Zeit, Angst und das Ende der Allmacht

Gastbeitrag Die Corona-Pandemie und der Klimawandel erschüttern die Beherrschbarkeitsphantasien der westlichen Moderne. Die Trennung von Natur und Kultur ist hinfällig
Schaffen wir das wirklich? Vielmehr zeigt COVID-19, dass die westliche Moderne in eine Sackgasse geraten ist
Schaffen wir das wirklich? Vielmehr zeigt COVID-19, dass die westliche Moderne in eine Sackgasse geraten ist

Foto: Drew Angerer/Getty Images

Alle sind sich derzeit einig, dass Covid-19 uns in eine welthistorische Zäsur befördert hat, mit offenem Ausgang. Schon werden erste Zeitdiagnosen gewagt, die auf die Zukunft abzielen, und linke Intellektuelle beteiligen sich an diesem Spiel mit erwartbaren Reflexen: Beispielsweise sieht man nun die Zeit reif für den Kommunismus (Slavoj Žižek) oder erwartet den permanenten Ausnahmezustand (Giorgio Agamben).

Diese Schnellschüsse ignorieren das Offenkundige: Erstens weiß keiner, wie es weitergeht, und zweitens ist zunächst einmal ein Riss in unserem Vorstellungsraum entstanden. Grundfeste moderner Gesellschaften sind erschüttert worden. Politiker taten das Undenkbare und fuhren zugunsten des Gemeinwohls das öffentliche und wirtschaftliche Leben herunter. Für einige Wochen mussten Allmachts- und Beherrschbarkeitsphantasien gegenüber der Natur, die so typisch für die westliche Moderne sind, beiseite geschoben werden. Es wurde deutlich, dass bestehende Gewissheiten in einem irrsinnigen Tempo zerrüttet werden können, dass es keine Garantien für Sicherheit gibt. Falsche Gewissheit wurde abgelöst von Kontingenzbewusstsein. Der Machbarkeitsglaube ist einer vorsichtigen und tastenden Suche nach temporären Lösungen gewichen. Wir sind nicht mehr die Herren in unserem Haus. Zugleich ist paradoxerweise doch bloß genau das passiert, vor dem die Wissenschaften seit Jahren gewarnt haben – man hat es also wissen können.

Vorgebliche Gewissheit

Der Verlust an Sicherheiten ist das Signum dieser Zeit. Neues erscheint nun einerseits möglich – andererseits macht genau dieser Verlust an vorgeblicher Sicherheit und Gewissheit Angst. Angst ist ein zukunftsorientierter Affekt. Sie wirkt selten produktiv, verbreitet sich virulent und zumeist versucht man, sie zu unterdrücken oder in eine erneute Suche nach Beherrschbarkeit, Kontrolle und Gewissheit – auch in Form von Verschwörungstheorien – zu kanalisieren. Dabei drückt sich in der Angst zunächst einmal die Verletzbarkeit des Lebens aus. Lässt sich diese Angst gesellschaftlich überhaupt aushalten, kann sie produktiv gemacht werden, oder muss sie zwangsläufig verdrängt werden? Diese Frage markiert die Wegscheide, vor der wir stehen. Bisher ist die Angst vor den Folgen unseres Tuns, etwa dem Klimawandel, sehr erfolgreich verdrängt worden.

Dabei wird mittlerweile allen mehr und mehr klar, dass die Corona-Pandemie erst der Anfang ist. Im Vergleich zu den Folgen des Klimawandels stellt der Umgang mit Covid-19 wahrscheinlich noch eine Leichtigkeit dar. Die Corona-Krise zeigt, mit welch unterschiedlichen Zeitlichkeiten wir es zu tun haben. Dass das Virus von Tieren stammt, über Zoonosen übertragen wurde und der schon Jahrtausende andauernde Schwund der Biodiversität Pandemien begünstigt, wird zunehmend zum allgemeinen Wissensbestand. Die Pandemie kam zwar innerhalb weniger Wochen über die Welt, wurde aber durch eine über einhundertjährige Geschichte der Globalisierung vorbereitet. Das Virus des Neoliberalismus wiederum kursiert schon seit mehr als 40 Jahren und hat über Privatisierungen und Einsparungen im Gesundheitswesen die Krise befeuert. Dies zeigt, dass die akute Krise einen enormen zeitlichen Vorlauf hat und sich in ihr unterschiedliche Zeitlichkeiten überlagern. Momentan überlappen sie sich und Ähnliches werden wir demnächst aller Voraussicht nach wieder erleben.

Schock mit Vorlauf

Denn auch durch die Klimakrise wird es zu akuten Schocks und Katastrophen kommen: sei es durch Starkregen mit Überschwemmungen, sei es durch Dürren mit Wasser- und Nahrungsmittelknappheit oder durch Migration aus Kriegs- und Hitzegebieten. Auch diese Schocks haben einen zeitlichen Vorlauf von Jahrzehnten und Jahrhunderten. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs erleben wir eine große Beschleunigung in der Belastung des Erdsystems: Co2-Ausstoß, Energieverbrauch, Wasser- und Düngemittelverbrauch haben seitdem dramatisch zugenommen. Der Aufbau von resilienten gesellschaftlichen Infrastrukturen und der vorbeugende Kampf gegen die Massivität des Klimawandels gehören im Anthropozän also zusammen. Das Problem ist so zum einen die Gradzahl, um die sich die Erde erwärmen wird und wie viele Arten sterben werden, und zum anderen, wie die Gesellschaften darauf vorbereitet sind. Beherrschen lässt sich das Problem des Klimawandels – oder allgemeiner noch: die Natur – jedoch nicht. Vielmehr wird es darauf ankommen, gesellschaftliche Zeitvorstellungen mit den Rhythmen des sich erwärmenden Planeten zu verzahnen.

Eine Kritik an der modernen Trennung von Natur und Kultur ist in den Erdsystemwissenschafen, in der Philosophie und den Sozialwissenschaften schon lange formuliert worden. Nun steht uns eigentlich deutlich vor Augen, dass sie hinfällig ist. Wer jetzt von einer rein gesellschaftlichen Krise spricht, verkennt die Tatsache, dass das Virus tatsächlich etwas tut – dass es Teil auch der menschlichen Gesellschaft ist. Wer Covid-19 umgekehrt naturalisiert, übersieht, dass die Aktivitäten des Virus ohne Schutzmasken, Beatmungsgeräte, Polizei, Datenerhebungen, Virologen und Politikerinnen nicht verständlich sind. Unsere gesellschaftliche Krise ist nur ökologisch zu beschreiben: Verschiedene Spezies sind voneinander abhängig.

Die Moderne in der Sackgasse

Zusammen genommen bedeutet dies, dass der überkommene Zukunftshorizont moderner Gesellschaften dramatisch geschrumpft ist. Galt die Zukunft in der Moderne als prinzipiell offen und dem Fortschritt zugewandt, so klingt es derzeit geradezu verzweifelt, wenn man versucht, die Konturen einer positiven und nachhaltigen Welt zu zeichnen. Covid-19 müsste zunächst einmal dazu führen, den Riss in der Zeit wahrzunehmen, zu sehen, dass die westliche Moderne in eine Sackgasse geraten ist. Im Stillstand des Lockdown scheinen gerade die verschiedenen Temporalitäten von Mensch und Natur auf eine extreme Beschleunigung zuzulaufen: Schon droht beispielsweise die nächste Trockenheit und Dürre in Europa.

Das schmerzt, macht Angst und wird kaum auszuhalten zu sein – die Gegenbewegungen, die auf Abschottung und Verdrängung abzielen, stehen schon in den Startlöchern. Da die Moderne von einer prinzipiellen Maßlosigkeit gekennzeichnet ist und ihr Allmachtsvorstellungen und Hybris eingeschrieben sind, bringt Covid-19 die Zumutung mit sich, die Grenzen dieses historischen Entwicklungspfads aufgezeigt zu haben. Wir erleben nun sozialen Stillstand oder Rückschritt bei Beschleunigung ökologischer Schäden, keinen Fortschritt mehr, sondern die Eindämmung von Katastrophen. Vor allem erleben wir Abhängigkeit voneinander, nicht Unabhängigkeit.

Die Krise hat vielen Menschen enorm viel Leid und auch den Tod gebracht. Corona hat so weltweit in aller Dringlichkeit die Frage aufgeworfen, wie man auf diesem Planeten überhaupt gut und fair zusammenleben kann. Ein Riss durchzieht nun unseren Vorstellungsraum, der zeigt, dass man nicht alles gestalten und beherrschen kann. So konnte die Welt wenigstens für einen Moment erfahren, dass Selbstbegrenzungen möglich sind. Wie sich dieser Riss zukünftig in das kollektive Gedächtnis der Gesellschaften einschreiben wird, vermag allerdings derzeit niemand zu sagen.

Frank Adloff ist Professor für Soziologie an der Universität Hamburg und Ko-Direktor der dortigen Kolleg-Forschungsgruppe „Zukünfte der Nachhaltigkeit“. Der Text ist ein Auszug aus einem Beitrag des Autors in folgendem Buch, das im Juli 2020 beim transcript Verlag erscheinen wird: Christian Keitel, Michael Volkmer, Karin Werner (Hg.): Die Corona-Gesellschaft. Analysen der Lage und Perspektiven für die Zukunft

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