"Da fuhr der Satan aus vom Angesicht des Herrn und schlug Hiob mit bösen Schwären von der Fußsohle bis auf seinen Scheitel. Und er nahm eine Scherbe und schabte sich und saß in der Asche." (Hiob 1, 7-8)
Im europäischen Hochmittelalter wurden die Unreinen, die "morbi contagiosi", von Bergen bis Palermo in mehr als 15.000, fern der Stadtmauern liegenden Leprosarien isoliert, nachdem ihnen in einem drakonischen Akt die Bürger- und Eigentumsrechte entzogen worden waren. Aufgrund einer perfektionierten Isolierpraxis und veränderten hygienischen Bedingungen war zwar seit der Reformationszeit ein kontinuierlicher Rückgang der Lepra in Europa zu verzeichnen, doch die Patienten der letzten europäischen Lepra-Kolonie auf Malta wurden erst 1984 mit einer neuen Medikamentenkombination geheilt.
Der Schrecken über die bis 1941 als unheilbar geltende Erkrankung mit all den grausamen sozialen Folgen für die Betroffenen und deren Familien lebt im Gedächtnis aller Kulturen bis heute fort. Um so mehr trifft dies auf die tropischen Ländern zu, in denen die Erkrankung immer noch endemisch ist und zum Alltag gehört.
Erfolge wie gegen Pocken, Pest und Kinderlähmung wären möglich
Auch in den Tropen muss Lepra kein Schicksal sein. Das ist nicht zuletzt Initiativen wie dem indischen Bombay Leprosy Project (BLP) in Mumbai (früher Bombay) zu verdanken. An einer Bahnstation der Millionen-Metropole erwartet mich Mister Ramu, ein Paramedical Worker vom BLP, ein für die Erkennung von Lepra und die medizinische Versorgung von Leprakranken in den Slums ausgebildeter Krankenpfleger. In überfüllten Vorortzügen und mühsam vorankommenden Bussen ist er täglich vier Stunden zur Arbeitsstelle und zurück unterwegs.
Ramu gibt mir einen ersten Überlebenstipp. "Sollte jemand neben Ihnen husten, stellen Sie sich woanders hin. Es kann sein, dass der Betreffende Tuberkulose hat." Mit 19 Jahren verließ Ramu seine Familie in Südindien, um bei Mutter Theresa in der Congregation der Sisters of Charity in Kalkutta zu arbeiten. Er legte das Gelübde der Armut ab und arbeitete 15 Jahre lang aus christlicher Nächstenliebe nur für Unterkunft und Verpflegung.
Das Bombay Leprosy Project liegt an einer der rastlosen Magistralen mit Händlern, Schneidern, Ateliers, Werkstätten und Garküchen, wie sie für das Fluidum der umgebenden Slums typisch sind. Der Innenhof der Lepra-Station und die Büroräume mit einer dazu gehörigen Bibliothek sind hingegen eine Oase der Ruhe, in der nur das Fauchen der Ventilatoren und das weiche Hindi der Angestellten zu hören ist. Dort treffe ich Dr. Ganapati, den Gründer und Direktor des Projekts, einen untersetzten, etwa 60-jährigen Mann mit fleischigen Gesichtszügen und dem würdevollen Auftreten eines Brahmanen, der betont leise spricht. Von 1991 bis 2000 war Ganapati Mitglied des Expertenrates der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für Lepra. Seit 25 Jahren, so erzählt er, führe er mit einem ausschließlich indischen Team von Ärzten, Physiotherapeuten und Paramedicals einen Feldzug gegen die Lepra in Mumbai.
"Neben Forschung und Behandlung ist die Aufklärung eine der entscheidenden, ja tragenden Hauptsäulen unserer Arbeit." Und mit nur wenig gezügelter Leidenschaft setzt er nachdrücklich hinzu: "Lepra, rechtzeitig erkannt, ist mit einer konsequent durchgeführten Kombinationschemotherapie heilbar. Ebenso wie die Angst vor Lepra in der Gesellschaft durch unermüdliche Aufklärung heilbar ist. Wir streben eine Welt ohne Lepra an, so wie weltweit große Erfolge gegen Pocken, Pest und Kinderlähmung erzielt wurden."
Für die mehrmonatige medikamentöse Behandlung mit Antibiotika im Leprosy Project gelten die Standards der WHO - eine Therapie, die für alle Patienten kostenlos bleibt. Das ist nicht zuletzt langjährigen und zuverlässigen Sponsoren aus Deutschland zu danken, wie der Deutschen Lepra- und Tuberkulosehilfe und des Hilfswerkes Deutscher Zahnärzte für Lepra- und Notgebiete (HDZ). An einer großen Wandtafel, die immer wieder aktualisiert wird und neben einem Schrein mit Räucherstäben aufgestellt ist, sind zudem alle diesjährigen Sponsoren aus Indien verzeichnet.
Einstöckige Häuschen von der Größe einer Bushaltestelle
Mumbai ist eine Stadt mit 15 Millionen Einwohnern, von denen zwei Drittel in Slums leben. Dazu gehört auch Dharavi - mit einer Bevölkerung von einer halben Million Menschen der größte Armen-Distrikt Südasiens, wie mir Mister Ramu mit einer Anflug von sarkastischem Stolz versichert. "Schauen Sie auf unsere Home-Page: Durch das Leprosy Project wurden bislang mehr als 20.000 Lepra-Patienten geheilt!" Dennoch ist auch heute noch jeder tausendste Bewohner der Megametropole Mumbai leprakrank.
"Lepra ist eine chronische, langsam voranschreitende Erkrankung, die durch das Mycobacterium leprae verursacht wird und bevorzugt die Empfindungsfähigkeit von Haut und Nerven befällt. Da typischerweise einzelne Hand- und Fußnerven betroffen sind, spüren die Patienten nicht, wenn sie sich verletzen, so dass sie sich beim Barfuß-Gehen, Rauchen oder Teetrinken Geschwüre zuziehen." Der Internist Pai zeigt im Schulungs- und Versammlungsraum Diapositive mit verschiedenen Stadien der Erkrankung: plaqueartige Verfärbungen der Haut, sichtbar verdickte Nervenstränge und immer wieder Krallenhände. Mir fällt der eine oder andere Bettler mit fehlenden Fingern oder Zehen, ja bloßen Handstümpfen, ein.
Außerhalb dieser Räume, in denen Ventilatoren Luft und Frische spenden, schlägt uns eine drückend-schwüle Hitzewelle entgegen. Nach dem Morgenrapport fahre ich mit Ramu in das vom Leben einer christlichen Minderheit geprägte Viertel Bandra ins Urban Health Centre, eine Art Poliklinik. "Seit Jahren führen Hautärzte mit uns Paramedicals regelmäßige Lepra-Sprechstunden in fast allen Polikliniken des Versorgungsgebietes durch. Es hat viel Kraft gekostet, den Widerstand der Ärzte zu überwinden und die Lepra aus der Angst besetzten Schmuddelecke herauszuholen", erzählt Ramu.
Eine große Stärke des Projekts, meint er noch, liege in den regelmäßigen Patientenbesuchen, mit denen Vertrauen geschaffen werde. Dadurch lasse sich die Medikamenteneinnahme besser überwachen. Auch werde Vorsorge getroffen, dass keine weiteren Bewohner eines Hauses oder eines Viertels von der Krankheit heimgesucht würden. Nicht wenige Slumbewohner gehen einer Tätigkeit als Angestellter nach, arbeiten als Lastenträger oder haben ein kleines Geschäft, sei es als Lebensmittelhändler, Kokosnuss-Verkäufer oder Schuhputzer. Die meisten Slumbewohner leben mit ihrer mehrköpfigen Familie in niedrigen, einstöckigen Häuschen von der Größe einer Bushaltestelle, die schmale und Hunderte Meter lange Gassen bilden. Es gibt nur Abwassergräben und mehrere Familien müssen sich einen Wasserhahn und einen Abtritt teilen.
Frau Ramesh verlässt ihre Nähmaschine in einem zeltartigen Verschlag, um uns zu begrüßen. Sie wurde, nachdem die Plaques ihr Gesicht entstellt hatten, von ihrer Familie verstoßen. Dank eines zinslosen BLP-Darlehen konnte sie eine Nähmaschine kaufen und eine Werkstatt einrichten.
Einige Gassen weiter lädt uns Mister Mughar zu einer Fanta ein: Er habe sich "zu einem selbstständigen Unternehmer", wie er sagt, hochgearbeitet und nennt ein Baji - eine dreirädrige Motor-Rikscha - sein Eigen. Die Kinder kommen gerade aus einer englischsprachigen Schule zurück. Die BLP-Versorgung hat dafür gesorgt, dass bei ihm die Erkrankung in einem sehr frühen Stadium erkannt wurde und Mughar durch die effiziente Behandlung nicht weiter sozial stigmatisiert wurde.
Im Slum, wie überall in der Stadt, sind Tempel in geschmückten Zelten improvisiert worden, in denen für einige Wochen der elefantenköpfige Gott Ganesh angebetet wird. Mister Ramu blickt versonnen auf die Schlangen geduldiger Hindu-Gläubiger vor den Zelten, die zum Schrein gelangen wollen, und zitiert Mahatma Gandhi: "Fürsorge für Lepra-Kranke schafft nicht nur mit medizinischen Mitteln Linderung. Sie verwandelt frustrierenden Alltag in erfülltes Dasein, persönlichen Ergeiz in selbstlosen Dienst ..."
Dr. Frank Hanisch hat als Mediziner längere Zeit an verschiedenen Gesundheitsprojekten in Indien mitgearbeitet / siehe auch: Deutsche Lepra- und Tuberkulosehilfe e.V. www.dahw.de.
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