Kulturelle Aneignung macht vor italienischen Eisdielen nicht Halt!

Meinung Italiener:innen, vor allem aus dem Val di Solo, brachten mit der Eisdiele einst ein Stück Genusskultur nach Deutschland – jetzt aber sind schrecklich asketische neue deutsche Eisläden in das Geschäft eingestiegen
Ausgabe 14/2023
Schokolade, Vanille und Zitrone sind heute: Avocado-Limette, Tomate-Balsamico, Erdbeer-Pfeffer und Wodka-Ananas
Schokolade, Vanille und Zitrone sind heute: Avocado-Limette, Tomate-Balsamico, Erdbeer-Pfeffer und Wodka-Ananas

Foto: Imago Images

Haben Sie Lust auf ein Empörungsgewitter? Bringen Sie das Thema auf kulturelle Aneignung! Dürfen Mitteleuropäer, die Jamaika nur aus dem Erdkundeunterricht kennen, ihr Haar zu Rastalocken flechten? Gelten weiße Hip-Hopper, die – wie Eminem – eine lupenreine Ghettoherkunft nachweisen können, soziologisch betrachtet als Schwarze (und haben somit die Lizenz zum Rappen)? Wann werden die Nachfahren jener schwarzen Musiker, denen Elvis den Rock ’n’ Roll geklaut hat, endlich entschädigt? Knifflige Fragen.

Doch während die kulturelle Aneignung ganze Feuilletons und Facebook-Kommentarspalten füllt, redet niemand über jene Form der Einverleibung, die die deutsche Gastronomielandschaft seit den Nullerjahren radikal verändert hat: die kulinarische. Ein differenzierter Blick fördert Erstaunliches zutage. Zum Beispiel sind die meisten japanischen Sushiläden in der Hand von Thailändern und Vietnamesen. Was den gemeinen Deutschen kaltlässt. Für ihn ist der Ferne Osten, von China bis Japan, ein homogener kulinarischer Raum – Hauptsache, irgendwas mit Stäbchen!

Auch echauffiert sich niemand darüber, wenn sich auf der Speisekarte einer Pizzeria „Chicken Tandoori“ findet – untrüglicher Hinweis darauf, dass der Küchenchef sein Handwerk nicht in Napoli gelernt hat. Selbst das gutbürgerliche deutsche Gasthaus hat immer häufiger einen Wirt aus Ex-Jugoslawien. Was soll’s! Der Weg vom Ćevapčići zum Hackbraten ist kurz.

Doch stößt die gastronomische Aneignung dort an ihre Grenzen, wo Kulturgüter in Gefahr sind. Die Rede ist von der klassischen Eisdiele. In Zeiten, in denen Bundesbürger Muckefuck noch für Kaffee hielten und gefrorene Fürst-Pückler-Blöcke für Eiskrem, brachten Italiener – viele von ihnen aus dem Val di Zoldo – ein Stück Genusskultur nach Deutschland. Es war eine neue, ungewohnte Welt, die sich hier auftat. Selbst jene, denen das Geld für einen Urlaub an der Riviera fehlte, konnten hier einen Becher lang ein Stück Italien erleben.

Doch der Erfolg rief Nachahmer auf den Plan. Von den 5.500 Eisdielen hierzulande haben mittlerweile 2.500 einen nicht-italienischen Pächter. Darunter sind zahlreiche Deutsche, wie der ehemalige Schwimmweltmeister Markus Deibler, dessen „Luicella’s“ mittlerweile nicht nur an neun Standorten in Hamburg, sondern auch in Supermärkten erhältlich ist. Was sofort auffällt: Viele der häufig wechselnden Sorten sind ungewöhnliche Mixturen. Da gibt es schon mal Avocado-Limette, Guinness-Tiramisu, Himbeer-Rosmarin, Vanille-Whiskey, Birne-Tonkabohne oder Popcorn-Rum.

Doch es sind nicht nur die bemüht originellen Kreationen, die in den Neuen Deutschen Eisläden auffallen. Die klassische italienische Eisdiele war schlicht; es fehlte das Geld für hochwertiges Mobiliar. Die neudeutsche Variante hingegen strahlt eine asketische Reformhausästhetik aus, wiewohl die finanziellen Mittel für eine plüschigere Ausstattung da gewesen wären – schließlich kann man sich die Miete im gentrifizierten Szenestadtteil leisten.

Dahinter steckt Absicht. Der puritanische Look spricht eine Zielgruppe an, die sich Luxus zwar leisten kann, aber ein schlechtes Gewissen dabei hat, wegen Klimawandels und so. Hier, im Reservat der „Dinkelkeksmuttis“ (Bernd Begemann), gilt schon Eisessen als fragwürdige Form der Ausschweifung. Während der italienische Gelataio keinen Hehl daraus macht, dass seine köstlichen Kugeln Zucker-Sahne-Bomben sind, versuchen die neudeutschen Eisleute ihre Version des Gefrorenen als kerngesunde Vollwertkost zu vermarkten. So sieht „bewusster Genuss“ im neudeutschen Eisladen des 21. Jahrhunderts aus – man möchte sich die Kugel geben.

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