Einstürzende Altbauten

Architektur Die DDR ging Fragen der Stadterneuerung früher an als der Westen. Woran scheiterte dann ihre engagierte Baupolitik?
Ausgabe 39/2020

Ruth Geist-Reithmeier ist unerschrocken. Mit ihrem voluminösen Dutt, der großen, goldeloxierten Brille am Kettchen und ihrem weiten, wallenden Mantel vermittelt die Reporterin des DDR-Fernsehens den gutbürgerlich-rüschigen Habitus einer Gymnasiallehrerin alten Schlags. Aber der biedere Schein trügt. Die Journalistin wagt etwas. Anfang November 1989 stapft sie mit ihrem Kamerateam quer durchs herbstliche Leipzig, durch Straßen vernebelt vom beißenden Braunkohledunst, hält den Menschen ihr Mikrofon unter die Nase und stellt jedermann die eine, immer gleiche Frage: „Ist Leipzig noch zu retten?“ Sie fragt die Mutter mit Kinderwagen, die zornig berichtet, dass von zehn Kindereinrichtungen im Stadtteil inzwischen acht geschlossen seien. Stellt ihre Frage den Vorarbeitern der Abbruchkolonnen, die mit dem Häuserabreißen im Leipziger Nordosten kaum nachkommen, wie auch dem kleinlauten, müde dreinblickenden Stadtarchitekten im Neuen Rathaus, der gar keine Lust mehr hat, noch etwas schönzureden. Zuletzt kommt DDR-Bauminister Junker höchstselbst zu Wort, im Film sichtbar irritiert, dass Frau Reporterin es wagt, nachzuhaken.

Die titelgebende Frage ist keineswegs rhetorisch, Leipzig ist wirklich am Ende. Die Stadt fällt an allen Ecken auseinander, es gibt nicht mal mehr genug einsatzfähige Müllwagen. Diese am 6. November 1989 im Fernsehen der DDR ausgestrahlte Ausgabe der Sendung Klartext ist ein bewegendes Dokument, das den Höhepunkt des Umbruchs und des Zorns der Leipziger Bürger über den Verfall ihrer Stadt bezeugt.

50 Pfennig pro Backstein

Wie kam es, dass die meisten Altstädte und Gründerzeitquartiere der DDR 1989 in einem so katastrophalen Zustand waren? Das Forschungsprojekt „Stadtwende“, an dem neben dem Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung (IRS) in Erkner die Bauhaus-Universität Weimar, die Universität Kassel und die TU Kaiserslautern mitwirken, will dieser Frage auf den Grund gehen. Beleuchtet werden die politischen und ökonomischen Ursachen für den beispiellosen Stadtverfall ebenso wie die Bedeutung von Bürgergruppen und Initiativen, die sich in einer Reihe von DDR-Städten in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre ehrenamtlich für die Rettung ihrer Quartiere oder bestimmter Baudenkmale einsetzen. Ein weiterer Fokus liegt auf den Stadtplaner*innen und Architekt*innen selbst, sowie auch DDR-Kulturinstitutionen wie dem Kulturbund, unter dessen Dach sich zum Beispiel Stadterhaltungsengagement „offiziell“ formieren konnte.

Paradoxerweise war der Ausgangspunkt für den Stadtverfall in der DDR eine eindrucksvolle Erfolgsgeschichte. Trotz der Aufbauleistung der Nachkriegsjahrzehnte herrschte in der DDR um 1970 noch immer Wohnungsmangel. Vor allem moderne Wohnungen waren knapp. Der Staatsführung saß wohl die Erinnerung an den 17. Juni 1953 noch im Nacken. Zugleich war klar, dass eine zügige Verbesserung der Lebens- und Wohnbedingungen der breiten Bevölkerung im bisherigen Bautempo nicht machbar war. Also beschloss das Zentralkomitee der SED im Oktober 1973 das Wohnungsbauprogramm der DDR. Bis zum Jahr 1990 sollte die Wohnungsfrage als soziales Problem endgültig gelöst sein. Die bestehende materielle Basis des industriellen Bauens wurde massiv ausgeweitet: Neue Plattenwerke wurden errichtet, Wohnungsbaukombinate neu strukturiert, allerorten neue Siedlungsstandorte erschlossen.

Und der Kraftakt gelang: Laut DDR-Regierung wurden von 1970 bis Oktober 1988 insgesamt drei Millionen neue Wohnungen errichtet. Spätere Berechnungen korrigierten diese propagandistisch geschönte Zahl auf gut 1,9 Millionen, was noch immer beachtlich war. Doch im baulichen Bestand beschränkte sich das Engagement auf vorbildlich umgesetzte, aber letztlich vereinzelte Leuchtturmprojekte wie etwa die sensible Erneuerung des Gründerzeitbestands rund um den Arnimplatz in Berlin. Schon 1973 begannen dort die Arbeiten, also fast ein Jahrzehnt bevor sich in West-Berlin das Modell der Behutsamen Stadterneuerung durchsetzte.

Die DDR hatte also anfangs in Sachen Stadterneuerung die Nase vorn. „Die Wiederentdeckung der Innenstadt setzte in der DDR früher ein als im Westen bisher angenommen“, sagt Harald Kegler, der am Projekt mitwirkt und an der Uni Kassel Planungsgeschichte lehrt. Er untersucht mit seinem Teilprojekt die sogenannten Modellstädte der DDR. Die erste war Greifswald. Schon 1970 startete ein Forschungsvorhaben der Ost-Berliner Bauakademie mit dem Ziel eines städtebaulichen Erneuerungskonzeptes für das Zentrum der Hansestadt. 1972 wurde der modernistisch geprägte Generalbebauungsplan mit Auto-Schneisen und frei gruppierten Wohnhauszeilen beerdigt, und schon 1977 begann man am Innenstadtrand Plattenbauten zu errichten, die dem alten Stadtgrundriss folgten und in Typologie wie Dimension an die giebelständigen Bürgerhäuser anknüpften. Wegen dieser sehr frühen, auch typologischen Rückbesinnung auf die alte Stadt sieht Kegler die DDR als wichtigen Ausgangspunkt des postmodernen Städtebaus in Europa.

Die Weiterentwicklung der Plattenbautechnologie für den Einsatz an kleinteiligen Innenstadtstandorten trieben die Architekten der Wohnungsbaukombinate nach 1980 erfolgreich voran. Das zweite, im Mai 1982 von Politbüro und Ministerrat der DDR beschlossene Ziel, bei Stadtsanierungen den Anteil erneuerter Bestandsbauten merklich zu erhöhen, erreichten die Städtebauer nur in Ausnahmefällen. Es blieb politisches Lippenbekenntnis. Immer weiter breiteten sich die Abbruchlücken in den Städten aus.

Waren Architekten und Stadtplaner also Teil des Problems oder Teil der Lösung?

Wer mit pensionierten Planern spricht und die Archive konsultiert, stellt bald fest:

Den „guten“ (reformorientierten) oder „schlechten“ (also staatsnahen und unkritischen) Planer gab es in Reinform nicht. Stattdessen findet man alle Schattierungen, die Widersprüche des DDR-Städtebaus kumulierten in seinen Akteuren.

Zweifellos sah sich auch Michael Bräuer, bis 1989 stellvertretender Stadtarchitekt von Rostock, nicht unbedingt als Oppositioneller; dennoch ist sein Anteil am wirkungsvollen städtebaulichen Kurswechsel im Wendejahr kaum zu überschätzen. Der heute 77-jährige, noch immer aktive Architekt wirkte in den 1980er Jahren an Schlüsselprojekten der Rostocker Stadtentwicklung mit. Bei der Sanierung der nördlichen Altstadt zwischen Rostocker Marktplatz und altem Hafen vertrat Michael Bräuer bis 1975 auch die Entscheidung für größere Abrisse historischer Substanz. Jedoch endete der Flächenabriss mit dem Europäischen Denkmalschutzjahr. Zugleich unterstützte er die Erhaltung einzelner, wertvoller Bauten. Einige der Häuser auf der Abbruchliste waren aus Klosterformat-Steinen errichtet. „Wir sagten dem Führer des Abbruchbaggers, dass er von uns für jeden geborgenen und gesäuberten Backstein 50 Pfennig bekommt“, erinnert sich Bräuer. „Am Samstag kam er mit Frau und Kindern auf die Baustelle und sie sortierten den ganzen Tag Backsteine.“ Die geborgenen Steine waren gedacht für Reparaturen an den verbliebenen Baudenkmalen.

Bräuer wechselte in der Wendezeit als Staatssekretär ins Ost-Berliner Bauministerium und wirkt in den Folgemonaten maßgeblich am Auftakt der Stadterneuerungsprogramme in Ostdeutschland mit.

Anfang der 1980er Jahre zeichnete sich ab, dass der Wohnungsneubau mit dem Niedergang des Altbestands nicht Schritt halten konnte. Im Gegenteil fachte die imponierende Neubauleistung vielerorts den Verfall weiter an: In Städten, vor deren Toren Neubausiedlungen entstanden, setzte rasch ein Exodus aus den Altbauvierteln ein, wo sich in der Folge Leerstand und Verfall breitmachten. Von den zwischen Januar 1970 und Ende 1990 in der DDR errichteten 1.935.143 Wohnungen kamen nur 959.945, also weniger als die Hälfte, als echter Zuwachs zum Tragen.

Das Forschungsprojekt legt seinen Betrachtungsschwerpunkt auf die 1980er Jahre – als die Fehlentwicklung und drohenden Verluste immer unübersehbarer wurden, sich Wiederstand vonseiten engagierter Bürger und Denkmalpfleger zu formieren und es auch innerhalb der Fachöffentlichkeit zu rumoren begann. Projektpartner Harald Engler, Historiker am IRS in Erkner, liegt am menschlichen Aspekt des Themas: „Wir wissen noch immer zu wenig darüber, was im Einzelnen den Ausschlag gab, dass sich Bürger, aber auch Akteure in Institutionen für ihre Stadt engagierten oder für ein einzelnes Baudenkmal – auch auf die Gefahr persönlicher Nachteile hin.“

Am 3. November 1989 brachte das Neue Deutschland einen ausführlichen Artikel von Bauminister Wolfgang Junker. Darin beschreibt er ohne Umschweife alle wesentlichen Fehlentwicklungen in der Baupolitik der DDR. Geballte, bittere Erkenntnisse, die ihm nicht über Nacht gekommen sein können, was unterstreicht, dass er selbst und das zuständige Politbüro-Mitglied Günter Mittag bis zuletzt jeden substanziellen Kurswechsel vereitelt hatten.

Die Wendemonate wurden dann zur Sternstunde der bundesdeutschen Ministerialbürokratie, die ein Maß an Wendigkeit und Improvisationstalent bewies, das man ihr nicht zugetraut hätte. Nach Einsetzung der Regierung Modrow verdichteten sich Kooperationen zwischen Ost und West, meist im Rahmen der Städtepartnerschaften. Im Dezember 1989 verständigten sich Fachdelegationen aus Ost und West in Berlin im Handumdrehen auf vier Städte, die in den Genuss eines modellhaften Soforthilfeprogramms kommen sollten: Meißen, Weimar, Brandenburg an der Havel und Stralsund. Später kam als fünfte Stadt Halberstadt hinzu. Schon im Frühjahr 1990 wurde, auch auf Druck der Städte hin, der Kreis der Erneuerungsstädte erweitert. Diese wurden durch das sogenannte Sofortprogramm gefördert.

Späte Wiedergutmachung

Jedoch erwies sich bald, dass die bundesdeutsche Städtebauförderung und ihre Sanierungsverfahren weder der Dringlichkeit noch der Größenordnung der in der Osthälfte Deutschlands zu stemmenden Aufgaben gewachsen waren. Dies führte in kürzester Zeit zur Verabschiedung des Städtebauförderprogramms „Städtebaulicher Denkmalschutz“ sowie zur Einführung vereinfachter Planungs- und Umsetzungsverfahren. Ein Novum: Nicht mehr alleine eine Behörde, sondern eine Expertengruppe, besetzt aus Denkmalpflegern, Architekten und Planern, begleitete das Förderprogramm bis heute. „Zusätzlich gibt es seitdem einen regelmäßigen Fachaustausch zwischen den Akteuren aus Städten, den beteiligten Ländern und dem Bundesministerium“, erklärt Holger Schmidt von der TU Kaiserslautern, Stadtplaner und Leiter des Forschungsprojektes.

Mit dem Programm Städtebaulicher Denkmalschutz, das seit dem Jahr 2009 auch auf die westdeutschen Bundesländer erweitert wurde, konnten zahlreiche historische Stadtbilder in denkmalpflegerisch hoher Qualität erneuert werden. Schmidt interpretiert diese Programme zugleich als eine Art von später Wiedergutmachung. „Weil man inzwischen erkannt hatte, wie die unkritisch an vermeintlich modernen Leitbildern orientierte Abriss- und Neubauwut der Nachkriegsjahrzehnte das Gesicht vieler westdeutscher Städte entstellt hatte. Diese Fehler wollte man im Osten nicht wiederholen.“

Frank Peter Jäger ist Mitarbeiter des Forschungsverbunds Stadtwende. Das Projekt ist interessiert am Kontakt zu Zeitzeugen sowie der temporären Überlassung von Zeitdokumenten (Kontakt: stadtwende.de). Ab 2021 geht die Wanderausstellung Stadtwende auf die Reise

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