Arbeiten trotz Corona

Systemrelevanz Kurzarbeit, Freistellung, Home Office: Das Arbeitsleben hat sich während der Corona-Krise massiv verändert. Manche Menschen aber müssen einfach weitermachen wie bisher
Arbeiten im Ausnahmezustand
Arbeiten im Ausnahmezustand

Foto: Ina Fassbender/AFP/Getty Images, Fotos unten: Privat

Alles steht still, öffentliches Leben findet in Deutschland fast nicht mehr statt. Doch während Millionen von Menschen zu Hause sitzen, netflixend oder Kinder hütend, müssen andere weiter arbeiten: Weil sie gebraucht werden. Weil sie nicht anders können. Weil es gerade jetzt auf sie ankommt. Alles hat sich verändert, ihre Arbeit geht trotzdem weiter. Fünf Kurzportäts von Arbeitenden im Ausnahmezustand

Bojan Cveticanin, 40, Krankenpfleger

Seit dem vergangenen Sommer arbeitet Bojan Cveticanin als Krankenpfleger in einem Hannoveraner Pflegeheim, das Senioren und Seniorinnen mit früheren oder immer noch bestehenden Suchterkrankungen betreut. Jeweils zwölf Tage in Folge kümmert er sich in Früh- und Spätschichten um die Grundpflege der meist älteren Männer mit Alkoholproblem, stellt die Wundversorgung sicher, wechselt Verbände und gibt Spritzen. Dann hat er zwei Tage Pause.

Bei seinen Patienten ist bisher kaum etwas von der Angst vor dem Corona-Virus zu spüren – die meisten von ihnen sind mit anderen Problemen beschäftigt. Wie es weitergehen soll, sobald sich der erste der etwa 80 Heimbewohner mit dem Virus infiziert? Das weiß auch Cveticanin nicht. Nur soviel steht fest: Die Senioren und Seniorinnen sitzen hier eng aufeinander, sie im Falle einer Infektion voneinander zu isolieren, erscheint nahezu unmöglich. Zudem gehören so gut wie alle hier in gleich mehrerlei Hinsicht zur Risikogruppe. Cveticanin selbst beschäftigt momentan aber vor allem eines: „Ich bin hier, meine Familie ist in Serbien. Wenn dort jemand krank wird, dann kann ich nicht da sein. Das ist meine persönliche Angst vor Corona.“ Eigentlich hatte er geplant, über Ostern zu seiner Frau und seiner Tochter nach Hause zu fahren – nun wird er im Pflegeheim gebraucht und wird weiterarbeiten. „Reisen geht jetzt ja sowieso nicht mehr“, sagt er. Neulich hat er zum ersten Mal ein Video von Leuten gesehen, die am Fenster und auf Balkonen stehen und gemeinsam für Pfleger und Pflegerinnen klatschen, die im Kampf gegen das Virus die Stellung halten. „Das hat mich sehr gefreut, dieser Respekt“, sagt er. Dass sich Menschen für seine Arbeit bedanken, hat er davor noch nie erlebt.

Jenice Schwob, 28, Rettungsassistentin

Für die 28-jährige Rettungsassistentin Jenice Schwob hat sich die Arbeitsbelastung seit Ausbruch des Corona-Virus drastisch erhöht. Neben den regelmäßigen Rettungswagen-Fahrten als Sanitäterin des ASB Hannover arbeitet sie nun auch im Leitungsteam der SEG – einer Schnelleinsatzgruppe, die bei außergewöhnlichen Ereignissen Verletzte, Erkrankte und andere Betroffene versorgt. Jeden Tag macht sie sich mit ihren Kollegen daran, den Krisenfall vorzubereiten und die sofortige Einsatzbereitschaft herzustellen – denn momentan müssen sie jederzeit abrufbar sein, um schnellstmöglich Quarantänestationen, Essen und eine grundlegende medizinische Versorgung bereitstellen zu können.

Bei ihren Fahrten im Rettungswagen sieht Schwob noch immer viele Menschen auf den Straßen der Hannoveraner Innenstadt flanieren. Das ärgert sie: „Diese Leute verhalten sich rücksichtslos“, sagt Schwob. „Wir leben trotz Krise immer noch in einer Ellenbogen-Gesellschaft, da ist sich jeder selbst am Nächsten.“ Trotz des Risikos für die eigene Gesundheit nehmen Schwob und ihre Kollegen jeden Notruf ausnahmslos entgegen. „Mit ansteckenden Krankheiten in Berührung zu kommen, das ist man als Sanitäterin gewohnt“, so Schwob. Welche Bedeutung diese Arbeit – sowohl auf der Straße als auch in den Kliniken – habe, werde vielen Menschen aber erst jetzt bewusst. „Es wäre schön, wenn der Rettungsdienst und auch die SEG entsprechend vom Land entlohnt werden würde, zum Beispiel in Form von kostenloser Nutzung des ÖVPN“, so Schwob. Vorerst hat sie aber vor allem einen Wunsch: „Haltet euch an die Regeln und bleibt zu Hause. Bitte. Nur so können wir das Virus eindämmen.“

Bernd M., 59, Wohnungsloser

„Als Wohnungsloser hat man es gerade nicht leicht“, sagt der 59-jährige Bernd M. (Name geändert). Um die Verbreitung von Covid-19 einzudämmen, sind in der vergangenen Woche mit einem Schlag sämtliche Tagestreffs in Hannover geschlossen worden – für viele der Obdach- und Wohnungslosen der einzige Ort, an dem sie regelmäßig zu einer warmen Mahlzeit kommen. „Wir wussten gar nicht, was los ist“, sagt Bernd M. „Es gab nur Gerüchte. Also sind wir durch die gesamte Stadt von einem Treff zum nächsten gegangen, um selbst nachzuschauen. Aber alles war zu.“

Mittlerweile habe sich die Situation etwas entschärft, an einigen Stellen – etwa bei der Caritas – werde zumindest im Freien wieder Essen ausgegeben: Belegte Brote, Tee und Kaffee zum Mitnehmen. „Zum Glück ist es nicht mehr ganz so kalt“, sagt Bernd M. „In den Wintermonaten wäre das schon was anderes.“

Mit den Tagestreffs entfällt für den Wohnungslosen aber auch der einzige Ort, an dem er Zugang zu Medien hat. Er würde sich gerne über die Entwicklung des Corona-Virus informieren, aber das ist nun schwierig. Zurzeit lebt Bernd M. in einem Mehrbettzimmer im Männerwohnheim – dorthin will er sich in Zukunft vor allem zurückziehen. Für die Ansteckungsgefahr mit dem Virus, so vermutet er, sei das wahrscheinlich nicht gut. Aber auf der Straße fühlt er sich in diesen Tagen noch weitaus unwohler. Es gebe viele abfällige Bemerkungen und Kommentare gegenüber Obdachlosen. „Die Leute denken, von uns mit Keimen belastet zu werden“, sagt Bernd M.

Umso dankbarer ist er der Caritas für ihre unermüdliche Arbeit. Als Dankeschön für das tägliche Frühstück hat einer der Obdachlosen heute einen Blumenstrauß zur Essensausgabe mitgebracht.

Freya Fliege, 22, Bäckerei-Aushilfskraft

Die 22-jährige Freya Fliege, Aushilfskraft in der Hannoveraner Bäckerei Henri, ist im Moment ganz froh über ihren Job. So lange es geht, will sie auf jeden Fall weiterarbeiten: „So kann ich in dieser Zeit zumindest irgendetwas sinnvolles tun“, sagt sie. Außerdem sei es auch schön, für ein paar Stunden am Tag der kompletten Isolation zu entfliehen und beim Verkauf von Brot und Brötchen mit Menschen in Kontakt zu kommen. Einen Mundschutz für alle – Verkäufer wie Kunden – fände Fliege sinnvoll. Aber dank der Sicherheitsmaßnahmen, die seit dem Ausbruch von Covid-19 in der Bäckerei gelten, fühlt sie sich auch so einigermaßen gut geschützt: Nur noch drei Leute gleichzeitig dürfen den Laden betreten, es muss auf Abstand geachtet werden, die Verkäufer tragen durchgehend Gummi-Handschuhe, darüber zusätzlich noch ein Paar „Brötchen-Handschuhe“. Häufig Händewaschen, häufig desinfizieren. Außerdem dient die Theke als Sicherheitsabstand. „Nicht alle Gäste verstehen, dass man hier drin jetzt keinen Kaffee mehr trinken kann“, erzählt Fliege. Ansonsten hielten sie sich aber ganz gut an die neuen Regeln. Und vor allem kauften sie mehr ein: In der vergangenen Woche sei das Brot teilweise schon um 13 Uhr ausverkauft gewesen. Dafür gebe es aber auch Tage, an denen plötzlich gar niemand mehr komme. „Mal sehen, wie das so weitergeht“, sagt Fliege. Gerade müsse man wohl mit allem rechnen. Zumindest um das Personal muss sich die Bäckerei in den kommenden Wochen aber keine Sorge machen: Viele Schüler, die nun erst mal frei haben, haben bereits angeboten, auszuhelfen.

Martin van Bömmel, 58, Kinderarzt

Für Martin van Bömmel, der gemeinsam mit seiner Frau eine Kinderarztpraxis in Hamburg führt, hat sich seit Ausbruch des Corona-Virus vor allem eines verändert: Es kommen weitaus weniger Patienten. Viele Eltern, so van Bömmels Vermutung, hätten Angst vor vollen Wartezimmern, in denen sich die Patienten gegenseitig ansteckten. Van Bömmel und seine Frau haben sich deshalb ein Konzept überlegt, das bislang gut funktioniert: Draußen vor der Praxis werden die Patienten von einer Arzthelferin „vorsortiert“: Verdachtsfälle – also Kinder beziehungsweise deren Eltern mit Fieber, die entweder Kontakt zu einem Corona-Infizierten hatten oder aus einem Risikogebiet kommen – werden an das Gesundheitsamt verwiesen. Alle anderen werden weiterhin wie gewohnt behandelt, allerdings nur noch einzeln: Erst, wenn ein Patient die Praxis verlässt, darf der nächste eintreten. Das Wartezimmer gibt es nicht mehr.

In der Praxis tragen mittlerweile alle Handschuhe und Mundschutz – doch das Material wird, wie derzeit überall, bereits knapp. Für van Bömmel und seine Frau ist das eine schwierige Situation: „Mit knapp 60 gehören wir beide ja selbst zur Risikogruppe“, sagt der Arzt. Täglich sind sie hustenden und schniefenden Kindern ausgesetzt – bei deren Behandlung den Sicherheitsabstand von 1,5 Metern zu wahren ist unmöglich. Zudem haben Corona-infizierte Kinder in der Regel nur sehr schwache Symptome – ansteckend sind sie aber trotzdem. Auch im Sinne seiner Arzthelferinnen setzt van Bömmel deshalb alles daran, eine Infektion in der Praxis zu verhindern: „Wenn einer von uns krank wird und wir für eine Zeit schließen müssen, dann wären auch die Jobs unserer Angestellten gefährdet“, sagt er. Auch wegen der wenigen Patienten macht er sich Sorgen: „Wenn das auf Dauer so weitergeht, dann kann ich als Kleinunternehmen meine Leute nicht mehr bezahlen. Das wäre eine echte Existenzbedrohung.“

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