Tod eines Reflexivums

KEHRSEITE Was ist nur passiert? Vom Taxifahrer bis zum Bundeskanzler, aus jeder Talkshow, jedem Feuilleton spricht es: "Ich erinnere das nicht genau." Oder ...

Was ist nur passiert? Vom Taxifahrer bis zum Bundeskanzler, aus jeder Talkshow, jedem Feuilleton spricht es: "Ich erinnere das nicht genau." Oder auch: "Wenn ich das recht erinnere, war das ..." Eine Frau teilt mir mit, sie erinnere die Telefonnummer eines gemeinsamen Freundes nicht mehr, und selbst gefestigte Charaktere - bislang frei von bildungsbürgerlichem Sprachdünkel - erinnern, aber leider nicht sich. Da wird gewalsert und gedönhofft, was der Erlebnisfundus hergibt. Heiliger Thomas Mann, alles redet wie im Memoirenrausch! Nein, den trifft hier keine Schuld, der verstand (nachweislich) sich aufs Erinnern. Vielleicht eine kollektive Verbeugung vor dem Dichterfürsten im Jubiläumsjahr? Fehlanzeige, selbst Goethe erinnerte sich nicht nur so manchen Winters, sondern auch des eleganten Genitivs. Desungeachtet war aber auch der Akkusativ noch nie so richtig am falschen Platz wie im Gebrauch der "Erinnerer": Angeklagt! In jedem Kasus sei allen, die gern erinnern, hiermit der Blick in den letztinstanzlichen Duden empfohlen. Tja, böse Überraschung! "Tatsachenentscheidung" des Schiedsrichters; wohlgesprochen heißt es: "Ich erinnere dessen nicht."

Wahrscheinlich hat schon eine/r über den plötzlichen Verlust des Reflexivpronomens geschrieben. Aber komisch ist das schon, dass es kaum jemanden zu stören scheint, fast alle nachplappern und es am Ende wieder niemand gewesen sein will. Sprachmanipulation in einem Giga-Freilandversuch, Allgegenwart des Politischen - lässt sich erinnern, wann das Sparen schon jemals so konsensfähig war wie heute? Warum aber werden jetzt schon Pronomen wegrationalisiert? Das Erinnern an sich zählt ja nicht eben zu den profitabelsten Tätigkeiten des Menschen. Bastelt die "Neue Mitte", kaum formiert, etwa schon an ihrer sprachlichen Identität? Ach nein, nicht schon wieder "Identität" - die überlasse ich gern Werbeagenturen, Multimediakren, Lifestyleberatern und Herrenausstattern. Also, wer hat denn da nun den ersten Satz geworfen? Die Suche ist end- und damit zwecklos. Am Ende stellt sich heraus, dass sich da doch nur ein schnöder (grammatischer) Anglizismus eingeschlichen hat. "That reminds me of someone I couldn't remember last week." Dabei will ich es belassen und mich weiter wundern. Sicher ist nur, dass ich vergesse, wenn mir das nächste Mal eine/r mit unreflektierter Erinnerung kommt, und zwar mich!

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