Plebiszitäre Versuchungen

VOLKSENTSCHEIDE IN DER EU Seit fast 30 Jahren wird in einigen Ländern über Europapolitik direkt entschieden

Volksabstimmung - schon bei dem Gedanken daran tritt der deutschen Politik Angstschweiß aus allen Poren. Wie anders sind die Worte des grünen Außenministers Josef Fischer sonst zu verstehen: "Allein die Vorstellung, dass Deutschland eine Volksbefragung über den Beitritt Polens zur EU abhält - das muss man sich mal zu Ende vorstellen." Offensichtlich ist der politischen Klasse des Landes schlagartig bewusst geworden, dass sie versäumt hat, "ihr" Volk in den Prozess der Osterweiterung mit einzubeziehen. Verweigerung droht.

Doch irrt, wer annimmt, Günter Verheugen hätte diesen Geist geweckt. Volksentscheide über europäische Themen finden in anderen europäischen Staaten seit beinahe 30 Jahren statt. Paradoxerweise war die erste Abstimmung ein Erweiterungsreferendum. Im Rahmen der ersten EG-Erweiterungsrunde, sie betraf Dänemark, Großbritannien, Irland und Norwegen, rief der französische Staatspräsident Georges Pompidou 1972 das Volk an die Urnen, um über den Beitritt Großbritanniens abstimmen zu lassen. Diese Befragung war vor allem innenpolitisch motiviert. Pompidou hoffte, wie einst Charles de Gaulle, mit einer Volksbefragung seine (innen)-politische Position festigen zu können. Die Wahlbeteiligung im April 1972 betrug magere 60 Prozent; und die Zustimmung der Franzosen zu den Beitrittsverträgen fiel mit 61 Prozent ebenfalls nicht so aus wie erhofft. Aber auch die beitrittswilligen Staaten Dänemark, Irland und Norwegen unterwarfen sich - teilweise freiwillig - dem unmittelbaren Volkswillen. Mit unterschiedlichen Ergebnissen: Während im Mai 1972 die irischen Wähler dem EG-Beitritt mit 83 Prozent zustimmten, entschied sich die Mehrheit der Norweger in einem fakultativen Referendum Ende September 1972 gegen ihn. Den bitteren Kelch der Niederlage musste die norwegische Regierung 1994 ein zweites Mal leeren. Während sich Österreich, Schweden und Finnland im Zuge der Norderweiterung in Volksabstimmungen 1994 nacheinander für den Beitritt entschieden, konnte den Norwegern niemand erklären, was sie bei einem Beitritt gewinnen würden.

In Dänemark rangen sich 1972, bereits eine Woche nach der norwegischen Abstimmung und trotz eines weit verbreiteten Europaskeptizismus', immerhin 63 Prozent der Wähler zu einem "Ja" für den Beitritt zur EG durch. Wie in Irland vor allem aus Angst vor einem ökonomischen Selbstmord. Allein Großbritannien widerstand der plebiszitären Versuchung und ratifizierte seinen Beitritt auf dem parlamentarischen Weg. Das bedeutete für die britische Regierung jedoch nicht, auf Volksabstimmungen vollends zu verzichten. Vielmehr initiierte sie unter Premier Harold Wilson 1975 ein Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der EG. Damit besaß sie ein wirksames Druckmittel gegenüber den anderen Mitgliedsstaaten, um die Bedingungen des britischen Beitritts nach zu verhandeln. Mit Erfolg. Die britischen Wähler "bedankten" sich im Juni 1975 für die europäischen Zugeständnisse und stimmten mit 63 Prozent für den Verbleib in der Gemeinschaft.

Obwohl die EG in der darauffolgende Zeit in eine Art europapolitischen Dornröschenschlaf fiel, bleibt die erste Hälfte der achtziger Jahre unter plebiszitären Gesichtspunkten spannend. Kaum hatte das dänische Parlament Grönland größere Autonomie zugestanden, entschied sich dessen Bevölkerung im Februar 1982 per Volksentscheid mehrheitlich dafür, den Neunerklub zu verlassen. Seither lässt es sich Brüssel jedes Jahr einige Millionen Euro kosten, um in grönländischen Gewässern fischen zu dürfen.

Mitte der achtziger Jahre erwachte die EG zu neuem Leben. Im Februar 1986 wurde in Luxemburg die Einheitliche Europäische Akte (EEA) zunächst von neun der nunmehr zwölf Mitgliedsstaaten unterzeichnet. Sie sah institutionelle Neuerungen und die Errichtung eines gemeinsamen Binnenmarkts vor. Drei Länder, Dänemark, Griechenland und Italien, verweigerten zunächst die Unterschrift. In Italien verzögerte sich die Behandlung des Vertrages im Parlament. Bereits im Januar 1986 hatte der dänische Folketing die Ratifizierung des Vertrags abgelehnt. Die daraufhin für Ende Februar angesetzte Volksbefragung ergab jedoch ein überraschendes Ergebnis: Die Mehrheit der dänischen Bevölkerung stimmte für die EEA.

Doch darauf, was auf die EG im Zuge der Ratifizierung des Maastrichter Vertrags über die Schaffung einer Europäischen Union zukam, lieferte die Ratifizierung der Einheitlichen Europäischen Akte nur einen kleinen Vorgeschmack. Zunächst war allgemein erwartet worden, dass der im Februar 1992 unterzeichnete Vertrag bis Ende desselben Jahres von allen Parteien ratifiziert werden würde. In Irland, Dänemark und Frankreich legten die Regierungen das Dokument den Wählern zur Bestätigung vor. Den Abstimmungsreigen eröffnete Dänemark, dessen Parlament der Ratifizierung bereits zugestimmt hatte. Hier wurde - nach den Erfahrungen vorheriger Referenden - ein positives Votum erwartet. Doch kehrten sich nun die Verhältnisse um: Im Juni 1992 stimmten bei einer Wahlbeteiligung von über 80 Prozent 50,7 Prozent der Wähler gegen eine Ratifizierung. Der Abstand von Maastrichtbefürwortern und -gegnern betrug dabei nur 30.000 Stimmen. Zwei Wochen später folgte das katholische Irland. Hier stimmten 69 Prozent der Wähler für die Ratifizierung. Und das, obwohl die irische Diskussion um den Vertrag von einer heftigen Debatte über das Abtreibungsrecht überlagert wurde.

Ein ähnlich positives Ergebnis erhoffte man auch in Frankreich. Die sich abzeichnende schwere Krise des europäischen Wechselkursmechanismus', der Krieg auf dem Balkan und die innenpolitische Situation bildeten allerdings für das im September 1992 stattfindende fakultative Referendum erschwerende Rahmenbedingungen. Infolge dessen geriet die Abstimmung über den Maastrichter Vertrag für Präsident François Mitterand aber auch für die Europäische Gemeinschaft beinahe zu einem Fiasko. Nur 51 Prozent der Wähler votierten für die Ratifizierung. Die Krise war perfekt und Mitterands politischer Niedergang beschleunigte sich. Ein Ausweg zeichnete sich erst Ende des Jahres ab. Dänemark handelte auf dem Gipfel von Edinburgh eine Reihe von Ausnahmeregelungen aus. Unter den geänderten Bedingungen wurde der Vertrag in einer zweiten Volksbefragung letztlich mit kapp 58 Prozent ratifiziert.

Heute befinden wir uns im Jahr sieben nach Maastricht. Was hat Europa aus den Ereignissen von 1992/93 gelernt? Vor allem eines: Transparenz herzustellen! Die Zustimmung der dänischen Wähler zum Amsterdamer Vertrag im Mai 1998 unterstrich, dass es nicht schadet, Politik, zumal europäische, öffentlicher und durchschaubarer zu machen.

Inzwischen hat Dänemark die (Konvergenz)-Kriterien für die Übernahme des Euro erfüllt. Ob und inwieweit es der dänischen Politik gelungen ist, ihren Wählern, dem Volk, die Vor- und Nachteile der Einheitswährung plausibel zu machen und vom aktuellen Eurokurs zu abstrahieren, wird sich an diesem Sonntag entscheiden. Ein "Nej" der Dänen wäre ein Beispiel mehr für Politik(er)versagen in Europa.

Unser Autor ist Politikwissenschaftler an der Universität Potsdam.

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