In der Debatte um ein zukunftsfähiges linkes Programm angesichts der multiplen Krisensituation, in der wir uns aktuell befinden, sind schon richtige Dinge gesagt worden. Es stimmt, dass die Linke materialistischer werden muss (Heisterhagen/Jörke in der Freitag). Das Kapital muss wieder stärker reguliert, die Billiglohnpolitik beendet und die Gewerkschaften gestärkt werden. Und natürlich sollte es einen dritten Weg geben zwischen kosmopolitischem Liberalismus und rechtspopulistischem Nationalismus (Nachtwey in der ZEIT vom 31.1.). Doch ist dies ausreichend? Ist nicht das Problem vielmehr, dass die Identitäts- und die Verteilungsfragen mit einer anderen Krise aufs Engste verknüpft sind, nämlich der ökologischen Krise? Diese droht wieder mal im Zeichen anempfohlener neuer Verteilungspolitiken unter den Teppich gekehrt zu werden.
Eine Vision für die kommenden Jahrzehnte kann man politisch jedoch nur gewinnen, wenn man radikaler den Produktivismus und immer noch vorhandenen Industrialismus der Sozialdemokratie und der Linken überhaupt überwindet – ohne dabei auf illusionäre Konzepte einer „Green Economy“ des linksliberalen Milieus der Realo-Grünen zu setzen. Es geht nicht um die Frage Identitätspolitik und/oder Verteilungsfrage, es geht um eine sozialökologische Transformation und damit um die Frage, wie wir mit den (menschlichen und nichtmenschlichen) Anderen zusammenleben können. Mit anderen Worten: Wie kann man ein gutes Leben für alle anvisieren, ohne bestimmte Gruppen – seien dies nun abgehängte Arbeiter des globalen Nordens oder die Näherinnen in Bangladesch, seien es Geflüchtete, seien es Bienen oder Eisbären – auszuschließen oder sich gar ein gutes Leben auf ihre Kosten zu machen?
Alte Fortschrittserzählungen – Erzählungen von Sozialismus, Aufklärung, einer Zähmung des Kapitalismus durch Sozialstaatlichkeit und von Fortschritt durch Technik – haben sich verbraucht. Deshalb reicht es auch nicht, die Sozialdemokratie rituell darauf hinzuweisen, dass aktuell Jeremy Corbyn in Großbritannien Erfolge einfährt. Umverteilung ist jetzt politisch zwar richtig und wichtig, aber kein Zukunftskonzept, wenn sich an den Konturen der „Externalisierungsgesellschaft“ (Lessenich) sonst nichts ändert, wenn wir also im Norden alle – egal ob privilegiert oder nicht – auf Kosten des Südens leben. In allen Bevölkerungsgruppen sind düstere Zukunftsvorstellungen spürbar, die Angst, im Vergleich mit anderen den Kürzeren zu ziehen, das Unbehagen, den Kindern und Enkeln eine kaputte Welt zu hinterlassen. Unsicherheit ist zum existenziellen Grundgefühl geworden. Die Zukunft erscheint aus der ohnmächtigen Perspektive vieler Einzelner nicht mehr als gestaltbar, sondern als geschlossen. Darauf reagiert man dann wiederum mit dem Wunsch nach geschlossenen Grenzen und homogenen „Völkern“ – selbst unter Linken artikuliert sich dieser immer deutlicher. Lafontaine und Wagenknecht sind da nur die prominentesten Beispiele.
Der Kuchen wird nicht größer
Und was ist die gemeinsame Antwort aller politischen Lager? Wirtschaftswachstum wird weiter als Lösung angepriesen und Allheilmittel beschworen, obwohl man weiß, dass wir faktisch im globalen Norden auf ein Nullwachstum zusteuern und diese Wachstumsrücknahme auch aus ökologischen Gründen notwendig ist. Wenn die Diagnose zutrifft, dass im globalen Norden ein Wachstum des BIP in Zukunft ausbleibt, wird der Kuchen nicht mehr größer, der verteilt werden kann. Neue soziale Konflikte, Spannungen und das Schüren von Ängsten wären damit vorprogrammiert. Der Konflikt zwischen den Gruppen, die sich mit dem Rassismus der AfD verbunden fühlen, und denen, die für die offene Gesellschaft eintreten, ist nur der Anfang weiter drohender Verwerfungen der deutschen Gesellschaft, wenn nicht grundsätzlich umgesteuert wird. Vielfältige Ideen für die Richtung einer fundamentalen gesellschaftlichen Transformation gibt es zwar durchaus. Aber sie werden kaum von der Politik wahrgenommen und auch nicht laut genug von Wissenschaftler/innen und Intellektuellen in die Debatte eingebracht.
Neue Formen der Konvivialität (von lat. convivere: zusammenleben) müssen gefunden und eingefordert werden. Convivialité, Convivialiad, Convivialidade, Conviviality ist in vielen europäischen Sprachen durchaus gebräuchlich – auf Deutsch lässt sich seine Alltagsbedeutung am ehesten mitgastlich oder gesellig übersetzen. Ausgehend von Ivan Illichs Buch „Tools for Conviviality“ aus dem Jahr 1973, einem Klassiker der Sozialkritik, hat der Begriff der Konvivialität später Eingang gefunden in andere Debatten, etwa in die britische Diskussion um eine neue Multikultur und in den aus Frankreich kommenden Konvivialismus. Das konvivialistische Manifest einer Gruppe von französischsprachigen Intellektuellen um den Soziologen Alain Caillé erschien im Jahr 2013 und geht über die bisherigen Verwendungsweisen hinaus, indem es aus der Konvivialität einen „Ismus“ macht: eine normative Überzeugung, eine transformatorische „Kunst des Zusammenlebens“ und ein politisches Programm, das die großen politischen Ideologien des 20. Jahrhunderts überwindet. Das Ziel der Konvivialistinnen und Konvivialisten ist eine demokratisch-egalitäre Gesellschaft jenseits der Wachstumslogik. In dieser sollen die Verbindungen von Individuen, Gruppen und Gemeinwesen auf neue Art und Weise sichtbar gemacht werden, Menschen einander in ihrer Unterschiedlichkeit achten und dabei zum Wohle aller – unter konstruktiver Austragung von Konflikten – kooperieren. Eine reale Utopie zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation und Kooperation für die Postwachstumsgesellschaft.
Die aktuelle Debatte um die Zukunft der Linken verstrickt sich hingegen wieder in der dichotomen Gegenüberstellung von Staat und Markt. Zwar wurde unter Gerhard Schröder vermehrt politisch die Zivilgesellschaft gefördert, dabei stand jedoch die steuerliche Förderung von Stiftungen, also hauptsächlich die Elitenphilanthropie, im Fokus der Aufmerksamkeit. Doch sind es vor allem soziale Bewegungen und zivilgesellschaftliche Gruppen, in denen nach neuen Formen der Konvivialität gesucht wird. Diese Bewegungen streiten für die Regulierung des Finanzkapitalismus, für Menschenrechte des digitalen Zeitalters, für eine kleinbäuerliche und ökologische Landwirtschaft, religiösen Dialog, Integration von Flüchtlingen, andere Ansätze der globalen Armutsbekämpfung, die Stärkung der Gemeingüter, neue politische Partizipationsformen und die Reterritorialisierung politischer Entscheidungsvollmachten. Praktisch wird Konvivialität ohnehin in einer Vielzahl von sozialen Konstellationen gelebt: im familiären und freundschaftlichen Rahmen, in dem im Allgemeinen die Logik des Teilens und nicht die des individuellen Profits zählt. Dann in hunderttausenden von assoziativen Projekten der Zivilgesellschaft weltweit, im freiwilligen Engagement, im Dritten Sektor, in der solidarischen Ökonomie, in Kooperativen und Genossenschaften, im moralischen Konsum, in NGOs, in peer to peer-Netzwerken, Wikipedia, sozialen Bewegungen, Fair Trade, der Commons-Bewegung und vielem mehr. Allerdings stehen diese konvivialen Experimente bislang oft unvermittelt nebeneinander und erfahren durch die Politik eher eine Behinderung als eine Förderung.
Brauchen wir überhaupt Wachstum?
Eine konviviale Gesellschaft muss die Idee des ökonomischen Wachstums radikal in Frage stellen. Neue Formen des Wirtschaftens sind gefordert, die den Kreislauf der permanenten Kreation von immer mehr und prinzipiell unbegrenzten Bedürfnissen – geschaffen durch die Profitlogik – durchbrechen. Diese Idee wird in der immer größer werdenden Postwachstums- oder Degrowth-Bewegung diskutiert und praktisch umzusetzen versucht. Es wird Zeit, sich kulturell und politisch aus den Fesseln des Ökonomismus zu befreien. Vielleicht brauchen wir gar kein Wachstum, um ein gutes Leben zu führen? Genossenschaften, Nonprofit-Unternehmen und viele mittelständische Betriebe haben noch nie primär auf Wachstum gesetzt. Befreit man sich vom Glauben an die Notwendigkeit des Wachstums, kann man sich auch trauen, den Auswüchsen des Neoliberalismus endlich Einhalt zu gebieten: ein Austrocknen der Steueroasen, die Erhebung von höheren Kapitalsteuern, Finanztransaktionssteuern, das Anheben der Vermögens- und Erbschaftssteuern, einen Schuldenerlass für Griechenland und andere Staaten vornehmen – all diese Maßnahmen stehen sowieso dringend auf der wirtschaftspolitischen Agenda.
Die größte Herausforderung für eine linke Vision einer Postwachstumsgesellschaft besteht darin, wie sich die Abkehr vom Wirtschaftswachstum mit der Notwendigkeit, das materielle Niveau der unterprivilegierten Schichten anzuheben, verbinden lässt. Wenn der Kuchen nicht mehr wächst, sondern gar schrumpft, muss den Privilegierten viel radikaler etwas genommen werde. Dies geht nur, wenn wir uns von der Macht der Ökonomie befreien. Nicht nur die Ökonomie zu verstaatlichen, sondern sie gleichsam zu verlassen, dies wäre ein linkes Projekt. Konkret bedeutet dies, die Abhängigkeit der Bürgerinnen und Bürger von Unternehmen und Märkten abzumildern. Dazu braucht es einerseits einen funktionierenden öffentlichen Sektor und andererseits vor allem neue Formen der Kooperation zwischen Unternehmen, der öffentlichen Hand und zivilgesellschaftlichen bzw. Nonprofit-Organisationen. Gemeingüter sollten nicht privatisiert, sondern erhalten und neu kreiert werden, Genossenschaften (die die Trennung von Kapital und Arbeit aufheben) gilt es zu fördern, regionale Komplementärwährungen sind zu unterstützen. Konsumgüter brauchen eine längere Haltbarkeit, ein Leben ohne Autos muss möglich gemacht werden, und schließlich muss die Abhängigkeit nicht nur von Märkten und Unternehmen, sondern auch vom Geld durch Formen nicht-monetären Austausches verringert werden. Es braucht alternative Kennziffern und neue qualitative Parameter zur Beurteilung der Ökonomie (und nicht das BIP). Schließlich brauchen wir ein radikal verändertes Verständnis von Unternehmen. So kommt ihnen bspw. im Konzept der Gemeinwohlökonomie nicht nur die Aufgabe zu, rentabel zu sein, sie sollten auch Gemeinwohlaspekte berücksichtigen. Dort werden sie weniger als privatwirtschaftliche denn als gemeinschaftliche Unternehmen verstanden, die darauf hinarbeiten, gemeinsame Werte zu erzeugen, die über das Monetäre hinausweisen und nicht mehr ökologische und soziale Kosten externalisieren.
Eine konviviale Politik müsste im Namen der Natur und der Gleichheit aller Menschen einen Kampf gegen Maßlosigkeit einerseits und Ungleichheit andererseits führen, konkret: gegen Armut und extremen Reichtum. Ein bedingungsloses existenzsicherndes Grundeinkommen sowie die maximale Begrenzung von Einkommen wären eine Möglichkeit dafür. So könnten öffentliche Aufträge nur noch an Unternehmen vergeben werden, dessen Vorstand in Relation ein etwa 25-faches des Einkommens einer einfachen Angestellten des Unternehmens verdient (statt aktuell das 100-fache und mehr). Ein bedingungsloses Grundeinkommen böte die Chance, die Fixierung auf Erwerbsarbeit abzuschwächen. Existenzängste könnten dadurch deutlich reduziert und kreative Räume des Zusammenlebens sowie der zivilgesellschaftlichen Selbstorganisation eröffnet werden. Auf der anderen Seite würden explodierende Einkommensentwicklungen am oberen Rand eingedämmt. Moralisch würde sich darin ausdrücken, dass sich zum einen niemand für seine Existenz zu schämen braucht und dass zum anderen die Hybris, sich über andere zu stellen, alles für machbar zu halten und sich dem Gemeinwohl zu entziehen, inakzeptabel ist. Die Perspektive der Konvivialität zielt nicht darauf ab, den Gürtel enger zu schnallen, sondern auf Fülle, die aus der Begrenzung entsteht: auf die Fülle, die entstehen könnte, wenn die Stadt nicht Entfaltungsraum für Kapital und Autos, sondern Lebensraum für Menschen wäre. Wenn das oberste Ziel nicht das Trimmen für den globalen Wettbewerb sein müsste, wenn das Leben nicht primär aus Lohnarbeit bestünde, sondern viele Arten des Tätigseins gleichberechtigt nebeneinander stehen könnten.
Nun liegt an dieser Stelle der Einwand nahe, dass wir uns nicht der globalen Konkurrenz entziehen können. Der globale Süden holt gewaltig auf, dortige Mittelschichten und ihr Wachstumshunger werden größer. Eine solche Skepsis übersieht jedoch die Enttäuschung des Südens über den neoliberalen Kurs der letzten Jahrzehnte. Auch hier bestehen ein großes Bedürfnis nach Alternativen und ein Potenzial für transnationale Bündnisse. Das vom IWF und von der Weltbank konzertierte Lob der „new emergent middle classes“ geht mit schweren Folgen für die meisten Länder Afrikas, Asiens und Lateinamerikas einher. Denn damit ist auch eine neokoloniale Arbeitsteilung verbunden, nach der ganze Gesellschaften zu Lieferanten von Rohstoffen für China und den globalen Norden degradiert wurden. Die einst von westeuropäischen und US-amerikanischen Konsummustern begeisterten „Aufsteiger“ ziehen bereits eine kritische Bilanz aus ihrem jüngsten Expansionstrip: verheerende Umweltzerstörungen, hochverschuldete Familien und Staaten, frustrierte Erwartungen und politische Krisen sind nur die sichtbarsten negativen Folgen davon. In Bezug auf das Nord-Süd-Verhältnis muss eine Politik der Konvivialität auf eine globale Umverteilung setzen. So wie sich die soziale Frage Ende des 19. Jahrhunderts jeweils national durchgesetzt hat, gilt sie heute global. Die nationalen Staatsbürgerrechte dürfen kein Schutzzaun für die Verteidigung der Privilegien eines kleinen Teils der Weltbevölkerung gegen die Bedürfnisse aller anderen sein.
Politik von unten
Doch nicht nur zwischen Menschen und Kulturen müsste eine neue Politik der Konvivialität Einzug halten, auch im Verhältnis der Menschen zur Natur. Die Erderwärmung, der drastische Rückgang an Artenvielfalt, die kapitalistische Inwertsetzung der Natur – diesen Schwierigkeiten wird man kaum mit einem technokratischen „weiter so“ begegnen können. Konvivialität bedeutet auch, nicht nur auf die deutsche Ingenieurskunst zu vertrauen, sondern eine neue Ethik der Mitwelt zu finden. Die „Green Economy“ oder den „Ecomodernism“ zu beschwören, kommt aus einer konvivialen Perspektive nicht in Frage, sind doch technokratische Projekte häufig Teil des Problems und nicht die Lösung. Stattdessen brauchen wir eine neue breite gesellschaftliche Debatte darüber, welche Technik wir haben wollen. Eine konviviale Technik wägt die ökologischen und sozialen Auswirkungen, die jede Technik mit sich bringt, genau ab und stellt diese wieder zur Diskussion. Sie bevorzugt Ziele in Sicht- und Reichweite, das heißt offene gegenüber proprietären Lösungen, Anpassungsfähigkeit gegenüber Einheitslösungen, und Angemessenheit in der Anwendung.
Klar ist auch, dass es einer Demokratiereform bedarf – immer mehr Menschen sehen sich „von denen da oben“ nicht vertreten und betreiben Politik von unten. Dabei gibt es verschiedene Vorschläge, wie eine solche Reform aussehen könnte. Patricia Nanz und Claus Leggewie etwa plädieren dafür, dass zufällig ausgewählte Bürger und Bürgerinnen in Zukunftsräten über die Zukunft ihrer Kommune debattieren und konkrete politische Vorschläge zu Fragen von Energie, Ökonomie, Migration, Wohnungsmarkt etc. entwickeln können. Die Gemeinwohlökonomie Christian Felbers fordert Wirtschaftskonvente, in denen die Ziele von Unternehmen mit Bürgerinnen und Bürgern gemeinsam festgelegt werden. Weitere konkrete Ideen für eine Wirtschaftsdemokratie werden unbedingt benötigt.
Es kommt also insgesamt darauf an, das bisher dominierende neoliberale und individualistische Wettbewerbsdenken zu brechen, ohne in überkommenen Visionen von wirtschaftlichem Wachstum und nationaler Souveränität zu schwelgen. Die aktuell wieder romantisierte industrielle Wachstumslogik war ja immer schon schädlich. Dies wussten noch die Entfremdungskritik der Kritischen Theorie oder der Ökosozialismus eines André Gorz. Mittelfristig brauchen wir den Ausstieg aus der Ökonomie und eine Gegenhegemonie der Konvivialität.
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