Der Verlag zum Buch:
In »Radio Heimat« entwirft Frank Goosen ein hochkomisches, vielstimmig-innigliches wie wahrhaftiges Porträt einer vorurteilsbehafteten Region, verleiht dem „Pott“ – wenn auch kein hübsches, so doch ein überaus sympathisches – Gesicht und schreibt ein Hohelied auf all das, was uns Heimat ist, auf unser Zuhause.
Vielleicht nicht schön, aber doch ein Zuhause, auf das man irgendwie stolz sein kann. So wie Frank Goosen. Der Autor und Kabarettist bringt uns in seinem neuen Buch Bochum und das restliche Ruhrgebiet so nah, dass man als Auswärtiger richtiggehend Fernweh bekommt und als „Eingeborener“ sich und seine Gegend mit ganz neuen Augen sieht. Wobei, Gegend gibt’s ja im Ruhrgebiet gar nicht so viel und die ist auch nicht so wichtig, denn – das Wichtige sind die Leute. Ein nicht besonders höflicher, aber dafür sehr direkter Menschenschlag, der das Herz am rechten Fleck trägt und sich einer bodenständig-bildhaften Sprache befleißigt: Kinder und kleine Menschen heißen gerne „Furzknoten“, weniger attraktive Frauen „Schabracken“ und ebensolche Männer „Schäbbige“. Auch Begrüßungen à la „Ey Jupp, du altes Arschloch!“ sind durchaus freundlich, ja geradezu ehrerbietig gemeint.
Mit seinem sehr eigenwilligen, sehr „goosenschen“ Humor, Herzblut und jener Distanz, welche nur einer haben kann, der seine Heimat innig liebt, erzählt Frank Goosen in Radio Heimat von seiner Kindheit im Pott, von Omma und Oppa (die im Bochumer Rathaus wohnten und stadtbekannt waren), den Untiefen seiner Ruhrgebietsjugend mit seinen Kumpels Mücke, Pommes und Spüli, und natürlich seiner Liebe zum Fußball im Allgemeinen und dem VfL Bochum im Besonderen. Selbst die A 40 ist eine Ode wert, eine Huldigung auf die brutalste Hauptverkehrsader der schönsten deutschen Provinz. Oder die etwas betagteren Ruhrfrauen und ihre männlichen Pendants – äußerst genau, fast sezierend und doch gleichsam liebevoll nimmt Frank Goosen diese besondere Spezies unter die Lupe.
Leseprobe:
In unserer Gegend gibt es die Redewendung „Von nix ne Ahnung, aber immer große Fresse!“ Damit beschreibt man Menschen, die mangelnde Ortskenntnis noch lange nicht davon abhält, anderen zu sagen, wo es langgeht. Ein Paradebeispiel für diese Art Mensch war ein Mann, der sich an den Rändern meiner Kindheit herumtrieb, in der Kleingartenanlage, auf diversen Festen der Erwachsenen oder auf dem Fußballplatz.
Für Typen wie ihn war das Wort „vierschrötig“ erfunden worden: Kaum eins siebzig groß, aber ungefähr genau so breit, ein perfektes Quadrat als Schädel, mit Handflächen wie Essteller und Fingern wie die Griffe an Sporträdern. Seinen richtigen Namen habe ich vergessen, vielleicht wusste ihn auch niemand, denn alle nannten ihn nur „Laberfürst“. Niemand wusste genau, wo er seinen Namen herhatte, aber mir gefällt die Vorstellung, mein Vater habe ihn erfunden. „Das ist so ein richtiger Laberfürst“, sagte er einmal, als er mit meiner Mutter über ihn sprach. Das Wort gefiel mir und ich bekam es nicht mehr aus dem Kopf.
Der Laberfürst war überall und nirgends, schien nirgendwo zu wohnen und tauchte auf, ohne eingeladen oder angekündigt worden zu sein. Man saß im Schrebergarten und sah zu, wie die Sonne über dem Platz vom SV Germania brannte, da kam er plötzlich um die Ecke, zupfte an seinen Hosenträgern und laberte, als kriegte er Geld dafür. „Kär, watt is datt widda ein Wetter! Da sollze doch am besten zu Hause bleiben. Kühlschranktür auf und davorhocken oder gleich den Kopp in’ Eisfach stecken. Nich in Gasherd, hähä! Nee, abba ich hab auch gar kein Gas, weiße. Wie lange geht dat getz mit die Hitze? Zwei Wochen? Abba wenn kalt is, sind auch alle am Meckern. Ich geh ma bei die Germania vorbei, aber die kriegen heute bestimmt widda den Arsch voll. Gegen wen spielen die eigentlich? Is doch egal, die steigen sowieso ab. Kann man ausse Kreisliga eigentlich absteigen? Nee, odda? Na is doch egal. Morgen soll Regen geben, aber getz muss ich los, hab mich widda festgequatscht. Bis die Tage!“
Überflüssig zu erwähnen, dass weder meine Mutter noch mein Vater noch meine Wenigkeit irgendeine Reaktion gezeigt, irgendein ermutigendes Signal gesendet hatte. Der Laberfürst brauchte keine Einladung, labern lief bei ihm automatisch.
Bei irgendeinem Sommerfest, bei dem neben der betonierten Tanzfläche hinterm Vereinslokal der Kleingartenanlage ein Bierwagen und eine Musikanlage aufgebaut worden waren, tauchte er aus der Menge auf, stellte sich zu Spüli, Pommes und mir und fragte, ob wir denn eigentlich wüssten, dass er mal Eintänzer gewesen sei. Wir wussten nicht mal, was das war, ein Eintänzer, aber selbstverständlich kriegten wir gleich einen Crashkurs verpasst. Mit Blick auf das Geschehen auf der Tanzfläche (es lief irgendwas von Freddy Breck oder Karel Gott oder Costa Cordalis oder Bata Ilic oder einem dieser Mutanten) legte er los: „Ich hab mit die Ollen getanzt, die keinen Kerl dabeihatten. Damit die nich so verlassen da rumsaßen, in die Cafés und Tanzschuppen. Und wisst ihr wieso ich da so gut war? Wegen mein’ aristrokar… aristorkra … adeligen Auftreten. Datt hatten die gerne die Damen. Immer schick inne Clubjacke oder nem Anzuch! Da blieb datt natürlich nich aus, dass sich die eine oder andere mal in mich verguckt hat. Ganz ehrlich, datt hätte ich auch, wenn ich ne Frau gewesen wäre. So versaut, also optisch getz, wurde ich doch erst später durch die scheiß Maloche. Ich war ma sonn richtich Hübschen, glaubsse gar nich, du! Aber damals wurde ja au noch getanzt! Heute ist doch nur noch Gehüpfe und Gezappel. Ihr jungen Leute packt euch doch noch nich mal mehr an beim Tanzen. Ihr könnt doch gar nich führen! Ihr stellt euch gegenüber vonander auf, als wenn ihr euch hauen wollt! Datt hat doch mit tanzen nix zu tun! Nä geh mir weg mit den Mist!“ Und grußlos verschwand er wieder in der Menge, auf der Suche nach seinem nächsten Opfer.
Manchmal habe ich ihn gar nicht gehört, sondern nur gesehen. Da stand er dann in der Gartenwirtschaft am Tresen und schwadronierte. Dabei federte er gern mal auf den Fußballen, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen und um den Größenunterschied zu seinem Gesprächspartner für Sekundenbruchteile auszugleichen. Oder er zeigte irgendwohin oder stieß den Zeigefinger in Richtung des Angesprochenen, schüttelte den Kopf über etwas, das er selbst nicht glauben konnte, oder schlug sich vor die Stirn, dass es klatschte.
Der Laberfürst war nicht gefährlich, auch wenn er manchmal mit Gewalt drohte. „Kär glaubsse, bei mir hammse letzte Nacht schon widda inne Laube eingebrochen! Datt dritte Ma in diesem Jahr! Die hamm ein Tisch zu Klump gehauen und mir den ganzen Mariacron weggesoffen. Datt geht doch so nicht weiter! Ich leech mich getz da nachts auffen Sofa, bis ich die Sauhunde gepackt krich, und dann zieh ich denen den Aasch auf links, datt kannze mir glauben! Weißt du“, wechselte er ins ruhrgefärbte Hochdeutsch, wie wir es immer dann tun, wenn wir etwas Wichtiges, Offizielles verkünden wollen, „weißt du, dass ich diese Subjekte ohne Weiteres über den Haufen schießen könnte, ohne vom Arm des Gesetzes belangt zu werden? Ich verteidige meinen Grund und Boden, mein Hab und Gut! Das erfüllt von Rechts wegen den Tatbestand der Notwehr. Und von Links wegen auch, datt datt ma klar is!“
Theo, der alte Schrebergartennachbar meiner Eltern und selbst ebenfalls ein begnadeter Rhetor, erzählte mir Jahre später, wie die Geschichte weiterging: „Der Laberfürst hat tatsächlich wochenlang in seiner Laube übernachtet. Konnte der sich ja auch erlauben, als Frührentner. Und als er dann eine Nacht tatsächlich einen Einbrecher auf frische Tat packen konnte … Odda sagen wir mal einen Suffkopp, den er dafür hielt, da hat er sich erssma mit dem hingesetzt und paar Kurze gekippt. Tja, und dann hat er die arme Sau ins Koma gequasselt. Der is erst drei Wochen später widda wach geworden.“
Anfang der Achtziger verstummte der Laberfürst für immer. Über seine Beerdigung wusste Theo noch zwanzig Jahre später recht lebhaft zu berichten: „Da standen wir um datt Loch rum und der Paster sachte, wir sollten getz alle ma n Moment die Klappe halten. Wir also alle Schweigeminute. Schweigeminute! Für den Laberfürst! Da musse erssma drauf kommen! Datt Einzige, watt wir gehört haben, war die Herner Straße im Hintergrund. Wie sonn Gemurmel hat sich datt angehört. Und als die Minute vorbei war, hat dein Vatta zu mir gesacht: ,Hasse gehört? Der labert noch im Sarch!‘“
Der Kult des Selbermachens in unserer Gegend hat bei mir zu einem tief sitzenden Minderwertigkeitskomplex geführt. Na gut, der sitzt jetzt nicht so tief, dass ich irgendwann den Ehrgeiz gehabt hätte, mir echte handwerkliche Fähigkeiten anzutrainieren, aber letztlich brauche ich immer eine Ausrede, wenn ich Handwerker engagiere. Am liebsten führe ich Zeitmangel und körperliche Gebrechen an oder schiebe es gleich auf einen genetischen Defekt: „Hach, ich habe einfach zwei linke Hände!“
Mein Vater war Elektriker, konnte aber auch alles andere. Da er Selbstständiger mit einer winzigen Firma war, mussten Arbeiten in der eigenen Wohnung am Wochenende und sehr schnell erledigt werden. Da wurde zwischen Freitagnachmittag und Sonntagabend die ganze Wohnung tapeziert, und bot ich gleich zu Beginn meine Hilfe an, bekam ich den Satz zu hören, der den Heimwerker in mir im Keim erstickte: „Du hilfst mir am meisten, wenn du nicht dabei bist.“ Auf Drängen meiner Mutter nahm er mich einmal doch mit auf eine Baustelle und ließ mich Kabel mit Kabelklemmen unter die Wände hämmern, musste aber hinterher wieder alles abreißen und neu verlegen.
Da ich schon als Kind immer nur staunend zuschaute, wie mein Vater Küchentapeten mit komplizierten Blumenmustern in den Modefarben der mittleren Siebziger kantengenau an die Wände klebte, war ich weitgehend verloren, als ich schließlich von zu Hause auszog und derlei selbst erledigen musste – aber nicht konnte. Okay, eine schon mit Raufaser tapezierte Wand weiß überzupinseln, das habe ich gerade noch hingekriegt, wenn aber das Pickelpapier erst noch angebracht werden musste, war ich verloren. Nicht zu reden von der Montage von Möbeln oder dem Anschließen von Herden an lebensgefährliche Starkstromleitungen.
Also musste ich ständig Freunde bitten, mir unter die Arme zu greifen, und revanchierte mich mit Hektolitern Freibier und diversen Tonnen Frikadellen und Kartoffelsalat, die Omma herstellen durfte. Und ich ließ mich beim Schleppen nicht lumpen. Außer wenn andere umzogen. Da überfiel mich dann schon mal kurzfristig eine schwere Magen-Darm-Verstimmung oder es kam ein wichtiger Auftritt in Süddeutschland dazwischen. Das hatte zur Folge, dass ich mich das betreffende Wochenende über in meine Wohnung einschließen und mir amerikanische Actionfilme reinschrauben musste, bis ich eine 45er Magnum mit verbundenen Augen hätte auseinanderbauen und wieder zusammensetzen können.
Da ich auf die Fachkräfte meines Vaters schon früh nicht mehr zurückgreifen konnte, holte ich mir irgendwann doch den einen oder anderen Handwerker ins Haus, ein Vergnügen, das etwa dem entspricht, das man beim Kontakt mit der Hotline der Telekom empfindet. Das, was dann folgt, lässt sich in den Top-Ten-Sätzen der Handwerkerei zusammenfassen:
1. „Geht nich!“ (Erste Reaktion des Handwerkers, der eines Problems ansichtig wird.)
2. „Ja nun mal langsam!“ (Zweiter Satz des Handwerkers, nachdem man die Nummer des Mitbewerbers gewählt hat.)
3. „Billich wird datt nicht!“ (Dritter und vorletzter Satz des Handwerkers, der so tut, als ginge es beim Anschluss einer Steckdose um die Reparatur eines Warp-Antriebs.)
4. „Brauchen Sie unbedingt ne Rechnung?“ (Vierter und letzter Satz des Vorgenannten.)
5. „Ich säg das Ding mal ab, wird schon kein Gasrohr sein!“ (Vermutung des in Handwerksdingen vorgeblich bewanderten Studienkollegen, den man nur angerufen hat, weil man sich den Handwerker legal nicht leisten konnte und illegal nicht leisten wollte.)
6. „Ups!“ (Reaktion des Studienkollegen ein paar Sekunden später.)
7. „Billig wird das nicht!“ (Ausruf des Feuerwehrmannes nach der vorsorglichen Evakuierung der Straße während der Instandsetzung der angesägten Gasleitung.)
8. „Ich hab doch gesacht, datt geht nich!“ (Fachmännisches Urteil des Handwerkers, den man dann doch wieder angerufen hat.)
9. „Getz habbich abba erssma ne andere Baustelle.“
10. „Abba eins sach ich Ihnen gleich: Billich wird datt nich!“
Vielleicht mache ich es einfach wie Udo Lindenberg und ziehe ins Hotel.
Buch der Woche: Radio Heimat. Geschichten von zuhause von Frank Goosen
Eichborn Verlag
ISBN 9783821860725
160 Seiten, 14,95
Frank Goosen, Jahrgang 1966, hat sich mit seinen Romanen Liegen lernen und Pokorny lacht einen Namen gemacht. Er lebt mit seiner Frau und zwei jungen Nachwuchshoffnungen des VfL in Bochum. Zuletzt sind im Eichborn Verlag u. a. erschienen:
Pink Moon (2005) und die Bestseller So viel Zeit (2007) und Weil Samstag ist (2008)
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.