verknüpft sind, einen besonderen Umgang mit der Position der Skepsis. Es mag zwar Auseinandersetzungen um die Seinsweise von Zahlen geben, die relativ frei von Machtbezügen geführt werden - aber alle Auseinandersetzungen gerade um sog. "wichtige Fragen" haben faktisch auch eine machtpolitische Dimension und einen herrschaftspolitischen Einsatz.
In einer derartigen Situation liegt es nahe, die skeptische Wahl der Verweigerung jeder Wahl als eine politische "Drückebergerei" zu interpretieren. Doch selbst abgesehen von den Problemen, in die sich ein politisches Parteinahmegebot verwickeln würde, stellt sich diese Situation, näher betrachtet, selbst als paradox dar: Wenn wir nämlich die Art und Weise reflektieren, in der Wahrheits- und Machtfragen generell verflochten sind. Ihr Zusammenhang ist oft als "ideologisch" bezeichnet worden. Auch wenn damit noch nicht viel gedacht ist, macht diese Kennzeichnung auf den Tatbestand der Verkehrung aufmerksam, dem in dieser Art von Verhältnissen Gedanken und Argumente immer wieder unterworfen werden. Es wäre daher jedenfalls ein schlechter Rat für die macht- und gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen, wenn empfohlen würde, diese auf die Wahl zwischen philosophischen Grundpositionen zuzuspitzen - also auf genau diejenige Wahl, die jeder dogmatische Skeptizismus verweigert - und die Machtfragen und Verkehrungseffekte im diskursiven Material zu vernachlässigen. Das sollten wir als einen Hinweis darauf nehmen, dass auch in dieser Hinsicht die vom Skeptizismus vertretene Verweigerung der Wahl eine nützliche, nämlich spezifisch "anti-ideologische" Funktion hat.
Wir können daher nicht einfach die postmoderne Skepsis als historisch erledigt am Wegrand liegen lassen, wenn wir jetzt wieder zu "neuen Ufern" aufbrechen. Wir können und müssen von ihr lernen: als ein kritisches, sich Kurzschlüssen verweigerndes Moment diskursiver Konstellationen, das einen wichtigen Beitrag dazu leisten kann, dass wir uns für unsere grundlegenden Entscheidungen die nötige Zeit nehmen und auch die Grenzen und Lücken in unseren eigenen Begründungen nicht verdrängen - und damit offen bleiben für Korrekturen und Umorientierungen. In den Wissenschaften wird derart die Möglichkeit einer Widerlegung von Ergebnissen präsent gehalten, in der Politik eine Orientierung auf die Korrigierbarkeit von Fehlern, in der Kunst die Möglichkeit kreativer Neuanfänge - und in der Philosophie ihre Offenheit für neue Fragen und auf sie antwortende Thesen. Auch wer sich die Haltung der Skepsis nicht selber als "wahr" zu eigen machen und für sich selber annehmen will, wird daher anerkennen müssen, dass die Skepsis anderer einen unverzichtbaren Beitrag zu einem gesellschaftlich produktiven Umgang mit Wahrheiten leistet, indem sie Fallibilität, Korrigibilität, Kreativität und plurale Offenheit "im Spiel hält".
Frieder Otto Wolf, geboren 1943 lehrt als Honorarprofessor für Philosophie an der Freien Universität Berlin. Von 1994 bis 1999 war er Europa-Abgeordneter für Bündnis 90/Die Grünen.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.