Ecuador: Die urbane Erneuerung der Hafenstadt Guayaquil wird zur sozialen Provokation
Reportage Bei der Erweiterung der Hafenstadt Guayaquil werden den Bewohner*innen vernachlässigter Viertel in der Millionenmetropole Luxushotels und Apartments vor die Nase gesetzt. Frank Braßel über den Hochmut der ecuadorianischen Regierung
Viele Bananen und viele Drogen gehen von hier in die Welt. Heiß, hässlich, gefährlich – klassische Attribute für Guayaquil, die größte Hafen- und Handelsmetropole Ecuadors mit gut drei Millionen Einwohnern. Kein klassisches Touristenziel, höchstens ein Zwischenstopp unterwegs zu den Galapagos-Inseln. Doch wer die Stadt besucht und sich einen Eindruck verschaffen will, besteigt wahrscheinlich den Cerro Santa Ana, den Altstadt-Hügel am Ende der Uferpromenade „Malecón 2000“ des Flusses Guayas. Tatsächlich bietet sich hier ein Spaziergang an, der Einblicke in die Geschichte und die krassen Widersprüche der Stadt liefern kann.
Gemäß einer Legende haben sich Guayas, ein Führer des Puruhá-Volkes, und seine
und seine Frau Quil von dem bewussten Hügel gestürzt, um nicht den spanischen Eroberern in die Hände zu fallen. Belegt ist, dass ab 1547 am heutigen Cerro Santa Ana die erste Siedlung der Kolonialherren entstand. Sie fiel bald einem Brand zum Opfer, und das neue Zentrum wurde zwei Kilometer davon entfernt in die Ebene verlegt. Der Hügel war die nördliche Grenze für die Besiedlung Guayaquils und blieb lange Brachland. Erst in den vergangenen hundert Jahren wurde er von Menschen mit geringem Einkommen besiedelt. Ohne jede Zufahrtsstraße und sonstige Infrastrukturn war dieser Ort für gehobene Wohnansprüche ungeeignet.444 Stufen hinaufLediglich entlang der Küstenstraße errichteten Kakao-Barone und eine wohlhabende Boheme mehrgeschossige Villen, die heute im Viertel „Las Peñas“ als teils luxuriöse Touristenherbergen gelten und Zuspruch finden. Gern erinnern Anwohner daran, dass der spätere kubanische Revolutionsheld Che Guevara im Herbst 1953 hier einige Zeit in einem Haus am Fluss verbracht hat. Der Cerro Santa Ana selbst blieb über Jahrzehnte ein Armenviertel und wegen der Kriminalität ein höchst gefährlicher Ort. Inzwischen lädt ein schöner Spaziergang der 444 Stufen den Hügel hinauf. Während unten der Verkehr brodelt, finden sich hier Oasen der Ruhe. Kleine Häuser in kräftigen Farben ziehen sich den Hügel empor. Fast jedes zweite Domizil beherbergt ein Restaurant, es gibt jede Menge Kioske, Galerien oder Karaoke-Bars. Palmen, Laternen, Bänke und einige Aussichtsplattformen sind über den Weg verteilt. Kein anderes Barrio in Guayaquil weist eine derart funktionierende Infrastruktur auf, die es ermöglicht, ein idyllisches Refugium zu genießen. „Es gibt ganz klar ein Davor und ein Danach, denn die ‚Renovación urbana‘ hat alles verändert“, sagt Velez Linares, der Wirt des Lokals „La Taberna“. „Wir leben an diesem Ort in der sechsten Generation. Seit 1985 betreiben wir das Etablissement. Seit die Stadtverwaltung mit den Arbeiten an Treppen und Häusern begonnen hat, ermöglicht das ein stabileres und vor allem besseres Einkommen.“ Velez Linares lebt am Fuße des Hügels und profitiert besonders von den Touristen, einheimischen wie denen aus Nordamerika und Übersee. Fast alle Bewohner sprechen von einem „positiven Schub“, zu dem es durch die „städtische Erneuerung“ gekommen sei, wie es in der Amtssprache heißt. Kaum jemand sei weggezogen, und eine schleichende Gentrifizierung wie in der Hauptstadt Quito lasse sich nicht feststellen. „Meine Familie wohnt in dieser Gegend seit gut 50 Jahren, wir hatten kein Geld für ein eigenes Restaurant, von der Stadtverwaltung gab es nichts“, erzählt der afro-ecuadorianische Taxifahrer am Fuße des Hügels. Aber es sei nunmehr ein Leichtes, Fahrgäste zu finden.Zu Beginn des Jahrtausends ließ die Stadtverwaltung von Guayaquil den Hauptweg auf den Cerro Santa Ana renovieren. Ordentliche Stufen und gepflasterte Wege, wo früher nur Trampelpfade waren, dazu ein Abwassersystem, Beleuchtung und eine Renovierung der Hausfassaden, um diese zu vereinheitlichen. „Es handelte sich um eine rein ästhetische Maßnahme, alles sollte schön aussehen für Besucherinnen und Besucher. Am Modell der Stadtentwicklung hat sich nichts geändert. Leider wurde diese Entscheidung ausschließlich von der Verwaltung getroffen, es gab keinerlei Bürgerbeteiligung“, bedauert Florencio Compte, Architekt und Vizerektor der Katholischen Universität von Guayaquil. Tatsächlich reduzierten sich die Renovierungsarbeiten auf Äußerlichkeiten, während die Innenausstattung und die sanitären Bedingungen vieler Behausungen bis heute eher suspekt seien.Placeholder infobox-1Eine junge Frau verkauft Getränke und Süßigkeiten in einem Vorraum ihres Hauses. „Das Gebäude hatte bereits mein Großvater erworben, nach der Renovación haben wir den Kiosk eröffnet. Er bringt uns von den Einnahmen her im Monat so viel wie ein Job in der Fabrik. Ich öffne gegen zehn Uhr morgens und schließe um Mitternacht, am Wochenende auch erst gegen zwei oder drei Uhr morgens, wenn noch Touristen unterwegs sind.“ Mitten in der Nacht durch Guayaquil spazieren? In der Hafenstadt sind Überfälle an der Tagesordnung, besonders die Mordraten von Drogenbanden explodieren gerade. Im ersten Quartal kamen in jeder Woche mehrere Menschen gewaltsam zu Tode. Schockierende Zustände, die bewirken, dass im Stadtzentrum von Guayaquil rings um den Parque Seminario, wo man zahme Leguane füttern kann, nach Sonnenuntergang kaum noch jemand auftaucht, die Stadt dunkel und trübe wirkt. Tagsüber belebte Straßen liegen verwaist. Am Cerro Santa Ana ist das freilich anders: Abends füllen sich die Treppen rings um die neu errichtete Kapelle und den Leuchtturm, Menschen genießen einen erfrischenden Wind sowie den Ausblick auf die riesige Mündung des Río Guayas. Beim Abstieg lässt man sich einen Snack gefallen, weil die Gegend als sicher gilt. Und Sicherheit entscheidet über die Lebensqualität eines Viertels von Guayaquil. Schon wer in eine Seitengasse abbiegt, wird von Wachmännern privater Sicherheitsfirmen aufgehalten. Weiter könne man nicht gehen, „muy peligroso“ sei es dort, sehr gefährlich. „Ich gehe auch nicht ohne Begleitung in den nördlichen Teil“, sagt Octavio Villacreces, der am Fuße des Hügels wohnt und einige Zeit für die Partei des linksnationalistischen Ex-Präsidenten Rafael Correa im Stadtrat von Guayaquil saß. „Die Gefahr, im Norden überfallen zu werden, ist hoch. Das ist ein klassisches Armenviertel, für diese Menschen hat die ‚Renovación urbana‘ gar nichts gebracht.“ Mit anderen Worten, sie mussten erkennen, dass die Stadtverwaltung etwas hätte tun können, wenn sie denn gewollt hätte. Aber deren Prioritäten waren und sind andere. Und was die Armen nun zu sehen bekommen, ist hauptsächlich Beton. Luxusbauten versperren ihnen die Sicht. Den Bewohnern im vernachlässigten Teil des Cerro wurden Luxushotels und Apartments vor die Nase gesetzt, als sei es legitim, Menschen derart zu missachten.Was Rafael Correra fragteMit 137 Metern erhebt sich nun das spiralförmige „The Point“ als bislang höchstes Gebäude des Landes, direkt daneben stehen das Luxushotel „Wyndham“ und die Apartmentanlage „River Front“ mit einer Auswahl internationaler Restaurants. Pronobis, die Immobilienfirma von Isabel Noboa Pontón, Schwester des „Bananen-Königs“ Álvaro Noboa, hat das neue Quartier Puerto Santa Ana entworfen – das Wort Hafen im Namen ist angesichts des stark versandeten Río Guayas mehr symbolischer Natur. Schwer zu sagen, welcher Eindruck sich einstellt, wenn man dort sozusagen mit den Armen von Santa Ana in der Nachbarschaft lebt. Die wiederum revanchieren sich auf ihre Art und werfen den Müll einfach nach unten, wo er Parkplätzen der Luxusapartments nicht unbedingt zur Zierde gereicht.Placeholder image-1Der damalige Staatschef Rafael Correa, im Amt 2007 bis 2017, hatte zu Beginn der Bauphase eindringlich gefragt: „Gab es eine vorherige Befragung der lokalen Bevölkerung, der die Sicht genommen wird? Welche Entschädigung haben sie erhalten?“ Die Stadtverwaltung habe dem Projekt zugestimmt, ließ Pronobis lakonisch antworten. Formal traf das zu, eine wirkliche Debatte habe es freilich im Stadtrat nie gegeben, erinnert sich Octavio Villacreces, der damals Abgeordneter war. „Ich war der Einzige, der dazu eine Frage stellte, bevor das Projekt abrupt durchgewinkt wurde.“Guayaquil wurde in den vergangenen drei Jahrzehnten vom konservativen Partido Social Cristiano (PSC) regiert, der ein komplexes System aus öffentlicher Verwaltung, privaten Stiftungen und Vetternwirtschaft hervorbrachte. Der Privatsektor spielte hierbei stets eine herausragende Rolle. Und eine willensstarke Zivilgesellschaft, die gegen solche Auswüchse von Machtkonzentration vorgehen könnte, fehlt Guayaquil bis heute. „Impulse der Privatwirtschaft sind gut, aber sie dürfen die Entwicklung der Stadt nicht festschreiben. Es muss eine transparente Politik geben mit einer integralen Vision der Stadtentwicklung“, sagt Florencio Compte.Ein frommer Wunsch. Schon steht neben „The Point“ die Werbung für das nächste gigantische Immobilienprojekt: „The Hills“, sechs luxuriöse Wohntürme zwischen 90 und 145 Meter hoch, inklusive Pool- und Parklandschaft, Tennisplätzen und Eislaufbahn. Geplant wird alles vom Immobilienunternehmen Uribe & Schwarzkopf, das bislang bei Luxusbauten im Raum Quito engagiert war, aber nun die Pronobis in deren Kernland herausfordert. Offenbar lohnt es sich. In den bisherigen Projekten am Puerto Santa Ana liegt der Kaufpreis für Büros bei 3.000, für Wohnungen bei 2.000 Dollar pro Quadratmeter. Angesichts eines Mindestlohns von umgerechnet 450 Dollar im Monat, den weniger als die Hälfte aller Beschäftigten in Ecuador verdient, für Normalsterbliche und selbst die gehobene Mittelschicht unerreichbar. Über die Herkunft der Gelder für solcherart Investitionen wundern sich viele.Mitte Mai trat eine neue Stadtregierung an, womit sich Hoffnungen auf einen sozial verantwortungsbewussteren Kurs verbinden, gehört doch der junge Bürgermeister Aquiles Álvarez der Partei von Ex-Präsident Correa an. Man wird sehen, inwieweit die Menschen im Schatten der Luxusbauten einen Wandel spüren. Derzeit lässt den Beobachter das „avantgardistische Design“ (Pronobis) der Wolkenkratzer verstört zurück, wenn durch eine Lücke im Beton der Blick auf die Armensiedlung des Cerro Santa Ana fällt.Placeholder authorbio-1