Wir waren mal weiter

Popkultur Sie stand einmal für das Spiel mit Identitäten, für Entgrenzung, gegen Spießertum. Es waren glückliche Zeiten
Ausgabe 22/2021

Damals, in den 1960ern, 1970ern und 1980ern, galten Eltern als natürliche Feinde. Sie waren die Despoten eines Zwergstaats, der sich Zuhause nannte und junge Menschen an der Entfaltung ihrer Persönlichkeit hinderte. Ihnen zur Seite standen sadistische Lehrer und bigotte Geistliche.

Doch auch wir, die Unterdrückten, hatten mächtige Verbündete: die Popstars. Sie zeigten, dass ein anderes Leben möglich war. Sie sangen von Freiheit, vom Ausbrechen aus jener engen Welt, die wir kannten. Dabei machte es keinen Unterschied, ob die frohe Botschaft von schweren Gitarren oder Synthesizern begleitet wurde. „Break on through to the other side“, bestärkten uns The Doors, bei Michael Jackson hieß das: „Don’t stop ’til you get enough.“

Dafür liebten wir unsere Stars. Sie zeigten uns Wege aus der spießbürgerlichen Welt: den Highway to Hell (AC/DC), den Trip zum Pleasuredome (Frankie Goes To Hollywood). Hautfarbe, sexuelle Orientierung und Religion waren dabei unwichtig. Oder nicht eindeutig. Ein David Bowie lebte vor, wie man sich neu erfand. Immer wieder legte er sich andere Identitäten zu, war Ziggy Stardust, Aladdin Sane und The Thin White Duke.

Einen noch radikaleren Ansatz wählte Grace Jones. Während Bowies Rollen an reale Menschen angelehnt waren, präsentierte Jones sich als Kunstfigur. Damit sprengte sie die Grenzen der Identität. Es ging nicht länger darum, wer man „wirklich“ war, sondern darum, wer man sein wollte. Aus der Freiheit des Ich war die Freiheit vom Ich geworden. Mit ihrer Inszenierung bestimmte Grace Jones, wie sie wahrgenommen werden wollte. So verkörperte sie den Leitspruch der 1980er: Anything goes – alles ist möglich! Und weil dies auch das Motto der 1990er war, vergaßen viele ihre Wurzeln.

Für uns Musikhörer hatte es ohnehin nie eine Rolle gespielt. Dass Jimi Hendrix schwarz, Boy George schwul und die Beastie Boys jüdisch waren, interessierte nicht groß. Es ging um „geile Mucke“, nicht um Stammbäume und Konfessionszugehörigkeit. Wer zu Discomusik tanzte, verschwendete keinen Gedanken daran, dass Gloria Gaynor eine Farbige, die Bee Gees hingegen Weiße waren. Pop war multikulturell, bevor das Wort zum Kampfbegriff wurde. Der schwarze Philly-Soul wäre ohne weiße Studiomusiker nicht denkbar gewesen. Und dass The Specials, Sade oder Simply Red „gemischtrassig“ waren, verdiente nicht mal eine Erwähnung. Ja, die Bands selbst zeigten eine – aus heutiger Sicht – unvorstellbare Toleranz. Die Ramones, die Paten des Punk, waren zwei Juden und zwei Nichtjuden, die Nazi-Devotionalien sammelten. Egal! Am Ende pogten alle zum Blitzkrieg Bop. Gemeinschaft zählte, nicht die Community, der man entstammte.

Zurück in der Amtsstube

Aus und vorbei! Am 11. September 2001 endete das Spiel mit Identitäten. Seitdem ist Schluss mit Selbst-Erfindung und Anarchie. Heutigen Musikern ist es wichtig, sich als Teil einer Gruppe zu definieren. Einer Billie Eilish genügt es nicht, über ihre Depressionen zu sprechen, sie will Role Model für psychisch Erkrankte sein – Janis Joplin hätte die Welt nicht mehr verstanden.

Frühere Popstars wollten aus sozialen Verbünden ausbrechen. Das galt auch für ihre Fans. Diese wollten sich als Individuum erleben. Heute zieht es viele in die entgegengesetzte Richtung. In einer Umgebung, die sie als bedrohlich empfinden, gibt ihnen das Rudel Halt. Deshalb ist Entgrenzung den Identitätskämpfer*innen ein Gräuel. Sie sehnen sich nach einer Welt, in der es so geordnet zugeht wie in einer Amtsstube. Ihr Ideal ist ein Staat, in dem jeder Mensch sein Aktenzeichen erhält: cis- oder transgeschlechtlich, farbig oder weiß, muslimisch oder christlich, mit oder ohne Behinderung.

Kommt Ihnen das bekannt vor? Eine Gesellschaft, in der jeder seinen festen Platz hat? In der die Gruppe alles und das Individuum nichts ist? Es ist die Welt der 1940er und 1950er Jahre. Die Welt vor der Popkultur. Mit einem Mal begreift man: Wo Identität draufsteht, ist Restauration drin. Es gibt neue Spießer.

Frank Jöricke schrieb den Roman Mein liebestoller Onkel, mein kleinkrimineller Vetter und der Rest der Bagage. Er ist Werbetexter sowie freier Mitarbeiter von Playboy und ND

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