Wie sind heute religiöse Identitäten möglich?

Beschneidungsdebatte Aus Anlass des aktuellen Beschneidungsstreits habe ich einige Überlegungen angestellt und zusammengetragen, um klarer zu sehen, worum es dabei eigentlich geht.

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  1. Was ist moderne Religiosität? Was wird sie sein – und wie kann sie noch kritisiert werden?

Seyla Benhabib hat in einem durchaus mitreißendem Essay in den gerade erschienenen Blättern für deutsche und internationale Politik (7’12, S. 106-120) im Rückgriff auf „Kant und in seiner Spur Arendt“ (120) die „Ausbildung und Kultivierung“ einer „erweiterten Denkungsart“ als „Aufgabe der demokratischen Kultur“ (ebd.) postuliert, um durch das „Schaffen eines verhandelbaren Dazwischenseins“ (ebd.) das Verhältnis von „Gleichheit und Differenz“ (106) zwischen „jüdischer Identität“ und „Moderne“ (ebd.) gerade auch in Deutschland (insb. 111ff. u. 120) konzipieren und gestalten zu können. Dabei bewegt sie sich einerseits konsequent auf der ‚sicheren Seite‘ der Unterscheidung von Gleichheit und Unterschiedenheit (=Differenz), wagt sich aber durch eine ganz bemerkenswerte Kategorienbildung auf das – bekanntlich seit dem 19. Jahrhundert durch Antisemitismus, Rassismus und Nationalismus verminte Gelände der politisch-kulturell-gesellschaftlichen ‚Identitäten‘ vor: im Abschluss an Moritz Goldsteins (in seinem 1912 veröffentlichten Essay „Der Deutsch-Jüdische Parnass“ umrissene) integrationsskeptische Kategorie des „Ewig-Halben, Ausgeschlossenen und Heimatlosen“ (119, vgl.113) spricht sie vom „‘Halb-Anderen‘“ (120) als etwas Verallgemeinerbaren, also nicht durch eine ‚ursprüngliche Unterscheidung von Eigenem und Fremden‘ Kontaminiertem: Das geht weit über den bloßen ‚Pluralismus‘ der Identitäten oder auch einen bloßen „‘Multikulturalismus‘“ hinaus, nämlich zu einer Kultur, „in der der Nicht-Einheimische dennoch ein Zuhause finden kann, in welcher alle, die ihre Andersartigkeit spüren, dennoch ein neues Vokabular schaffen können, um die Grenzen unserer Vorstellungskraft zu erweitern: Indem sie uns helfen, die Vielfalt in jedem einzelnen zu entdecken“ (120). Das entspricht der oben entwickelten Unterscheidung der Moderne: Die Identität singulärer Individuen wird lebbar und denkbar, ohne dass sie noch irgendwie auf eine bestimmbare Substanzialität reduziert werden kann – und damit wird es auch praktisch möglich (und theoretisch konstruierbar), eine modernes Gemeinwesen zu konstituieren (und es theoretisch zu begreifen), das ohne die falschen Substanzialisierungen einer fingierten vormodernen Gemeinschaft auskommt. Also hierzulande ohne die „weltfremden Definitionsversuche des ‚echt Deutschen‘ und einer ‚deutschen Leitkultur‘“ (ebd.). In diesem in einem modernen Gemeinwesen geteilten „Dazwischensein“ können dann auch die wirklich weiterführenden Fragen gestellt werden, indem „ich dich als gleichwertig respektieren lerne, als Träger einer gemeinsam-geteilten Menschenwürde; durch welche ich dich aber auch als den konkreten Anderen erlebe, der du bist; mit deiner nicht reduzierbaren Geschichte, deinem fremden Körper, fremden Bedürfnissen und Erinnerungen“ (ebd.).

Damit ist erst einmal ein tragfähiger Ansatz dafür umrissen, wie unter modernen Verhältnissen eine wirkliche Kommunikation zwischen singulären Individuen über ihre Identitäten entfaltet werden kann, die sich nicht vorab schon durch ‚Substanzialisierungen‘ des Inhalts dieser Identitäten, also durch durch ‚Essenzialismen‘ und ‚Fundamentalismen‘ blockiert.

Eine derartige „erweiterte Denkungsart“ – der sicherlich auch erst einmal eine ‚erweiterte Handlungsweise‘ zugrunde liegen müsste – hat nun nicht nur Bedeutung für die öffentliche „demokratische Kultur“, sie enthält auch Bestimmungen und Anforderungen an die sich an ihr Beteiligten: im Kern diejenige, sich selber ebenfalls als „Halb-Andere“ zu begreifen, also nicht einfach als die „Eigenen“, die sich vom Fremden abgrenzen. Für die singulären Individuen bedeutet dies, sich auf die eigene ‚innere Vielfalt‘ akzeptierend einzulassen, die der Vielfalt der Beziehungen entspricht, in denen eine/einer sich bewegt, für die von ihnen gebildeten ‚Gemeinschaften‘, dass sie sich nicht – nach Art der vormodernen Gemeinschaften – an die Stelle der wirklichen Individuen setzen können, sondern nur als Resultat ihres Zusammenkommens als immer auch „Halb-Andere“ agieren können (und dürfen). Ich denke, das muss keineswegs heißen, dass sie sich als Gemeinschaften deswegen aufgeben, sondern nur, dass sie ganz bewusst als von diesen Individuen konstituierte, gestaltbare, widerrufbare und reproduzierbare Gemeinschaften auftreten – also als besondere Gemeinwesen, für die in einem auf einem Territorium allgemein verbindlichen Gemeinwesen explizit Raum geschaffen wird. Zwar wird in dieser Perspektive die Religionsfreiheit auf der Gewissensfreiheit begründet, aber weil Religionsausübung und Kultus jedenfalls nicht allein und wohl auch nicht ‚rein privat‘ möglich sind, ergeben sich daraus auch verfassungsrechtlich zu garantierende Rechte auf „Selbstverwaltung“ derartiger Gemeinschaften – bei deren gleichzeitigen Einbindung in die weltanschaungspolitischen Konsequenzen ihres im Zusammenhang der Moderne verbindlich zu akzeptierenden Status als sich wechselseitig respektierende „Halb-Anderen“. Auch dies bewegt sich gemäß den hier umrissenen Überlegungen in dem Raum des „verhandelbaren Dazwischenseins“, dessen allseitige Anerkennung Seyla Benhabib durchaus überzeugend als Bedingung für die Vereinbarkeit von jüdischer Identität und Moderne herausgearbeitet hat und den wir hier zunächst auf alle religiös begründeten Identitäten verallgemeinert haben.

Es folgen noch zwei weitere Fortsetzungen!

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Geschrieben von

Frieder Otto Wolf

Ich lehre als Honorarprofessor Philosophie an der Freien Universität Berlin, bin Mitinitiator des Forums Neue Politik der Arbeit und Humanist.

Frieder Otto Wolf

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