Weltweiter Aufbruch

DAS SCHEUE REH UND NEUE SOZIALE BASISPROZESSE Globalisierung von unten als Thema der Zeitschrift "Widerspruch"

Die Schweiz bietet offenbar einen guten Aussichtspunkt. Jedenfalls ist der in Zürich erscheinenden Zeitschrift Widerspruch (Nr. 38) ein Schwerpunktheft gelungen, das nicht nur einen ziemlich vollständigen Überblick über die deutschsprachige Globalisierungsdebatte bietet (Altvater/Mahnkopf, Bischoff, Butterwegge, Falk, Krätke, Scherrer) und diese punktuell ergänzend zuspitzt (Brüggen/Peine zu den "Pyrrhussiegen der Exportweltmeister" und zu einer neuen Regionalisierungsstrategie), sondern auch Anschlüsse zur frankophonen (Chesnais zur Tobinsteuer) und angelsächsischen (Young zu "class, gender and race") eröffnet und mit zwei Schweizer Beiträgen die exemplarische Dimension der Biotechnologie analysiert. Dazu kommt eine konzentrierte Diskussion über die von vielen NGOs erneut vorangetriebene Schuldenstreichungskampagne.

Was ergibt sich aus der Globalisierungsdebatte der neunziger Jahre, wie sie in Deutschland und Europa anders geführt worden ist als in den USA und in Mexiko, oder in Brasilien, Indien oder in Nikaragua - oder in den UNO-Runden der "Weltgipfel" der neunziger Jahre? Das allgemeinste Resultat lässt sich fast zu einer Paradoxie zuspitzen: Die Globalisierung hat wirklich die Menschheit in eine neue historische Phase geführt - aber das Neue an ihr besteht nicht in der Herstellung globaler, weltweiter Verhältnisse und Zusammenhänge. Spätestens seit dem Alexanderreich wissen wir von globalen Zusammenhängen. Auch ökonomisch operierten die seit dem Beginn des Fernhandels konstituierten Handelsnetzwerke im damaligen Maßstab weltweit. Vor dem I. Weltkrieg lag ein erster Höhepunkt hinsichtlich der Dichte der globalen Austauschnetzwerke (mit Gold als Weltgeld und globaler Reisefreiheit), der erst mit den neunziger Jahren wieder erreicht und übertroffen worden ist. Das wirklich Neue, das die heutige Globalisierung gebracht hat, ist das Heraustreten des Kapitals aus vielfältigen lokalen, regionalen und nationalen Verhältnissen, in die es bis dahin noch geldtechnisch, kommunikationstechnisch oder gesellschaftspolitisch eingebunden war. Das Kapital macht sich als grundsätzlich beweglicher Faktor geltend, der sich nicht länger durch die vorhandenen Standortbedingungen, durch technische Schranken oder durch die Konfrontation mit seinem politischen Gegenpol hemmen oder einschränken lässt.

Marx' Wort vom Kapital als einem "scheuen Reh", das in der vielfach regulierten und durch politische Machtverhältnisse geprägten transnationalen politischen Wirklichkeit der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts schon verblasst war, ist durch die neoliberale Gegenreform der achtziger und neunziger Jahre wieder hochaktuell geworden. Allerdings wird damit nur noch deutlicher: Das Kapitalverhältnis trägt seine äußerste Schranke immer in sich selbst. Da es nicht wirklich möglich ist, aus Geld mehr Geld zu machen, bleibt auch noch die abgehobenste Profitmacherei darauf zurückbezogen, dass irgendwo Ausbeutung - also die Aneignung fremder Arbeit - gelingt und die Verteilungskreisläufe der scheinbar eigenständigen Profitproduktion mit wirklichem Mehrwert nährt. Indem es sich globalisiert, universalisiert und abstraktifiziert, dringt das Kapital zugleich immer tiefer bis in alle Reproduktionskreiskläufe des gesellschaftlichen Lebens ein. Seit die "weißen Flecken" zu Beginn des 20. Jahrhunderts von den (europäischen) Landkarten der Welt verschwunden sind, hat sich diese Expansion in das "Andere des Kapitals", in die Durchdringung des Massenkonsums und der Lebensweise, in die technologische und kapitalistische Neuzusammensetzung weiterer Arbeits- und Tätigkeitsbereiche vollzogen - von den Dienstbotentätigkeiten in den Industrieländern bis hin zu den Subsistenzbäuerinnen der Brandrodungslandwirtschaft. Die gesamte Weltgesellschaft ist gewissermaßen durchkapitalisiert.

Gerade deshalb ist die Kapitalakkumulation in dem Maße, wie sie sich mit der wissenschaftlichen Analyse und der technologischen Neukonfiguration von Reproduktionskreisläufen verknüpft, in besonderem Maße darauf angewiesen, Menschen zu finden, die ihr wissenschaftliches oder erfahrungsbezogenes Wissen einzusetzen bereit sind. Entsprechendes gilt für die Verknüpfungen, die das Kapital mit kreativen Fähigkeiten und mit Jugend- und Gegenkulturen eingegangen ist. Überall hier gilt eben auch, dass das Kapital danach streben muss, möglichst nahe heran zu kommen und die schöpferischen Fähigkeiten von Menschen möglichst unverkürzt für sich selbst, für seine Profitproduktion, einzusetzen. Mit Verweigerung und Widerstand von Menschen gegen diese vereinnahmende Praxis des Kapitals beginnt daher jeder gesellschaftliche Prozess, der dem Kapital Schranken setzen und ihm Regeln aufzwingen kann.

Es wäre nun aber ein schwerer Fehler, wenn wir dabei der neoliberalen Illusion aufsitzen würden, dass Kapitalherrschaft und Ausbeutung der Natur nun mal so seien, wie sie sind - und jegliche Beschränkung und Regulierung ihm erst durch Politik gleichsam "von außen" aufgezwungen werden muss. Vielmehr ist die Freisetzung des Akkumulationsdrangs des Kapitals selbst ein hochpolitischer Prozess gewesen: Die neoliberale Gegenreform war deswegen nicht zufällig mit aggressiven Aufrüstungsprojekten, schärfsten Formen innergesellschaftlicher Repression (wie die Unterdrückung des Streiks der Bergarbeiter durch Thatcher) und zumindest punktueller Kriegführung (etwa der USA gegenüber Nikaragua) verbunden. Die Kämpfe von Produzenten und Dienstleistern, von Transporteuren und Konsumenten beziehen sich nicht von außen auf kapitalistische Verwertungsprozesse - sie setzen in deren Innerem an. Deswegen können sie auch die Grenzen von Öffentlichkeiten und Institutionen überspringen - wie dies etwa der Boykottbewegung gegen Shell wegen der geplanten Brent-Spar-Versenkung oder dem konzernweiten Streik der Renaultarbeiter gelungen ist - oder doch zumindest durchstossen, wie dies der Öffentlichkeitsarbeit der Zapatistas oder den Internet-Mobilisierungen gegen das MAI beziehungsweise gegen die "Millenniums-Runde" der WTO, zuletzt in Seattle, gelungen ist.

Gerade in der Differenziertheit der Gesichtspunkte und der substanziellen Vielfalt der Analysen, die sich in diesem Heft des "Widerspruch" finden, wird zweierlei deutlich: Erstens, dass angesichts der Angewiesenheit des Kapitals auf die kreative Kooperation der von ihm Auszubeutenden sich längst schon global und makroregional politische Gegenmächte zu konfigurieren begonnen haben, die ihm wieder Schranken und Regeln aufzwingen werden. Zweitens, dass dieser Widerstand nicht spontan auf ein höheres Niveau an lokaler, regionaler und nationaler Borniertheit und damit verbundene Aktivierung rassistischer Denk- und Handlungsmuster hinausläuft, so sehr auch die Politik der Rechten überall in diese Richtung drängt - sondern auf eine politische Neubestimmung des internationalen, globalen Zusammenhanges, in dem sich die Migranten ebenso bewegen wie die Transnationalen Unternehmen. So wird die Kapitalakkumulation erneut in ein politisches Kräfteverhältnis eingebunden, das sich eben nicht mehr in erster Linie auf nationaler Ebene, sondern transnational, in makroregionalem, also beispielsweise europäischem Rahmen beziehungsweise gleich im globalem Maßstab herstellen lassen wird.

Eine derartige Globalisierung von unten ist längst auf der Ebene sozialer Basisprozesse in Gang gekommen. Wie die im Widerspruch 38 zusammenfassend reflektierte Globalisiserungsdebatte des vergangenen Jahrzehnts gezeigt hat, wird die Linke des beginnenden 21. Jahrhunderts sich vor allem daran messen lassen müssen, inwieweit sie in der Lage ist, sich in diese "wirkliche Bewegung" einzubringen.

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Geschrieben von

Frieder Otto Wolf

Ich lehre als Honorarprofessor Philosophie an der Freien Universität Berlin, bin Mitinitiator des Forums Neue Politik der Arbeit und Humanist.

Frieder Otto Wolf

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