Martin Schulz und Andreas Rödder im Gespräch: Gibt es gute Konservative?
Debatte Viele Konservative sind rechts und Grüne gelten als „wertkonservativ“. Was also bedeutet konservative Politik heute? Andreas Rödder und Martin Schulz geben Antworten
Mit seinem Buch Konservativ 21.0. Eine Agenda für Deutschland sorgte Andreas Rödder, Leiter der CDU-Grundwertekommission, für Aufsehen. Und bei dem ehemaligen SPD-Kanzlerkandidaten und heutigen Vorsitzenden der Friedrich-Ebert-Stiftung, Martin Schulz, hatte man neben scharfer Abgrenzung nach rechts immer eine heimliche konservative Ader vermutet. Aber welches Blut fließt da durch?
der Freitag: Herr Rödder, Liberalismus und Konservatismus gelten als Gegensatz. Sie befürworten einen liberalen Konservatismus. Wie passt das zusammen?
Andreas Rödder: Mit dem Übergang in die parlamentarische Demokratie sind klassische Liberale und Konservative zusammengerückt. Das sehen Sie vor allem in Großbritannien. Die historische Entwicklung zeigt: Konservatis
n Sie vor allem in Großbritannien. Die historische Entwicklung zeigt: Konservatismus ist keine statische Ideologie, die einen festgelegten Inhalt hätte, sondern er ist ein Kind des Wandels und mit dem Wandel überhaupt erst entstanden. Deswegen istKonservatismus auch eine Frage der Haltung: Eine Haltung zum Wandel, eine Haltung zur Welt und eine Haltung zur Geschichte.Herr Schulz, was hat Sie als Sozialdemokrat bewogen, an einem Gespräch über Konservatismus teilzunehmen?Martin Schulz: Meine Mutter war 1946 Gründungsmitglied der CDU in meiner Heimatstadt Würselen. Sie brachte uns bei: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“ Bestimmte Prinzipien zu verteidigen, die einen respektvollen Umgang miteinander gewährleisten – das ist eine konservative, wertebewahrende Haltung. Wenn wir uns darauf verständigen, dass konservativ eine Lebenshaltung ist und keine parteipolitische Präferenz, dann habe ich nichts dagegen, mich einen Konservativen zu nennen.Sind Sie also ein echter Konservativer? Im Gegensatz zu denen, die sich konservativ nennen?Schulz: Am 3. Juli jährt sich zum 20. Mal ein Tag, der mein politisches Leben stark beeinflusst hat. Als Vorsitzender der Sozialistischen Fraktion im Europaparlament traf ich auf Silvio Berlusconi, Präsident des Europäischen Rats. Ein Mann, bei dem der Zweck die Mittel heiligt, der damals die ökonomische, mediale und politische Macht in Italien in einer Hand vereinte und sie auch einsetzte – zum Niedermachen seiner Gegner und zur eigenen Bereicherung. Das alles habe ich ihm vorgeworfen. Dafür erhielt ich viel Zuspruch, auch aus der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP). 20 Jahre später sagt der EVP-Vorsitzende Manfred Weber: „Sei doch froh, dass mit Berlusconi ein so moderater Konservativer in der Regierung sitzt! Das sorgt wenigstens für die europäische Anbindung.“ Daran sieht man, wie sich die Wertmaßstäbe verschoben haben.Herr Rödder, warum war Angela Merkel keine Konservative?Rödder: Konservatismus ist eine Grundhaltung, die von der Unvollkommenheit des Menschen und seiner Einsichtsfähigkeit ausgeht. Sie setzt auf Besonnenheit und Alltagsvernunft statt auf Dogmatismus und Rigorismus. Die Gesellschaft hat Vorrang vor dem Staat. Angela Merkels „Alternativlosigkeit“, vom Atomausstieg über die Migrationskrise 2015/16 bis zur Russlandpolitik, hatte wenig mit besonnener und reversibler Politik zu tun. Zudem hat ihre Politik auf Kosten der Eigenverantwortung die Staatsorientierung gefördert.Und die SPD? Sie war in zwölf von 16 Merkel-Jahren Teil der Regierung und hat die „alternativlose“ Politik mitgetragen.Schulz: Nichts ist alternativlos. Aber wie hätte in der Finanzkrise 2008 die Alternative ausgesehen? Was wäre geschehen, wenn es keine Garantie für die Einlagen unserer Sparer gegeben hätte und wir die Banken hätten zusammenbrechen lassen? Im globalen Kasino des Kapitalismus wäre ohne Staatsintervention ein großer Teil der Bevölkerung verarmt. Und was den Zustrom von Flüchtlingen aus Syrien angeht, hat Viktor Orbán, der sich für konservativ hält, eine Alternative ausgemacht. Eine schlechtere, inhumanere.Rödder: Sehen Sie, Herr Schulz ist mit Frau Merkel sogar zufriedener als ich. Ein Grundgedanke des Konservatismus ist in ihrer Regierung zu kurz gekommen: Wir leben nicht nur in Partnerschaft mit den Lebenden, sondern auch in Partnerschaft mit denen, die gelebt haben, und denen, die noch geboren werden, um Edmund Burke zu zitieren. Wir sind im Begriff, die Zukunft der jüngeren Generation aufs Spiel zu setzen – nicht nur, was das Klima betrifft. In der Renten- und Sozialpolitik haben wir die demografische Entwicklung ignoriert und Probleme angehäuft. Ich bin mit Schröders Reformagenda 2010 und der von Franz Müntefering durchgesetzten Rente mit 67 zufriedener als mit manchem, was danach passiert ist. Die Sozialpolitik war nicht nachhaltig.Schulz: Ich wäre kaum gegen Frau Merkel angetreten, wenn ich insgesamt mit ihrer Politik zufrieden gewesen wäre. Doch gab es in der Zeit, in der wir Sozialdemokraten mit ihr regiert haben, auch viele richtige Entscheidungen. Um zur philosophischen Frage zurückzukehren: Konservatismus habe ich immer so empfunden: „So wie es jetzt läuft, so lassen wir’s!“ Herr Rödder hingegen sagt, Konservatismus müsse nachhaltig und auf die Zukunft ausgerichtet sein, Reformen anpacken. Das ist natürlich eine andere Definition von Konservatismus. Sie klingt sehr grün.Rödder: Das ist nicht grün, sondern die Korrektur eines gängigen Vorurteils über Konservatismus.Placeholder infobox-1Wie konservativ sind denn die Grünen?Schulz: Es gibt eine Menge konservativer Grüner. Es gibt auch eine Menge grüner Konservativer – das kann man in Baden-Württemberg wunderbar beobachten.Wenn nicht parteipolitisch, woran machen Sie Konservatismus fest, Herr Rödder?Rödder: Konservative wissen, dass man Dinge leichter zerstört als wieder neu aufbaut. Deswegen ist es das konservative Prinzip, Bewährtes zu bewahren und Dinge permanent zu verbessern, ohne sie komplett abzureißen. Darin unterscheiden sich Konservative auf der einen Seite von denen, die sagen, alles solle so bleiben, wie es ist, oder sogar das Rad zurückdrehen wollen. Solche Leute sind nicht konservativ, sondern traditionalistisch oder reaktionär. Auf der anderen Seite unterscheiden sich Konservative von denen, die eine neue Welt oder sogar einen neuen Menschen erschaffen wollen. Konservative müssen stetig prüfen: Was muss ich bewahren und was muss ich reformieren? Konrad Adenauer war in puncto Westorientierung ein Reformer. Auch Margaret Thatcher war eine konservative Reformerin. Beide Beispiele zeigen: Konservative können sehr wohl Reformer sein, aber halt keine Revolutionäre.Ist aber nicht genau das im großen Stil in Europa passiert: Dass konservative Parteien nach rechts gerückt sind?Schulz: Richtig, die EVP ist als Parteienbündnis stramm nach rechts gerückt. Es gibt heute rechte Bewegungen, die für sich reklamieren, sie seien konservativ. Denken Sie an Giorgia Meloni, die postfaschistische Regierungschefin, die sagt, die Fratelli d’Italia sei eine modernere Form des Konservatismus. Ihre Partei und die Koalitionspartner, darunter Berlusconi, stellen die staatlichen Institutionen infrage. Der Trumpismus in den USA zielt auf deren Zerstörung. Wenn ich die Institutionen beschützen und verteidigen möchte, weil sie der Grundpfeiler unserer Demokratie sind, ist das eine konservative Haltung, die man auch unter Bezug auf Edmund Burke einnehmen kann. Ich selber habe ihn in vielen Reden zitiert: „Für den Triumph des Bösen reicht es, wenn die Guten nichts tun.“Für Herrn Rödder ist Thatcher eine Konservative. Ich könnte mir vorstellen, dass sie für Sie auch eine solche Zerstörerin ist.Schulz: Herr Rödder beschrieb Thatchers Wirtschaftspolitik als „Eigentümerdemokratie“. Ich bin einverstanden. Aber was impliziert das? Das war eine Kaufmannstochter mit einer Krämerseele, für die staatlicher Schutz Blödsinn war und das freie Spiel der Kräfte Vorrang hatte – eine darwinistische Sicht auf die Welt. Selbst Ronald Reagan war verglichen mit ihr moderat. Er hat durchaus staatlichen Schutz für bestimmte Gruppen befürwortet. Thatcher hingegen hatte eine ständestaatliche Ordnung im Kopf, in der die Oberschicht sich bereichert und der Staat nicht die Aufgabe hat, jene zu schützen, die ihn brauchen. Die sollen gucken, wie sie klarkommen. Das ist nicht konservativ, sondern brutal und herzlos.Rödder: In den späten 1970ern befand sich Großbritannien in einer tiefen Krise. James Callaghan, der sozialistische Premierminister, hat auf die Frage nach der Krise nur gesagt: „Crisis? What Crisis?“. Margaret Thatcher hat dem eine Reformpolitik entgegengesetzt, die auf die Befreiung der Märkte und die Konsolidierung der Staatshaushalte gezielt hat. Sie hat nicht den kompletten Staat zurückgebaut.Was blieb denn stehen?Rödder: Der National Health Service ist ziemlich unangetastet geblieben. Sie hat wie Ronald Reagan wirtschaftsliberale Reformen durchgesetzt. Das war in der Tat kapitalistisch im Sinne der Entfesselung von Kräften der Marktwirtschaft. Es hat aber zugleich Innovationskräfte freigesetzt, die nicht nur in diesen beiden Ländern, sondern weltweit zu einem enormen Anstieg von Wohlstand und damit von sozialer Sicherheit geführt haben. Das Problem sind nicht die marktliberalen Reformen der 1980er, sondern die mangelnden Nachsteuerungen der 1990er, als das Ganze aus dem Ruder lief.Schulz: Großbritannien steckt in einer tiefen Krise. Die Schichten sind abgeschottet gegeneinander, und diese Abschottung und das Gegeneinander wurden in der Thatcher-Ära vertieft. Als Bürgermeister einer Bergbaustadt habe ich gesehen, mit welcher Radikalität sie die Kohleindustrie abschaffte. Thatcher hatte das Glück, mit Arthur Scargill einen Illusionskünstler auf der Gegenseite zu haben. Gegen einen Gewerkschaftsführer mit deutschen Traditionen hätte sie das nicht durchsetzen können. In Deutschland – einem Land mit praktizierter Sozialpartnerschaft und angestrebter Waffengleichheit von Kapital und Arbeit in großen Unternehmen – wurden die Bergleute nicht in die Arbeitslosigkeit geschickt, sondern man hat mit viel Geld Überlebensstrategien entwickelt. Das Resultat war soziale Befriedung. Wenn Sie das Umbaumodell von Johannes Rau in NRW, das jene schützte, die des Schutzes bedurften, mit dem Thatcher-Modell in den englischen Kohlerevieren vergleichen, sehen Sie den Unterschied.Rödder: Die Transformation in Deutschland lässt sich nicht nur auf das sozialdemokratische Konto buchen, sosehr das in NRW stimmen mag. Sie haben recht, die soziale Marktwirtschaft hat anders funktioniert, insbesondere in den 1980ern, als das „Modell Deutschland“ eine Verbindung von Prosperität und Stabilität erlebte, wie es sie in Großbritannien nicht gab. Wir dürfen aber die 1980er nicht in die Gegenwart verlängern. Ich wünsche mir eine größere Dynamik und Innovationskraft. Deutschland befindet sich in einer Krise der Infrastruktur, in der nicht nur Züge nicht mehr richtig fahren und in der wir fundamentale Funktionsmängel von Staatlichkeit erleben. Da müssen wir uns schon fragen, wie es um die Zukunftsfähigkeit des Landes bestellt ist. Ich fürchte, Deutschland ist nicht gerüstet, um die nächsten Jahre mit hinreichend Dynamik und Innovation zu bestreiten.Placeholder infobox-2Abermals ein Vorwurf an die Regierung Merkel.Schulz: Aber kein Unionspolitiker will darüber sprechen. Wenn ich heute Kollegen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion frage: „Erinnern Sie sich noch an Angela Merkel?“, sagen die: „Merkel? Den Namen hab ich schon mal gehört. Da gab’s was …“. Wenn überhaupt, wird beklagt, dass sie ein U-Boot der SPD war – zu Unrecht! Es stimmt, man kann die Transformation in den 1980ern nicht allein Johannes Rau zuschreiben, sondern auch dem Arbeitsminister der Regierung Kohl: Norbert Blüm. Der Spitzensteuersatz betrug zu Kohls Zeiten 53 Prozent, heute liegt er bei 45 Prozent. Kohl saß einer vom rheinischen Kapitalismus geprägten CDU vor. Blüm und Kohl waren sozialstaatlicher orientiert als die CDU/CSU-Männer in Merkels Regierung.Rödder: Was die CDU unter Kohl angeht, haben Sie mit der korporatistischen Orientierung am rheinischen Kapitalismus recht. Allerdings ist schon in dessen Regierung ein Reformstau entstanden, den interessanterweise die rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder in hohem Maß abgebaut hat. Um es böse zuzuspitzen: Wenn es eine neoliberale Regierung in Deutschland gab, dann die rot-grüne von 1998 bis 2005. Diese eigenartige Verkehrung der Fronten zeigt eines: Wie reformorientiert jemand ist, der sich konservativ nennt, hängt immer von den Umständen ab – und da ist unsere Bewertung unterschiedlich. Großbritannien bedurfte in den 1980ern dramatischerer Reformen als die Bundesrepublik.Eine rot-grüne Regierung senkte 2001 den Spitzensteuersatz von den besagten 53 auf 42 Prozent. Betrieb Gerhard Schröder also eine konservative Reformpolitik?Rödder: Der klassische rheinische Kapitalismus – das Modell Deutschland – war in den 90ern in die Krise geraten und musste reformiert werden. Sozialpolitisch sind unter der Regierung Schröder Reformen durchgeführt worden, die 15 Jahre eine prosperierende Entwicklung in Deutschland möglich gemacht haben. Das Problem liegt darin, dass wir die Zeit nicht genutzt haben – wir sprachen von der Infrastruktur –, sondern dass wir diese Dividende sozialstaatlich verfrühstückt haben, statt in die Zukunftssicherung zu investieren.Schulz: Die 1990er waren geprägt vom Zusammenbruch der Sowjetunion und von der These von Francis Fukuyama, das Ende der Geschichte sei erreicht. Das kapitalistische Wirtschaftssystem und das damit verbundene Gesellschaftsmodell habe sich als überlegen erwiesen. Es gehe jetzt nicht mehr um rechts oder links. Dafür stand Tony Blair in Großbritannien mit New Labour. Das war bei uns Schröder und seine Reformagenda und in den USA Bill Clinton. Es waren Politiker mit der gleichen Vorstellung: „Der Klassenkampf ist vorbei. Die Börse lässt grüßen. Die dort erzielten Effekte sind so groß, dass es nur noch um gerechte Verteilung geht.“ Das hat sich als falsch erwiesen, weil der Eigentümerkapitalismus, der sich daraus entwickelte, weltweit Schäden für die Demokratie und für die Individuen mit sich gebracht hat.Es gibt eine Radikalisierung.Schulz: Ja, hier ist auch Herr Rödder als Leiter der CDU-Grundwertekommission gefordert.Was müsste im neuen CDU-Grundsatzprogramm stehen? Das unbedingte Bekenntnis zu den Institutionen des Staates und den Prinzipien des Grundgesetzes. Rechts gibt es inzwischen Leute, die sich als konservativ bezeichnen, aber genau das nicht mehr tun. Hier Brandmauern hochzuziehen und zu sagen, „Das ist nicht konservativ, das ist staatszerstörend“, wäre für mich Aufgabe der Union. Das können nicht die Grünen, die Linke und die SPD. Der Integrationscharakter der Demokratie in unserer Nachkriegsgeschichte ist das Verdienst der Volksparteien. Die CDU hatte in ihren Reihen Norbert Blüm auf der einen und Alfred Dregger auf anderen Seite.Rödder: Europaweit findet eine politische Spaltung statt. Auf der politischen Rechten ist es die Spaltung, von der Herr Schulz sprach, in eine demokratische rechte Mitte und in eine antikonstitutionelle populistische Rechte. In Deutschland wissen wir genau, wo die Trennlinie verläuft. Das ist die Haltung zur deutschen Geschichte, das ist die Frage der Menschenwürde. Auch in den USA ist diese Linie seit dem 6. Januar 2021 knallrot: Wenn ein Wahlverlierer nicht bereit ist, das Kerngeschäft der Demokratie zu akzeptieren, nämlich den friedlichen Machtübergang. Eine konservative Politik muss bis zu dieser roten Linie politisch integrieren und zugleich sagen: „Hier ist demokratisch Schluss!“Genau das tut doch ein Friedrich Merz, der ein Zusammengehen der CDU mit der AfD gerade wieder vehement verworfen hat.Rödder: Das Problem liegt vor der Linie. Wenn besagter Alfred Dregger heute in einer deutschen Universität auftauchte, wäre die Wahrscheinlichkeit hoch, dass er als Nazi verunglimpft und nicht als legitimer Repräsentant einer rechten Mitte respektiert würde. Meine Kollegin Susanne Schröter wurde bei einer Konferenz ebenso wie die übrigen Teilnehmer von Demonstranten als „Nazi“ bezeichnet. Damit sollen Menschen aus der Legitimität des Politischen ausgegrenzt werden. Das geht von einer identitätspolitischen Bewegung aus, die wiederum die politische Linke spaltet und auch die SPD betrifft. Und das setzt sich bei den radikalen Klimaklebern fort, deren Respekt für die demokratischen Institutionen nicht so ausgeprägt ist wie der von Herrn Schulz. Die Vorstellung, die parlamentarische Demokratie wäre nicht in der Lage, Probleme zu lösen, und dadurch entstünde das Recht, den Notstand auszurufen und die rechtsstaatlichen Institutionen nicht zu beachten – das ist ein Phänomen, das auch auf der linken Seite auftritt. Daher müssen wir diese roten Linien rechts wie links klar ziehen. Und zwischen diesen Linien müssen wir den Wettbewerb der unterschiedlichen Positionen stark machen. Ich möchte nicht ständig diese große Koalition der Einigkeit, sondern einen lebendigen Wettbewerb zwischen Sozialdemokraten und Christdemokraten, zwischen Progressiven und Konservativen. Denn dieser ist es, der die Demokratie weiterbringt, nicht die Anmaßung von Wahrheit auf der linken Seite oder die Verachtung für die rechtsstaatlichen Institutionen auf der rechten.Schulz: Leute, die sich so verhalten, sind nicht links, sondern autoritär oder reaktionär. Links in meinen Augen sind Respekt, Toleranz und Würde. Respekt gegenüber dem anderen Individuum. Toleranz gegenüber der anderen Meinung. Und nur wenn ich das andere Individuum respektiere und seine andere Meinung toleriere, kann ich meine eigene Würde bewahren und dem anderen seine Würde zubilligen. Deshalb hat die demokratische Linke die Pflicht, klarzumachen: Respektlosigkeit und Intoleranz sind keine Werte, sondern Angriffe auf die Demokratie. Der Erfolg der deutschen Nachkriegsdemokratie beruhte darauf, dass es den beiden großen Parteien gelang, auf der Grundlage des Respekts für unsere Verfassung unterschiedliche Strömungen unter ihrem Dach zu vereinen. Das hat sich aufgedröselt. Früher waren alle Linken in der SPD. Heute haben wir zweieinhalb linke Parteien: Die Linke, die SPD und die nicht mehr ganz so linken Grünen. Rechts hat sich das auch aufgesplittert. Der „Zauberlehrling“ Lucke, der die AfD gründete, hat Kräfte entfesselt, die mit dem demokratischen rechten Spektrum nichts zu tun haben. Es ist die Aufgabe Ihrer Grundwertekommission, eine Programmatik der Union zu entwickeln, die diese Kräfte bannt. Ich fürchte nur, dass Sie im Osten unseres Landes in Ihren eigenen Reihen verdammt schwere Arbeit zu leisten haben.