Integration? Nicht in einem exklusiven Land

Inklusion Die Integration von Menschen, die nach Deutschland einwandern bzw. flüchten, wird nur dann gelingen, wenn unsere Gesellschaft inklusiv wird

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Sprachförderung ist wichtig
Sprachförderung ist wichtig

Bild: Sean Gallup/Getty Images

Inklusion ist seit einigen Jahren das Zauberwort für Bildungsprozesse - und in den Bildungsinstitutionen sorgt es schon mal für ein Augenrollen, denn gut gemeint ist gerade hier oftmals nicht gut gemacht. Nicht weil es an Menschen fehlt, die Inklusion gerne umsetzen wollen, sondern weil oft einfach die strukturellen, personellen und sächlichen Voraussetzungen nicht stimmen. Die Voraussetzungen für die Entwicklung eines Bildungssystems, das für alle Menschen da ist, ohne jemanden aktiv oder passiv auszugrenzen.

Vor dem Hintergrund der in diesem Jahr deutlich angestiegenen Zuwanderungszahlen ist demgegenüber der Begriff der Integration zum Zauberwort für die (vermeintliche) “Willkommensgesellschaft” geworden. Im politischen Mainstream jedoch nur in jenem Sinne, dass diejenigen, die es nach Deutschland schaffen, zwar unter bestimmten Bedingungen hinein dürfen, sich dann aber an die Umstände anzupassen haben, die sie hier vorfinden. Die Umstände selbst bleiben weitgehend gleich. Integration bedeutet hier oftmals nichts anderes als eine erwartete Anpassung - mit möglichst minimaler Unterstützung durch die “aufnehmende” Gesellschaft.

Exklusive Umstände

Die Umstände, die von außen in die hiesige Bevölkerung einwandernde Menschen vorfinden, sind regelrecht exklusiv. Deutschland leistet sich eine exklusive Einkommensverteilung, eine immer breiter werdende Kluft zwischen relativ Armen und relativ Reichen. Unser Bildungssystem ist exklusiv ebenso wie der Zugang zu Angeboten der öffentlichen Daseinsvorsorge - bspw. Nahverkehr, aber auch Behördengänge und Zugang zu finanzieller Unterstützung - immer exklusiver (insbesondere teurer bzw. umständlicher) wird. Wer angesichts des Kampfes zwischen Einwanderung begrüßenden “Gutmenschen” und Einwanderung ablehnenden “Patrioten” vor einer Polarisierung oder Spaltung der Gesellschaft warnt, vergisst, dass diese schon längst Einzug gehalten hat - spätestens mit dem Populärwerden des Begriffes “Prekariat” müsste dies bekannt sein.

Diese Spaltung, in der Regel entlang von Bildungs- und/oder Einkommens-”Grenzen”, hat bislang nicht dazu geführt, dass über einen grundlegenden Systemwechsel in der politischen (Mit-)Gestaltung gesellschaftlicher Prozesse nachgedacht wurde. Im Gegenteil: Angesichts des spätestens mit der Einführung der Schuldenbremse verschärften, einseitig auf Ausgabenreduzierung fixierten Konsolidierungsdrucks auf die öffentlichen Haushalte wurde auf die politische (Mit-)Gestaltung gesellschaftlicher Prozesse im Hinblick auf gesellschaftlichen Zusammenhalt und gesellschaftliche Teilhabe - kurz: Inklusion - immer mehr verzichtet.

Eine inklusive Gesellschaft schafft Räume, in denen sich Menschen begegnen können. Aber nicht wie im Kino, in dem viele Menschen größtenteils nur physisch aufeinandertreffen, sondern wie auf einer Privatparty, einer Tagung oder in der Schule, wo Menschen auch miteinander (sozial) interagieren. Solche Räume - soziale Institutionen - sind der viel beschworene Kit, der Gesellschaft zusammenhält. Gehen sie verloren, verlieren gesellschaftliche Gruppen bzw. Individuen den Kontakt zueinander, fallen auseinander. Und solche “Räume” im Sinne von öffentlichen Interaktionsangeboten sind relativ rar geworden in Deutschland. Vielleicht nicht überall, aber auf jeden Fall dort, wo sie besonders wichtig wären. Die Leichtigkeit, mit der Rechtspopulisten oder Rassisten nicht nur die Ängste vieler zu lenken vermögen, sondern diese auch auf die Straße tragen, sind dafür markante Hinweise.

Und in dieser Situation wird nun von Menschen, die ihr bisheriges Leben aufgeben mussten, verlangt, dass sie ihre Identität quasi von heute auf morgen aufgeben und sich eine möglichst deutsche zulegen. “Wer unsere Werte nicht akzeptiert, kann wieder gehen”, tönt es zigtausendfach empört bis aggressiv durch die sozialen Medien, angefeuert durch bunte Bilder neo-rechter Trittbrettfahrer aus der AfD, CSU oder unter anderem auch der sächsischen CDU. Die Werbeslogans früherer NPD-Wahlplakate wurden längst in einen Teil des politischen Maintreams integriert.

Man mag die aktuelle Situation als Krise bezeichnen. Allerdings trifft es Struktur- oder Gesellschaftskrise eher, als der populäre Begriff der “Flüchtlingskrise”. Denn nicht die Flüchtlinge sind das Problem, sondern dass die ohnehin schon maroden, ausgehöhlten öffentlichen Strukturen in Deutschland dramatisch überfordert sind, Menschen auf der Flucht eine geordnete An- und Unterkunft zu ermöglichen und das Bleiben menschenwürdig zu gestalten. Immerhin hat der Krisenbegriff auch eine positive Seite: Krisen eröffnen Räume zur Veränderung - das zu gestalten, was man eigentlich schon immer mal habe angehen wollen oder hätte angehen müssen. Dass derzeit vielerorts bereits Geld in soziale Institutionen fließt, das bis vor kurzem gar nicht da sein durfte, zeigt, dass die Türen zu solchen Räumen sich gerade öffnen (können).

Inklusive Institutionen wieder stärken

“Inklusion sieht alle Menschen als gleichberechtigt, die von Anfang an miteinbezogen werden und als selbstbestimmte Individuen an und in der Gesellschaft teilnehmen. Das Ziel der Inklusion ist mitunter, dass sich die Gemeinschaft den verschiedenen Bedürfnissen der Menschen flexibel anpasst und alle Menschen daran partizipieren lässt.”

Dies lässt der Sozialverband VdK Bayern auf seiner Internetpräsenz wissen. Für unsere Gesellschaft hieße die konsequente Umsetzung dieser Definition: Ein Masterplan für Inklusion muss her!

Wie in einem früheren Beitrag bereits gefordert müsste ein solcher Masterplan unter dem Ziel gesellschaftlicher Teilhabe für alle, und zwar unabhängig von individuellen Voraussetzungen, neben den personellen und sächlichen Ressourcen sowie Strukturen im Bildungs- und Erziehungswesen auch die Kinder-, Jugend- und Familienhilfe in den Blick nehmen und die Verzahnung beider Bereiche. Er müsste privilegierte (bspw. staatlich geförderte) Arbeitsmarktchancen für arbeitssuchende Eltern umfassen ebenso wie eine Integration der Unterstützung für Zugewanderte in diese Bereiche. Nicht zuletzt braucht es auch eine Lösung für jene Bevölkerungsgruppen, die in Deutschland schlichtweg keinen Job mehr finden, weil sie als nicht qualifiziert gelten oder einfach Pech gehabt haben im Leben. Dort, wo die “freie Wirtschaft” versagt oder einfach keine Motivation hat Arbeitsplätze zu schaffen, ist der Staat als Arbeitgeber bzw. Förderer von auskömmlicher und sinnstiftender Arbeit bzw. Beschäftigung wieder stärker gefragt.

Dabei müsste das Rad nicht einmal neu erfunden werden, denn in vielen Bereichen, in die es zu investieren gilt, existieren bereits bewährte Strukturen und Verfahrensweisen oder zumindest vielversprechende Vorschläge. Diese müssen zudem nicht einmal ausschließlich auf geflüchtete Menschen aus anderen Herkunftsländern zugeschnitten werden:

  • Ein flächendeckendes Netz von Jugendbegegnungs- und -beratungszentren könnte jungen Menschen spezifische Angebote im Freizeitbereich, bei der Bildungsberatung und generell bei der psycho-sozialen Integration unterbreiten und auch junge Menschen mit unterschiedlichen kulturellen bzw. sozialen Hintergründen zusammenbringen. Das breit differenzierte Vereinswesen in Deutschland wäre dafür ein guter Partner.

  • Für die Schulen (und in anderer Form auch für die Kindertagesstätten) in Deutschland gibt es ohnehin bewährte Konzepte für inklusive Lern- und Entwicklungsräume. Mit einer entsprechenden Ausstattung wäre ein großes Upgrade allein für Geflüchtete gar nicht nötig. Ausreichend pädagogisches Personal, flächendeckende Schulsozialarbeit, gezielte individuelle Förderung und eine angemessene Ausstattung mit Fortbildungsangeboten und Materialien wären hier zentrale Aspekte, die auch vor dem Anstieg der Asylbewerbungszahlen bereits bekannte Dauerbaustellen waren.

  • Und auch Bildungseinrichtungen bzw. Bildungsangebote für Erwachsene, denen es schwer fällt, gesellschaftlich, insbesondere auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, sind in Deutschland keine Unbekannten. Hier wäre neben den Möglichkeiten einen Abschluss nachzuholen oder sich beruflich weiterzubilden und vielem mehr lediglich ein relativ neuer Schwerpunkt - die Sprachförderung - zu ergänzen. Für die Integration in den Arbeitsmarkt selbst könnten Instrumente der öffentlich geförderten Beschäftigung, wie sie derzeit diskutiert werden, eine Unterstützung sein.

  • Nicht zuletzt wird es auch darum gehen, den sozialen Wohnungsbau, der in Deutschland einmal als fortschrittlich galt, nicht mehr nur zu diskutieren, sondern endlich wieder zu forcieren. Gerade hier ist auch schon vor 2014/2015 in Deutschland eine große Schieflage zulasten von Menschen mit geringen oder ohne Einkommen entstanden, die jetzt nur noch verstärkt wird.

Statt allerdings in diesen und anderen Punkten weiter auf Projektstrukturen mit kurz- und mittelfristiger Finanzierung zu setzen, wird es Zeit, die öffentlichen (Regel-)Systeme wieder hoch zu fahren. Inklusion ist keine Aufgabe kurzfristiger Modellprojekte, deren positiven Effekte regelmäßig nach dem Auslaufen der Finanzierung zu verschwinden drohen. Inklusion ist eine dauerhafte Kernaufgabe der öffentlichen Hand, finanziert aus den entsprechenden Haushalten.

Inklusion setzt eine entsprechende Haltung voraus

Es gebe sicherlich noch viele weitere Beispiele für Inklusion fördernde Strukturen, die nicht neu sind. Doch alle strukturellen Veränderungen werden alleine nicht ausreichen, wenn es an einer zentralen Voraussetzung weiter so eklatant mangelt, wie derzeit: an einer angemessenen Haltung. Ohne einer Haltung in Politik, Medien und Bevölkerung, die Offenheit gegenüber Vielfalt und Chancengleichheit für alle Menschen zum Selbstverständnis erhebt, wird schon allein die Integration scheitern und an Inklusion nicht zu denken sein. Ja diese Haltung wäre überhaupt erst Voraussetzung dafür, dass notwendige strukturelle Veränderungen überhaupt ganzheitlich angegangen werden.

Mit Blick auf die Terroranschläge von Paris schrieb Sascha Lobo kürzlich bei Spiegel Online:

“Die Beschwörungsformel ‘Überwachung gleich Sicherheit’ gibt das implizite Versprechen ab, Sicherheit zu bekommen, ohne irgendetwas ändern zu müssen. Und dieses Versprechen ist falsch. Es gibt keine Abkürzung. Das beste Mittel gegen jede Form von Radikalisierung und Gewalt ist, eine für alle funktionierende, zivilisierte Gesellschaft aufzubauen. Das ist das Gegenteil der Beschwörung, nämlich harte Arbeit. Es ist anstrengend und nervig und langwierig und voller Rückschläge. Aber es geht nicht anders.”

Eine solche funktionierende, zivilisierte - inklusive! - Gesellschaft wäre darüber hinaus nicht nur ein Mittel gegen Radikalisierung und Gewalt, sondern ein Mittel gegen jegliche Form von Ausgrenzung und Perspektivlosigkeit, wie sie in eben jenem Beitrag angesprochen wird. Sie wäre ein wirksames Mittel gegen post-demokratische Tendenzen, der sich ausbreitenden Entfremdung der Menschen von politischen Prozessen. Es wäre ein wesentlich besseres Mittel als irgendwelche Marketingkampagnen im neoliberalen Erscheinungsbild, wie sie beispielsweise gerade in Sachsen-Anhalt als Versuch zur Umkehr des Negativtrends bei der Wahlbeteiligung gestartet wurde. Eine solche “Abkürzung”, wie Lobo das nennt, wäre eben ein falsches Versprechen. Ein Versprechen, das es uns zu einfach macht.

Wenn Menschen sich in eine fragmentierte Gesellschaft integrieren sollen, bleibt diese Integration selbst eher fragmentarisch oder fügt dieser Gesellschaft ein weiteres Fragment hinzu. Und dann finden wir zwangsläufig eine Gesellschaft vor, die eine “Ghettoisierung” ihrer Fragmente begünstigt, in der ganze Bevölkerungsgruppen von Teilhabe ausgeschlossen sind oder die menschenfeindliche Bewegungen wie PEGIDA und Co. hervorbringt. Nicht Zuwanderung oder “Multikulti” im Sinne einer friedlichen und sich gegenseitig bereichernden Koexistenz unterschiedlicher Kulturen gilt es zu verhindern, sondern eine weitere Fragmentierung. Dies ist unser aller Aufgabe.

Felix Peter

Felix Peter
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