Es ist Dienstagmittag auf der Intensivstation der MHH, der Medizinischen Hochschule Hannover. Wie jeden Tag werden zu Beginn des Schichtwechsels die Betten unter den PflegerInnen verteilt – und wie jeden Tag wird dabei auch ausführlich besprochen, was bei der Versorgung der jeweiligen Patienten zu beachten ist. Seit dem vorangegangenen Freitag sind die Ärzte und das Pflegepersonal hier allerdings mit einem Fall konfrontiert, bei dem keiner von ihnen von seinen bisherigen Erfahrungen zehren kann – und für den Prognosen nur schwer zu treffen sind: Der erste Covid-19-Patient, der auf der Intensivstation der MHH künstlich beatmet werden muss.
Momentan, so scheint es, ist sein Zustand einigermaßen stabil. Es gibt noch eine weitere gute Nachricht: Heute Nachmittag, verkündet einer der Oberärzte der Station, wird endlich das Medikament geliefert, auf das sie hier seit Tagen warten. Ein Mittel gegen Ebola, das nun auch gegen Covid-19 getestet werden soll. Solange zur Behandlung des neuartigen Virus noch keine Therapie entwickelt wurde, versucht man es auf diese Art und Weise – auch Medikamente gegen Malaria und HIV sind bereits zum Einsatz gekommen. Die Ergebnisse stehen noch nicht fest.
„Wer übernimmt ihn heute?“, fragt die Pflege-Leiterin in die Runde. Acht Pflegerinnen und Pfleger sitzen in der Teeküche, trinken eilig eine Tasse Kaffee oder schlingen ein Sandwich aus der Cafeteria herunter. Zeit für lange Pausen hat hier niemand. Kurz herrscht Stille. Dann meldet sich eine junge Frau zu Wort. „Das bin dann wohl ich“, sagt sie. „Bin ja auch nur noch ich übrig.“
Keimfrei in die Schleuse
14 Betten zählt die Intensivstation insgesamt, in der Regel übernimmt jede*r PflegerIn zwei Patienten pro Schicht. Für den Covid-19-Patienten ist die Versorgung aufwändiger: 1:1 lautet der Schlüssel momentan – eine Pflegekraft, ein Bett. Die Pflegerin, die ihn heute übernehmen soll, fragt nach: „Wenn ich mich strikt andie Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts zum Eigenschutzhalte – bin ich dann wirklich zu 100 Prozent geschützt?“ Die Frage ist für die junge Frau von besonderer Relevanz. Sie hat eine Lungenvorerkrankung, im Fall einer Infektion würde sie damit selbst zur Risikogruppe gehören. Die Pflege-Leiterin erklärt das Prozedere noch einmal für alle: „Schutzkleidung hat für jeden, der das Isolations-Zimmer betritt, höchste Priorität.“ Mundschutz, Brille, Haube, Kittel; Ankleiden im Vorzimmer, der sogenannten „Schleuse“, die verhindern soll, dass kontaminiert Luft nach außen dringt. Ausziehen im Behandlungszimmer, also noch vor dem Wiedereintritt in die Schleuse, die möglichst keimfrei gehalten werden soll. Nach jedem Schritt desinfizieren. Und bei allem: vorsichtig sein.“
An der Wand hängen zwei handgeschriebene Zettel zur Information für die Mitarbeiter: Die Schutzmasken FFP2 und FFP3 sind mittlerweile in einem abgeschlossenen Schrank verstaut. Zu viele sind in der letzten Zeit verschwunden – wie lange die Vorräte noch reichen, weiß keiner. Nachbestellungen sind – wie derzeit überall – längst in Auftrag gegeben. Wann sie ankommen, ist ungewiss.
Grundsätzlich ist der Umgang mit ansteckenden Krankheiten für keinen der hier Anwesenden eine neue Erfahrung. Immer wieder werden auf der Intensivstation Menschen versorgt, für die besondere Schutzmaßnahmen gelten, auch im Moment gibt es mehrere Patienten mit offener Tuberkulose, Influenza, HIV. Die Zahl der Corona-Infizierten in Niedersachsen ist zum jetzigen Zeitpunkt noch vergleichsweise moderat – das merkt man auch hier auf der Intensivstation. Und doch ist die Stimmung seit einigen Tagen zunehmend angespannt. Denn keiner kann abschätzen, welche Dimensionen die Verbreitung des Virus annehmen wird – und wie schnell.
Fragen über Fragen
Die Fragen, die derzeit auf der Station kursieren, kann keiner abschließend beantworten: Wenn sich tatsächlich bis zu 70 Prozent der Bevölkerung mit dem Virus infizieren könnten, von denen – je nach Prognose –zwischen zwei und sieben Prozent intensivmedizinisch behandelt werden müssten: Wie schnell wären die Kapazitäten der Station dann erschöpft? Seit Wochen schon sind zwei der 14 Betten komplett gesperrt – um den vorgeschriebenen Pflegeschlüssel zu erfüllen, reicht das bereits überbelastete Personal nicht aus. Neben dem aktuellen Covid-19-Fall wird außerdem noch ein weiterer Platz für mögliche Corona-Erkrankte freigehalten. Die restlichen Betten sind belegt. Wohin mit all diesen Patienten? Und selbst wenn sie sich auf wundersame Weise in Luft auflösten – wie lange würden 14 Betten für Corona-Patienten mit schweren Verläufen ausreichen? Könnten andere Betten im Haus freigemacht werden? Woher aber sollen dann die dafür nötigen Beatmungsmaschinen kommen? Woher die Schutzkleidung, die schon jetzt droht, knapp zu werden? Und, vor allem: Woher das zusätzliche Personal nehmen, wo doch schon jetzt immer wieder Engpässe zu verzeichnen sind?
„Sobald sich einer von uns infiziert, wird das hier erst richtig schlimm“, sagt eine Pflegerin. „Wenn wir in Quarantäne müssen – dann weiß ich auch nicht mehr, wie der Laden noch laufen soll.“ Eine Kollegin nickt zustimmend: „Das will ich nicht miterleben.“ Nur, lässt sich ein solches Szenario überhaupt noch verhindern?
Wenn man den Oberarzt der Station fragt, ist die Antwort eindeutig. „Medizinisches Personal wird sich infizieren – so viel steht fest.“ Besonders heikel sei die Situation aber vor allem in den Notaufnahmen. „Da sind wir hier wahrscheinlich noch vergleichsweise gut dran. Die Möglichkeiten, die wir ergreifen können, um uns zu schützen, haben andere nicht.“
Der Bildschirm ist rot
Der Oberarzt hat sich für einen kurzen Moment an seinen Schreibtisch gesetzt. Der Bildschirm vor ihm leuchtet zum größten Teil rot, dazwischen sind einige grüne Querbalken zu erkennen. Er hat das Programm „Ivena“ geöffnet, das interne Belegungssystem der Notfallleitstelle Hannover. Hier werden freie Kapazitäten in den Krankenhäusern der Region eingetragen, um die Koordination für den Rettungsdienst zu erleichtern. Für die Intensivstation der MHH bedeutet das täglich dieselbe Aktualisierung: Rot. Keine Betten frei.
„Man muss sich da nichts vormachen“, sagt der Oberarzt. „Auf das, was mit Corona auf uns zukommt, istunser Gesundheitssystem nicht vorbereitet.“ Es habe schon einige Krisenzeiten gegeben, die das System bis zum Anschlag strapaziert hätten. Allein die Grippewelle vor zwei Jahren habe die Arbeit auf der Intensivstation an ihre Grenzen gebracht. „Die Leute unterschätzen, was das für uns bedeutet: Schon damals waren hier alle vorhandenen Beatmungsmaschinen im Dauereinsatz.“ Vom Personal ganz zu schweigen. Und doch habe man die Lage ganz gut in den Griff bekommen: „Influenza ist jedes Jahr aufs Neue eine Herausforderung – aber zumindest verteilen sich die schweren Fälle dabei meistens auf mehrere Monate. Dann lässt sich das ganz gut koordinieren.“ Wenn die Zahl der Covid-19-Infektionen in den nächsten Wochen aber mit einem Schlag in die Höhe schieße, könnte das Ganze anders aussehen. „Klar, in Ausnahmesituationen geht man ans Limit. Wenn hier plötzlich fünf 20-Jährige liegen, die behandelt werden müssen, dann geht wahrscheinlich keiner von uns mehr nach Hause. Aber trotzdem bleibt ja die Frage: Was passiert dann mit Oma Erna, die mit dem Herzinfarkt kommt? Was mach ich denn dann mit der?“ Der Arzt zuckt mit den Schultern. „Im Ernst. Da hab‘ ich auch keine Ahnung.“
Drei Telefone gleichzeitig
Immer wieder diskutiert der Oberarzt solche Fragen mit der „Task Force“, die auf höchster Ebene des MHH-Präsidiums für den Umgang mit der Covid-19-Pandemie eingerichtet worden ist. Täglich berät dort der MHH-Infektiologe Matthias Stoll gemeinsam mit anderen Medizinern und Juristen das weitere Vorgehen der Medizinischen Hochschule. Die „Task Force“ hält die Kommunikation mit Gesundheitsämtern und -behörden auf allen Ebenen, zusätzlich finden Beratungen mit anderen Krankenhäusern und niedergelassenen Ärzten statt. Was das momentan in der Praxis bedeutet, lässt sich im Gespräch mit Stoll nur erahnen: Mitunter klingeln in seinem Büro gleich drei Telefone gleichzeitig, immer wieder klopft es an der Tür. Eine Anfrage jagt die nächste.
„Bisher ist die Zusatzbelastung in unserem Haus trotz allem noch überschaubar“, sagt Stoll. Aber in die Zukunft schauen könne leider auch er nicht. „Sicher – in Italien gibt es bisher weitaus höhere Infektionszahlen, viel schwerere Verläufe, und das Land hat nur einen Bruchteil der in Deutschland verfügbaren Bettenkapazitäten für Intensivbehandlungen“, sagt er. Ausschließen könne man trotzdem nicht, dass auch Deutschland in absehbarer Zeit von Covid-19 überrollt werde, die Intensivbetten und vor allem das Personal nicht ausreichten – und uns hier letztlichähnliche Zustände drohten wie in Italien.Die drastischen, weltweiten öffentlichen Sofort-Maßnahmen in den letzten Tagen steuerten hier wirksam gegen, meint Stoll. Um eine solche Entwicklung so gut es geht aufzuhalten und koordiniert damit umzugehen, steckt er nun all seine Kraft in die interdisziplinäre „Task Force“ seiner Klinik.
„Natürlich gibt es für die MHH Pläne für verschiedene Szenarien, es gibt auch einen detaillierten Alarmplan. Und trotzdem müssen wir jeden Tag aufs Neue bewerten, wie sich die Situation entwickelt – und was das für das weitere Vorgehen bedeutet.“
An der MHH gebe es immerhin gleich mehrere Intensivstationen, die dafür im Bedarfsfall genutzt werden könnten: „Neben den Betten bei den Internisten gibt es weitere die bei den Anästhesisten, den Chirurgen, den Kinderärzten... Da kann man fürs Erste natürlich ausweiten und Schritt für Schritt mehr für die Behandlung von Covid-19-Patienten hinzunehmen.“ Die Frage des Oberarztes kommt ins Spiel: Und was soll dann in Zukunft mit den anderen Patienten passieren?
Gerade wegen solcher Fälle, warnt Stoll, müsse man trotz allem einen angemessenen Mittelweg finden. „Wir sind als Zentrum auch für viele andere Dinge unentbehrlich, das darf man in der Tat nicht vergessen.“ Einige der Intensivstationen seien deshalb gewissermaßen reserviert worden, um auch die Versorgungen jenseits von Corona weiter zu gewährleisten.
Hüftoperationen verschieben
„Am Ende ist es aber trotzdem, wie es ist“, sagt Stoll: „Die Gesamtzahl der Betten wird leider nicht größer, sondern es geht letztlich um eine Umverteilung. Bestimmte Bettenbelegungen sind dann beim besten Willen nicht mehr drin. Hüftoperationen bei älteren Menschen zum Beispiel – so was muss sicherlich erst mal verschoben werden. Für solche Entscheidungen geben die aktuellen COVID-19-Maßnahmenkataloge uns nun auch Rückendeckung.“
Stoll ist alles andere als ein Panikmacher. „In diese allgemeine Kakophonie von hysterischen Meldungen noch mehr Unruhe zu bringen –davon halte ich nur wenig“, hat er gleich zu Beginn des Gesprächs erklärt. Und doch ist auch bei ihm eine gewisse Ratlosigkeit unverkennbar: „Wir haben tatsächlich in zweierlei Hinsicht ein Problem, das auf die Schnelle kaum zu lösen ist“, sagt Stoll. Auf der einen Seite stehe dabei die schrittweiseBetten- und Personal-Reduktion der vergangenen Jahre, die in vielen Krankenhäusern spätestens jetzt gravierende Folgen nach sich ziehen könnte. „Auch wir an der MHH haben in bestimmten intensivmedizinischen Bereichen längst nicht genügend qualifiziertes Personal. Und, was soll ich sagen: Auch in Ausnahmesituationen wächst das dann leider nicht plötzlich auf Bäumen.“
Auf der anderen Seite, so Stoll, stehedie fatale Ökonomisierung der Krankenhäuser in Zuge des Fallpauschalensystems. „Krankenhäuser zu Unternehmen zu machen, die Gewinne erzielen sollen – das ist absurd“, findet er. Dieser Gedanke der Politik sei von Anfang an falsch gewesen. Als Gesellschaft stünden wir letztlich aber alle in der Verantwortung: „Unsere völlige Selbstüberschätzung, dass wir alles im Griff hätten. Diese ständige Geiz-ist-geil-Mentalität. All das fällt uns jetzt auf die Füße.“
Wieder klingelt eines von Stolls Telefonen. Ein Kollege fragt, wie man in Zukunft mit Nierenerkrankten verfahre, die mehrmals pro Woche zur Dialyse kommen müssten. Wenn solche Menschen sich mit Covid-19 infizierten, müssten auch sie in Quarantäne – wie aber soll dann die regelmäßige Blutreinigung garantiert werden? Stoll muss los, seine Kollegen warten bereits vor der Tür.
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