Relotius oder im Nachhinein ist man schlauer

Journalismus Die schnelle und verallgemeinernde Reaktion auf einen Skandal

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Im Nachhinein ist man immer schlauer

Die Reaktion war sicherlich bei vielen ähnlich: Wie blind muss man denn sein, dass sowas passieren konnte? Die betroffenen Redaktionen - und dazu zählt nicht nur der Spiegel - haben tatsächlich nur wenige Tage gebraucht, um die größten Unstimmigkeiten in den Texten von Claas Relotius zu enttarnen: falsche Orts- und Zeitangaben, falsche Zitate, sogar falsche Protagonisten. Wie überhaupt konnte sowas passieren, wenn nur ein Paar Anrufe und sogar Google-Recherchen genügen, um die Wahrheit zu entdecken? Klar hätte man mehr aufpassen müssen und minutiös nach Fehlern suchen. Klar hätte man die Wahrhaftigkeit solcher Geschichten in Frage stellen müssen, denn sie waren narrativ einfach zu perfekt. Klar, hätte man - aber im Nachhinein ist man immer schlauer. Die erste Lehre aus dem Fall Relotius ist die Feststellung, dass interne Kontrollmechanismen nur zum Teil funktionieren, weil sie eben eines voraussetzen: Vertrauen. Vertrauen in den Kollegen, der am Schreibtisch daneben sitzt, sowie in den Interviewten, den wir zum beliebigen Thema befragen. Jede Redaktion, sowie jedes Unternehmen, jedes Krankenhaus, jede Schule und man könnte mit der Liste so weitermachen, kann die eigenen Mitarbeiter nur bis zu einem bestimmten Punkt kontrollieren, und es ist auch richtig so. Hochstapler, sad but true, wird es immer geben, auch in der Hochburg des deutschen Journalismus. Soll man also nichts dagegen tun? Nein, natürlich nicht. Man sollte die internen Prozesse revidieren. Man sollte die Kontrollmechanismen verbessern. Man sollte im Journalismus die Gier nach Stories - wie sie gerne auf Englisch genannt werden - hinterfragen. Und vor allem, man sollte nicht wegschauen, bewusst oder unbewusst. Der Journalist Juan Moreno, der den Fall enttarnt hat, schrieb, dass er "gegen dicke, solide Betonwände" stoßen musste, bevor ihm von seinen Chefs überhaupt geglaubt wurde. Hier ist die Falle, hier war der größte Fehler. Warum man ihm lange nicht geglaubt hat? Das wäre tatsächlich eine gute Frage für den Spiegel.

Der Teil und das Ganze

Der Name "Relotius" ist kein Synonym für "Journalismus in Deutschland", wie in den letzten Tagen mehrmals geschrieben wurde, sondern eher ein Teil davon: ein nicht geringfügiger, aber auch nicht ein mehrheitlicher Teil. Dass der Fall Relotius bald den ganzen deutschen Journalismus (und seine Glaubwürdigkeit) personifizieren durfte, ist ein Zeichen dafür, dass die Reputation der Branche gerade nicht seine beste Zeit erlebt. Oder auch, dass man häufig nicht mehr in der Lage ist, differenzierte Urteile abzugeben, ohne jedes Mal verallgemeinern zu müssen - egal, ob es um Presse, Politik, Migration oder Umwelt geht.

Einer der modernsten und passendsten Beschreibungen eines Hochstaplers hat der US-amerikanische Schriftsteller David Foster Wallace in seiner Erzählung Good Old Neon geschrieben - und zwar viele Jahren vor dem Fall Relotius. So fängt die Erzählung an: «My whole life I’ve been a fraud. I’m not exaggerating. Pretty much all I’ve ever done all the time is try to create a certain impression of me in other people. Mostly to be liked or admired. It’s a little more complicated than that, maybe. But when you come right down to it it’s to be liked, loved. Admired, approved of, applauded, whatever». Eine gute Lektüre zum Jahresanfang.

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