Sozialrassistische Verfolgung: Eine NS-Opfergruppe, die sich nie organisiert hat

Aufruf Die Nazis nannten sie „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“: Frank Nonnenmacher gründet im Januar den „Verband der Angehörigen der von den Nazis sozialrassistisch Verfolgten“. Er bittet Nachkommen dieser NS-Opfergruppe, sich zu melden
Auch an die von den Nazis als „Asoziale“ Verfolgten erinnern heute Stolpersteine
Auch an die von den Nazis als „Asoziale“ Verfolgten erinnern heute Stolpersteine

Foto: Imago / ZUMA Wire

Für die Nazis war Ines Eichmüllers Urgroßvater ein „Asozialer“. Aufgrund seines unangepassten Lebensstils kam er ohne jedes rechtsförmige Verfahren ins Konzentrationslager Dachau.

Mein Onkel Ernst, der als oft arbeitsloser Wanderarbeiter straffällig geworden war, wurde nach vollständiger Verbüßung seiner letzten Haftstrafe von der Kripo gefasst und ins KZ Flossenbürg verschleppt. Er überlebte knapp ein Strafkommando im Steinbruch des Konzentrationslagers. Für die Nazis war er ein typischer Fall von „Berufsverbrecher“. Sie hatten die irre Idee, wiederholt straffällig gewordenen Menschen hätten „kriminelle Gene“, weshalb sie – nach vollständiger Verbüßung ihrer letzten Strafhaft – zur Herstellung einer kriminalitätsfreien Gesellschaft unbegrenzt in den KZ weggesperrt, gedemütigt, gequält und ermordet wurden. Ernst überlebte das Strafkommando im Steinbruch des KZs nur knapp.

Unseres Erachtens muss man die bis heute üblichen Bezeichnungen „Berufsverbrecher“ und „Asoziale“ ablehnen. Sie sprechen den Betroffenen die Würde ab – auch wenn die Begriffe in Anführungszeichen gesetzt werden. Wir setzen uns dafür ein, in Zukunft von den „verleugneten NS-Opfern“ zu sprechen.

Fast alle Opfergruppen haben nach 1945 Verbände gegründet und für ihre Anerkennung gekämpft – manche waren damit erst beschämend spät erfolgreich. So fand die Aufhebung des Paragrafen 175 erst 1994 statt.

Der Appell und seine Folgen

2018 habe ich mit jüngeren Wissenschaftler*innen (Julia Hörath, Sylvia Köchl, Andreas Kranebitter und Dagmar Lieske) zusammen einen öffentlichen Appell an den Bundestag gerichtet, die sozialrassistisch Verfolgten, diese speziellen Verfolgten des Nazisystems endlich als solche offiziell anzuerkennen. Der Appell fand breite Unterstützung, und am 13. Februar 2020 beschloss der Bundestag einstimmig, die von den Nationalsozialisten als „Asoziale“ oder „Berufsverbrecher“ Bezeichneten als Opfer des NS-Systems anzuerkennen.

Das ist gut so und ein wichtiger erinnerungskultureller Fortschritt. Gut ist auch, dass der Beschluss die zu ziehenden Konsequenzen nennt, indem er z. B. die Erstellung einer anspruchsvollen Wanderausstellung zu den Schicksalen der so lange ignorierten Opfer fordert. Diese ist inzwischen in Arbeit und auch das ist gut so.

Schlecht ist aber, dass die Anerkennung so spät kommt, dass niemand mehr in den Genuss der möglichen Entschädigung kommt. Zynisch könnte man sagen, dass die Bundesrepublik sich durch das lange Zuwarten viel Geld gespart hat.

Schlecht ist auch, dass bis jetzt die im Bundestagsbeschluss geforderten Finanzmittel zu der seit Jahrzehnten ausgebliebenen Erforschung von Biografien dieser Verfolgtengruppe nicht zur Verfügung gestellt wurden. Auch für die geforderte spezifische Erforschung der Rolle der Verfolgungsinstanzen gibt es bis heute kein Budget. Und es sind schon wieder Jahre vergangen.

Teil unserer Erinnerungskultur

Ines Eichmüller und ich, sowie weitere Nachkommen der ignorierten NS-Opfer sind bei dieser Bilanz der Auffassung, dass es nicht länger am Engagement Einzelner hängen kann, ob diese Opfergruppe integraler Teil unserer Erinnerungskultur wird. Ein Verband der Nachkommen, den wir im Januar 2023 gründen wollen, kann hier nicht nur bei der jeweils eigenen familiengeschichtlichen Aufarbeitung eine wichtige Rolle spielen. Er kann auch nach außen wirken, z. B. als Kritiker halbherzig ausgeführter Bundestagsbeschlüsse, als Stimme, die im nationalen Gedenken zwar keine Hauptrolle spielen mag, aber dennoch präsent sein sollte, als ansprechbare Institution in der historisch-politischen Bildung und als Kooperationspartner für andere Verfolgtenverbände.

Nur wenige Angehörige und Nachkommen sind uns bekannt. Deshalb sind wir darauf angewiesen, dass Menschen, die an der Gründung eines solchen Verbandes interessiert sind, sich melden, und zwar per E-Mail bei fnoma@gmx.de

Wir werden Interessierte daraufhin über die Details und die Öffentlichkeit dann über die Gründung des „Verbands der Angehörigen der von den Nazis sozialrassistisch Verfolgten“, die am 21./22. Januar 2023 in Nürnberg stattfinden wird, informieren.

Frank Nonnenmacher ist emeritierter Professor für Politische Bildung an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Die Biografie seines Onkels, den die Nazis als „Berufsverbrecher“ im KZ „durch Arbeit vernichten“ wollten, hat er in dem Buch Du hattest es besser als Ich aufgeschrieben. Er war Initiator des erfolgreichen Appells zur Anerkennung der ignorierten NS-Opfer an den Deutschen Bundestag und mehrfach als Experte in den kulturpolitischen Ausschuss des Deutschen Bundestages eingeladen. Zusammen mit Ines Eichmüller wird er am 21./22. Januar 2023 einen „Verband der Angehörigen der Ignorierten Opfer des Nationalsozialismus“ gründen. Ein Gespräch mit Nonnenmacher bei Deutschlandfunk Kultur können Sie unter diesem Link hören. Frank Nonnenmacher ist unter der E-Mail-Adresse fnoma@gmx.de erreichbar.

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