Warum die emotionale Aufladung der Debatte?

Zirkumzision Ich bekenne mich zu einer Unterschätzung der emotionalen Besetzung des Themas von Zirkumzision und Zirkumzisionsverbot. Warum ist die Debatte so aufrührend?

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Hier möchte ich an etwas erinnern, was ich bisher ausgeblendet hatte: Wie etwa Andrea Rödig plastisch in Erinnerung gerufen hat, geht es in der Zirkumzisionsdebatte ja keineswegs um ein triviales, bedeutungsloses Ding. Auch ohne psychoanalytischen Spekulationen über die Rolle des Phallus in der menschlichen Psyche nachzugehen, ist der Penis von kleinen Jungen in allen uns bekannten Kulturen mit Ängsten und Bedeutungen geradezu, wenn ich so sagen darf, „bis über die Halskrause“ besetzt (die Frage, ob die „Halskrause“ eine Symbolik der Vorhaut transportiert, überlasse ich lieber den einschlägigen Spezialisten) – übrigens vermutlich bei Kindern nicht weniger als bei „Erwachsenen“. Die Zirkumzision greift als realer Akt mit symbolischer Bedeutung in diesen Komplex von Ängsten ein – in der Literatur genannt werden hier vor allem die Kastrationsangst und die Angst vor dem potenziellen Vatermörder und Mutterschänder. Das ist eine dunkle Angelegenheit und geht keinesfalls ohne psychische Traumata ab.

Aber gibt es denn eine Alternative für die Herausbildung individueller menschlicher Subjekte aus männlichen „Menschenjungen“ (als biologischen Exemplaren der Spezies homo sapiens sapiens), die ohne psychische Traumata auskäme? Wiederum ohne sich auf spezielle psychoanalytische Theorien festzulegen: Das können wir nicht mit guten Gründen behaupten. Wenn es sie auch geben mag, wir kennen sie nicht und können sie auch nicht in unserer Praxis des Umgangs mit Kindern verwirklichen. Deswegen müssen wir die Praktiken respektieren, die andere gefunden haben, gemäß ihrer Traditionen oder für sich selber, um mit diesen angstbesetzten, hoch bedeutungsvollen Herausforderungen der individuellen Menschwerdung umzugehen.

Respekt heißt allerdings keineswegs Kritiklosigkeit. Das heißt, bestimmte Praktiken – Genitalexzision, Kastration oder auch die Prügelstrafe – lassen sich auch unter Berufung auf diesen Respekt einfach nicht mehr rechtfertigen: Sie verletzen die Menschenwürde der Kinder als menschlicher Subjekte und sind daher zu unterbinden. Und bei anderen Praktiken, die sich noch rechtfertigen lassen, ist zum einen darauf zu bestehen, dass sie gemäß dem Stand der medizinischen Wissenschaft schadensminimierend durchgeführt werden – und zum anderen nicht nur die Frage zu stellen, wie sie mit der Religionsmündigkeit des betroffenen Kindes als eines künftigen, in seiner Weltanschauung freien Subjektes vereinbar gemacht werden kann (am besten offenbar durch eine Verlegung des Zeitpunktes ihrer Durchführung nach dem Eintreten der individuellen Religionsmündigkeit), sondern auch die Religionsvertreter herauszufordern, über weniger körperliche und mehr symbolische Formen ihrer Ausführung nachzudenken (was sowohl im Islam als auch im Judentum bereits seit Längerem geschieht).

So viel Kritik an Religion muss sein. Eigentlich gehört sie sogar unablöslich zum Respekt dazu: Denn nur so wird den respektierten religiösen Formen des Umgangs mit den eigenen Ängsten die Chance geboten, sich von den Eierschalen vormoderner, autoritätshöriger Religiosität zu lösen und sich als moderne Gestalten einer freien Unterwerfung unter gegebene Lösungsformen zu begreifen, die dann nicht mehr nur bloß individuell gesucht werden müssen. Allerdings sollten sich Nicht-Religiöse deswegen nicht in einer falschen Überlegenheit wiegen: Auch sie müssen mit den Traumata ihrer Kindheit und ihres Erwachsenen-Werdens fertig werden. Und auch sie greifen dabei auf allerlei Traditionselemente zurück. Nur setzen sie an die Stelle des Eintretens in eine (zumeist institutionell verwaltete) vordefinierte Tradition das eigene Basteln mit dem, was sie so zur Hand haben – aus den Wissenschaften, aus der Literatur und Kunst oder auch aus der Philosophie. Und sie können dies auch in Weltanschauungsgemeinschaften organisiert betreiben und dadurch qualifizieren. Aber sie können sich nicht die Illusion machen, jemals gleichsam am anderen Ufer anzukommen: Die definitive, wissenschaftliche Weltanschauung wird es so wenig geben wie die wahre Religion, die dem Streit der Religionen ein Ende bereitet. Eher können und sollten wir uns an ein produktives Modell der individuellen Identitätsvergewisserung erinnern, das die frühkapitalistische Oberschicht Englands im 17. Jahrhundert erfunden hat: Jedem Gentleman seinen ‚spleen‘! Allerdings sollten wir dieses Modell von seinen ‚aristokratischen‘ Resten befreien und radikal egalitär demokratisieren. Vielleicht ist der schon lange geläufige Spruch „Jedem Tierchen sein Pläsierchen!“(mit einem hinreichenden Schuss an Selbstironie serviert, so dass der Ernst der dahinter stehenden Sachen nicht verloren geht) dafür eine angemessene Umsetzung. Aber selbstverständlich mit allem wechselseitigen Respekt!

Ich habe mir große Mühe gegeben, mich aus dem Streit um die Psychoanalyse herauszuhalten. Aber ganz ohne ein Aushalten der narzisstischen Kränkung, dass wir als Subjekte nich "HerrInnen im eigenen Hause" sind, können wir uns als lebendige, handlungsfähige Subjekte eben nicht begreifen...

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Frieder Otto Wolf

Ich lehre als Honorarprofessor Philosophie an der Freien Universität Berlin, bin Mitinitiator des Forums Neue Politik der Arbeit und Humanist.

Frieder Otto Wolf

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